Hermann Bahr (Linz, 19. Juli 1863–15. Januar 1934, München) war über Jahrzehnte wortgewaltiger Vertreter von vielerlei Strömungen: Deutschnationalismus, Naturalismus, Wiener Moderne bis hin zum Expressionismus. Er schrieb Dramen, Romane, Biografien, Kritiken und redigierte die einflussreiche Wiener Zeitschrift ‹Die Zeit›.
Rudolf Steiner schätzte ihn als geistig produktiven, begabten Menschen und verfolgte seine Entwicklung mit größtem Interesse – was ihn nicht daran hinderte, auch scharfe Urteile über ihn zu äußern. Kennengelernt hatten sich beide wohl Ende der 1880er-Jahre im Café Griensteidl. Friedrich Eckstein erzählt, dass es «immer ein besonderes Vergnügen» war, zuzuhören, wenn beide «hart aneinandergerieten und gegeneinander ein Feuerwerk von scharfen Invektiven abbrannten»: «‹Rudolf Steiner ist nicht fähig, meinen Gedanken zu folgen›, erklärte einmal Bahr, ‹denn er ist in seinen gänzlich überlebten, primitiven Ideen unbeweglich eingerostet.› – ‹Ganz im Gegenteil!›, erwiderte Steiner, ‹nichts leichter für mich, als gerade Hermann Bahr zu verstehen: dazu habe ich nur nötig, mich ganz in jene Zeit zurückzuversetzen, da ich noch gar nichts gelernt hatte!›»1
Doch hatte sich wohl Gelesenes und Gehörtes in Ecksteins Erinnerung vermischt. Denn die Sache verhielt sich so: Von Hermann Bahr erschien im Mai 1890 ein Artikel über ‹Die Alten und die Jungen›. Unter demselben Titel gab es von Rudolf Steiner kurz danach eine Replik,2 in der er harsch mit den Produktionen der jungen Generation abrechnet und wo sich folgende Sätze finden: «Jüngst hat uns einer der ‹Jungen› den weisen Rat gegeben: wir könnten uns doch vertragen. Die Jugend lässt dem Alter die französischen Hauslehrer, die Salondamen und so weiter; man solle ihr nur auch ihre abgebrauchten Kellnerinnen, bescheidenen Zuhälter und Trunkenbolde überlassen.» Das bezieht sich auf Bahrs Aussagen: «Wir lassen ihnen ja alles, alles, was sie brauchen: die interessanten reichen Witwen und die bleichen, philosophischen Hauslehrer mit den rollenden Augen und den verwickelten Perioden und sogar die amerikanischen Erbonkel […]. Und nichts, gar nichts verlangen wir dafür als ein paar gebrauchte Kellnerinnen, einen bescheidenen Trunkenbold und allenfalls noch […] einen scharfsinnigen Zuhälter […].»3 Die von Eckstein zitierte ‹Antwort› Rudolf Steiners auf Bahr findet sich fast wörtlich in diesem Aufsatz: «Denn wir anderen brauchen uns nur zurückzuerinnern, was wir verstanden, bevor wir etwas gelernt haben, dann können wir euch erfassen.»
