Wenn das Denken die Pfingstschneise herabkommt, endlich, fällt ihm das Wort zu …
Paul Celan (1920–1970)
In Rudolf Steiners christologischen Darstellungen kommt der Zeit der vierzig Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt eine große Bedeutung zu. Die Evangelien berichten nur spärlich oder fragmentarisch über sie – über einzelne Erlebnisse der Jünger mit dem Auferstandenen. Von «vielen Begegnungen» mit ihm spricht andeutend die Apostelgeschichte («vierzig Tage hindurch ließ er sich von ihnen schauen und sprach mit ihnen vom Reich Gottes»; Apg. 1,3), und auch in Steiners Darstellungen ist von einer kontinuierlichen Präsenz des Christus im Kreis der Gemeinschaft die Rede, ja, von einer fortlaufenden Unterweisung. Christus, der Auferstandene, nahm demnach seine «eingeweihten Schüler» in eine «esoterische Schulung» (1). Die ‹Lehren des Auferstandenen› übertrafen alles, was von der Taufe bis zu Golgatha in Wort und Tat vermittelt wurde. Die Zeugnisse dieser vierzigtägigen Unterweisung wurden, so Rudolf Steiner, in der ersten frühchristlichen Zeit durchaus festgehalten und niedergeschrieben, unter anderem in der ‹Pistis Sophia›, später jedoch, durch das sich etablierende Kirchenchristentum, das die Machtentfaltung auf Kosten der Spiritualität betrieb, vernichtet.
Die ‹Lehren des Auferstandenen›
Rudolf Steiner bemühte sich in seiner geisteswissenschaftlichen Forschung um eine Rekonstruktion des Verlorenen und er machte in verschiedenen Vorträgen deutlich, dass im Zentrum der Unterweisungen der vierzig Tage Golgatha selbst stand – das Geheimnis des Erdentodes und seine Überwindung. Um ‹gleiche Erlebnisse des Irdischen, gleiche Schicksale› wie die Menschen auf Erden zu haben, um ‹Menschenschicksal› zu erfahren, war der göttliche Sohn den Weg der Inkarnation und den Weg zur ‹Schädelstätte› gegangen, um den Erdentod und Ahriman in ihm zu erfahren und zu überwinden. Von daher wird auch verständlich, warum die ‹Lehren des Auferstandenen› seine eigentlichen Lehren waren, um derentwillen alles erfolgt war. «So denket in uns Christi Leidenstod. Seine Auferstehung …», so heißt es im Kultus der Menschenweihe-Handlung (2); dieses ‹Denken› sollte in den Jüngern Raum gewinnen, und damit zugleich der ‹Sinn› der Erde, der mit dem Todes- und Auferstehungsgeheimnis immanent verbunden ist. Die Jünger sollten durch Golgatha ‹Apostel des Irdischen› werden, das ‹In Christo morimur› in aller Tiefe verstehen, leben und weitergeben lernen. Die ‹Lehren des Auferstandenen› waren, so Rudolf Steiner, keinesfalls auf das Geheimnis des Todes und der Auferstehung beschränkt (3); dem Todesgeheimnis aber kam in den Unterweisungen eine herausragende Bedeutung zu. «In dem Christus wird leben der Tod.» (4) Die Jünger sollten ein Bewusstsein davon erlangen, was es heißt, lebendig im höheren Sinne durch den Tod zu gehen; sie sollten ihre untersterblichen Seelenkräfte entwickeln und ein neues Geistbewusstsein in die Erdenwelt tragen – auch ein neues Bewusstsein der Geistigkeit des Kosmos; sie sollten sich zu einer schrittweisen ‹Einsicht› emporarbeiten.