Rauchobjekte
Trotzdem darf man davon ausgehen, dass sich Hermann Bahr und Rudolf Steiner 1890 gelegentlich auch einen mündlichen ‹Schlagabtausch› geliefert haben. Rudolf Steiner hatte die Empfindung, dass die ‹Modernen› sich gegen den Idealismus wandten, den er glühend vertrat. Hermann Bahr galt ihm als «der bedeutendste Kopf» dieser Richtung: «Genial veranlagt, etwas leichtsinnig in seinen Urteilen, zu flott, um immer ernst, zu tiefblickend, um stets leicht genommen zu werden, von einer fabelhaften Leichtigkeit im Produzieren, von zynischer Unverfrorenheit in oberflächlicher Abschätzung mancher für ihn doch zu tief sitzender geistiger Elemente […].»4 Im Brief vom 23. Dezember 1891 aus Weimar schreibt Rudolf Steiner an Richard Specht: «Eben bin ich mit Herrman [sic!] Bahrs russischer Reise zu Ende gekommen. Ich wäre ungerecht, wenn ich nicht sagen wollte, daß ich sie eigentlich mit Vergnügen gelesen habe. Mein Geist braucht manchmal Futter, das nicht besonders tief ist, aber doch nicht in der Haut, sondern in den Nerven seinen Ursprung hat. Bei meiner übrigen Lectüre muß ich […] oft von meinem Sitze aufspringen. Bei Herrman [sic!] Bahr kann ich behaglich auf dem Sopha liegen bleiben, und ich zapple vermutlich nur mit den Beinen. Einen Nachteil hat es für mich. Ich kann keine Zeile von Bahr lesen, ohne zu rauchen. Und die Kosten auf Cigaretten während eines Bahr’schen Buches kommen denen des Buches selbst gleich, wenn sie nicht höher sind. Ohne die chaotisch blau-graue Rauchwolke vor mir kann ich mir keinen Satz von Bahr zum Bewußtsein bringen. Ich verstehe auch Bahr erst, seit ich rauche. Ich glaube in der Gestalt der von mir und meiner Cigarette ausgehenden Rauchwirbel eine Objectivation der Bahr’schen Gedanken zu vernehmen.»5
Lebemännisch Suchender
Vieles, was Rudolf Steiner an Bahr wahrnahm, widerstrebte ihm, doch fand er die Bücher des «Stimmungsakrobaten» «immer interessant»: «Lebemännische Erfahrung, absonderliche Ansichten, aus aller Herren Länder zusammengetragene Beobachtungen sind in grotesker Weise zu schriftstellerischen Gebilden geformt, die den Leser durch alle möglichen widerspruchsvollen Empfindungen und Gedanken jagen.»6
Im Jahr 1897 trafen sich beide in Wien; Rudolf Steiner schreibt an Anna Eunike: «Er ist der alte liebe Mensch geblieben.»7 Am 10. September 1897 bedankte sich «Ihr alter treuer Hermann Bahr» brieflich «für den schönen Aufsatz von Hermann Ubell» (RSA), der im ‹Magazin für Literatur› über ihn erschienen war.
Obwohl Rudolf Steiner noch im Juli 1897 geäußert hatte, dass ihm «alles interessant [sei], was Bahr schreibt»8, überzieht er Bahrs Theaterstücke in den nächsten Jahren mit beißender Kritik. Ab 1898 kommentiert er besorgt die Wandlung des einstigen «Kritiker[s| der ‹Moderne› par excellence» vom «‹Stürmer und Wüterich› zum halben Hofrat»9: «[…] jetzt hat er sich zu den Anschauungen des ästhetischen Konservatismus bekehrt.»10
Erst viele Jahre später äußert sich Rudolf Steiner wieder zu Hermann Bahr, den er «als geistige Erscheinung sehr gern» habe, da er ein «ehrlicher Sucher» sei: 1916 stellt er zwei neue Bücher von Hermann Bahr ausführlich vor. Die Schrift ‹Expressionismus› bezeichnet er als «das Buch eines Mannes, […] der sogar sich redliche Mühe gegeben hat, etwas an unsere Geisteswissenschaft heranzukommen».11 Dies bezieht sich darauf, dass Bahr dort schreibt, dass er sich in den letzten Jahren stark von Martin Buber angezogen fühle: «Was ich von ihm gelesen, erschien mir als gute Botschaft, als ein Zeichen dafür, dass die Menschheit vielleicht wieder einmal daran ist, sich umzuwenden. Er, Johannes Müller und Rudolf Steiner, diese drei vor allem, sagen uns das an.»12
«[…] nicht mit dem Zaunpfahl, so doch mit dem Zündhölzchen […]»
Am Tor zum Geistigen
Den Roman ‹Himmelfahrt› behandelt Rudolf Steiner als «Zeitdokument» in mehreren Vorträgen eingehend. Die Hauptperson Franz sei in ihrem vielfältigen Suchen bis hin zum Spiritismus und der Theosophie «nicht eine Selbstcharakteristik, aber wie eine Art Abbild des Hermann Bahr selber».13 Rudolf Steiner ist berührt davon, «dass eine Persönlichkeit der Gegenwart, die ich in ihrer Jugend sehr gut kannte, […] jetzt eben daran geht, das Geistige wiederum zu suchen.»14
Auch Bahrs neues Drama ‹Die Stimme› erwähnt Rudolf Steiner. Der Protagonist kann die Stimme seiner toten Frau hören und wird dadurch vor einem Eisenbahnunglück gerettet: «[…] durch eine intime Beziehung zwischen seiner Seele und der Seele der verstorbenen Frau wird er nun im wahren Sinne zum Christentum zurückgeführt.»15 Bahr versuche, «in einer allerdings katholisierenden Weise, […] die Welt, die uns als physisch-sinnliche umgibt, an geistige Ereignisse und geistige Vorgänge anzuknüpfen […].»16
Am 18. März 1917 hält Hermann Bahr in Berlin einen Vortrag über ‹Die Ideen von 1914›, bei dem sich die Jugendfreunde vermutlich wiedergesehen haben. Kurz danach übersandte Bahr seine neue Schrift ‹Vernunft und Wissenschaft› mit der Widmung: «Herrn Dr. Rudolf Steiner in alter herzlicher Verehrung Hermann Bahr».
Auf Bahrs Vortrag kommt Rudolf Steiner im Laufe des Jahres immer wieder zurück. Zwischen den Gedanken Bahrs blitze immer wieder der Hinweis – «nicht mit dem Zaunpfahl, so doch mit dem Zündhölzchen»17 – auf die katholische Kirche. Die Neigung zum Katholizismus entspringe daraus, «dass die Leute sich nicht aufraffen können zu einem tätigen inneren Seelenleben […], da sie […] nach etwas hinstreben, was sich ihnen schon fertig darbietet.»18 Alles zeige, wie der Autor «bis an das Tor der Geisteswissenschaft gekommen ist, nun doch stillhält und zu bequem ist, in diese Geisteswissenschaft konkret hineinzugehen».19
Als Walter Johannes Stein Anfang 1919 in Wien Persönlichkeiten aufsuchte, um sie um ihre Unterschrift für den Aufruf ‹An das deutsche Volk und an die Kulturwelt› zu bitten, ging er auch zu Hermann Bahr. Herbert Hahn berichtet, was ihm Stein von diesem Besuch erzählte: «Mit staunendem Auge, während ein Schmunzeln auf seinen Lippen lag, überflog Bahr den Text des Aufrufes. Dann sagte er mit stark dialektischer Färbung: ‹Dös unterschreib I, dös unterschreib I – weil’s vom Rudi Steiner is.› Und nach einer kurzen Pause fügte er brummend hinzu: ‹Und zwoatens is’s a ganz vernünftig!›»20
Footnotes
- Friedrich Eckstein, «Alte unnennbare Tage!» Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren. Reprint der Ausgabe 1936, Wien 1988, S. 131.
- In GA 29, S. 44–48.
- Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus. Dresden u. Leipzig 1891, S. 11 f.
- «Auch ein Kapitel zur ‹Kritik der Moderne›», GA 30, S. 497.
- GA 39, S. 133 f. Richard Specht antwortet am 16.1.1892: «Bahrs ‹Russ. R.› ist wirklich hübsch und Ihr Urtheil darüber hat mich u. ihn sehr amüsiert. Insbesondere das Rauchen.» Am 25. März 1892 schreibt er: «Ich danke Ihnen herzlichst […] für die Übersendung der Bahrrecensionen. Eine derselben gab ich Hermann Bahr selbst, der sich sehr darüber freute […].» (In: Beiträge zur Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe 112/113, S. 74 f.)
- GA 32, S. 175–177.
- 23.5.1897, GA 39, S. 347.
- GA 32, S. 204.
- GA 29, S. 437.
- GA 29, S. 170.
- Vortrag vom 6.6.1916, GA 169.
- Hermann Bahr, Expressionismus. München 1916, S. 40 f.
- Vortrag vom 10.12.1916, GA 173a.
- Vortrag vom 27.11.1916, GA 172.
- Ebenda.
- Siehe Anm. 12.
- Vortrag vom 1.5.1917, GA 175.
- Vortrag vom 13.10.1918, GA 184.
- Vortrag vom 21.8.1917, GA 176.
- Zitiert nach Tomáš Zdražil, Freie Waldorfschule in Stuttgart 1919–1925. Stuttgart 2019, S. 137.