In der ‹Himmelfahrt› entzog sich Christus nach vierzig Tagen dem Bereich ihrer unmittelbaren Wahrnehmung, genauer: ihres ätherischen Wahrnehmungsvermögens, in dessen Bezirk sie zuvor mit ihm zusammengekommen waren. Sich entziehend segnete er sie; von der ‹segnenden Zugewandtheit› des Christus in der Himmelfahrt schrieb Rudolf Frieling, der auch darauf aufmerksam machte, dass das Wort ‹Erde› noch ganz zuletzt erklang: «Erde – das ist das letzte Wort des entschwindenden Auferstandenen. Zur ganzen Erde hin ist sein Blick und sein Wille gerichtet.» (5) Sie, die Jünger, sollten seine ‹Zeugen› sein, ‹bis an die Enden der Erde›. Dann blieben sie zehn Tage ratlos zurück, in unendlicher Trauer, absoluter Einsamkeit und Verlassenheit, in grenzenlosem Schmerz und furchtbarer Sorge alles rekapitulierend und erinnernd, was sie in den drei Jahren mit ihm erlebt, aber nur anfänglich verstanden hatten. Ihr unendlicher Schmerz, individuell und in Gemeinschaft erlebt, wurde schließlich in gewandelter, geläuterter Form zum Empfangsorgan für das Pfingstgeschehen, für ihr Erwachen im Geist der Wahrheit. «In des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele …» (6) Sie wachten erkennend auf, wurden ‹geistbewusste Seelen›. Durchdrungen von der kosmischen Substanz ‹allwaltender Liebe›, auferweckt durch den ‹Geist der Liebe des Kosmos› wurden sie zu ‹neuen Menschen›, mit einem, so Rudolf Steiner, «unendlichen weiten Herzen», mit «umfassender Toleranz» und einem tiefen Herzensverständnis für alle Menschen (7); sie wurden zu ‹Aposteln des Irdischen› und Vorbereitern einer neuen Zukunft. Pfingsten, das ‹Fest der freien Individualität›, wurde ein ‹Weltverjüngungsfest›, über alle Familien und Nationen hinaus, der Anbeginn eines neuen menschheitlichen Verstehens, in allen Sprachen, ein Fest der Zuversicht und Hoffnung.
Die bedrohte Gegenwart
Die Menschheit aber scheint heute, zur Pfingstzeit des Jahres 2020, davon weiter denn je entfernt, gefangen in einer viralen Epidemie und in einer Epidemie der Furcht, einer «Epidemie des Seelenlebens» (Steiner (8)), gefangen in Krankheiten und in Maßnahmen ihrer Verhütung, die mitunter so pathogen sind wie der Keim selbst. «Ahriman hüllt uns in Furcht.» (9) Er hüllt uns in Furcht vor der Infektion, vor Leiden und Tod, aber auch in Furcht vor dem anderen Menschen – als einem potenziellen Virusträger, den es zu meiden gilt. Die Menschheit lebt in der Angst um die Gefährdeten und Leidenden, um die Hungernden und Sterbenden, in Angst um den Menschen und in Angst vor dem Menschen – und all den Abgründen, die uns nunmehr umgeben, medizinisch und ökonomisch, psychologisch, sozial und ökologisch. Niemand ist frei von dieser Angst – und die, die das Virus weniger fürchten als die Maßnahmen des ‹Schutzes›, leben in verzehrender Sorge um die freiheitliche Demokratie (10), um den Weg der Individualität, um den Sinn der Erde – oder um ihre Kinder und die Welt, in die sie nun hineinwachsen. Selbst die einst so lebendigen Räume der ‹Freien Waldorfschulen› sehen in den staatlich verordneten Hygieneplänen wie tote mathematische Koordinatensysteme aus, verrechnet im geometrischen Abstand des einen zum andern – als hätte der Antichrist sein Netz nun auch hier ausgespannt. Das Gemeinschaftliche droht zu verfallen, das Menschheitliche zerfällt – übrig bleiben immer kleinere Einheiten. Aus Staatengemeinschaften werden wieder abgeschlossene Nationen, aus Nationen Familien, aus Familien isolierte, nur digital verbundene Einzelwesen.
Es wird alles vorübergehen, sagen die einen; es wird nie mehr weichen, sagen die anderen, denn es lebt Intelligenz und gerichteter Wille darin, zielgerichteter Wille. Es war notwendig und alternativlos, sagen die einen; es war weder notwendig noch alternativlos, sagen die andern. Alles befindet sich im Streit, die Risse der Auffassung gehen mitten durch Familien und Gemeinschaften hindurch. Ahriman liebt und schürt den Streit, er ist ein Inspirator des Dissenses, der Spaltung und Vereinzelung, des Atomismus und der Zerstörung. Die einen warten auf die rettende Impfung und die anderen warnen mit aller Kraft vor ihr. In der ‹Pistis Sophia› – auch darauf machte Rudolf Steiner aufmerksam – ist eine Unterweisung des Christus in den vierzig Tagen festgehalten, in der es um den Lichtleib des Menschen und die ihm widerstrebenden ahrimanischen Kräfte geht; es ist davon die Rede, dass Ahriman den physischen Leib so eng an das ganze Wesen des Menschen ketten will, dass der ätherische Lichtleib sich nicht länger frei entfalten kann. Rudolf Steiner thematisierte ein diesbezügliches ‹Gebet› der ‹Pistis Sophia› in seinem Dornacher Vortrag vom 2.1.1916: «Oh, ihr Mächte, lasset mich bewusst im Lichte aus dem Licht heraus hinschauen auf die Vorgänge meines eigenen Lichtleibes und dämpfet ab, nehmet weg die Kraft und Macht der ahrimanischen Kräfte, die mir verdunkeln und herabdämmern die Vorgänge im eigenen Lichtleib!» (11) Ist die intendierte Corona-Zwangsimpfung, auf die alles weltweit hinauszulaufen scheint und die, so sagen warnende Stimmen, ein ganz neues und unzulänglich erprobtes Wirkprinzip behinhaltet, ein entscheidender, menschheitlicher Schritt auf diesem Weg? Von der Möglichkeit, mithilfe von Impfungen ahrimanische Kräfte dem Organismus einzuverleiben, die die freie seelisch-geistige Entfaltung verhindern, sprach Rudolf Steiner bereits im ‹Epochenjahr› 1917 wiederholt und überaus prägnant: (12) «Er [der Mensch] wird konstitutionell materialistisch, er kann sich nicht mehr erheben zum Geistigen.» (13) Steht die Menschheit global an dieser Schwelle?
Und gilt Hölderlins so oft zitiertes Wort in seinem 250. Geburtsjahr wirklich noch immer? «Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch …» (14)
Vom Rettenden – Sprache und Beziehung
Wo aber ist das Rettende? Viele Menschen spüren zumindest, dass es nun darauf ankommt, eine viel größere innere Aktivität als je zuvor zu entfalten, individuelle Moralität und eigenständige Urteilskraft in einer schwer zu durchschauenden Gesamtsituation zu entwickeln. Wem ist zu vertrauen: den Statistiken, die die Regierungen veröffentlichen, oder den anderen? Welche Interessen und Kräfte wirken? Wem vertraut man, wenn so vielem nicht mehr zu trauen ist? Die «Gabe der Geistes-Gegenwart» werde, so betonte Franz Rosenzweig, dem Menschen «jeden Augenblick vom Herrn der Zukunft geschenkt» (15) Rudolf Steiner sprach seinerseits vom notwendigen «starken Vertrauen in die guten Mächte des Daseins» (16) und von der aufzubringenden «inneren Kraft» angesichts einer «herandrängenden Außenwelt» (17), die, in ihrer geballten medialen Wucht, immer bedrohlichere Formen annimmt. Der Weg der inneren Schulung, der Konzentration und Meditation, der Verbindungsaufnahme zum höheren und wahren Ich, zum ‹Geist der Wahrheit› und zu den guten Mächten, die unser Dasein wollen, bejahen und anerkennen, scheint aktueller denn je. Die ‹esoterische Schule› des Goetheanum, die Rudolf Steiner mit der Weihnachtstagung eröffnete, wird in dieser Situation für viele essenziell und existenziell wie nie zuvor.
Deutlicher als je zuvor wird in der Flut der medialen Information auch der Wert der lebendig gesprochenen Sprache, die «Gesprochenheit der Sprache», «das Laut werdende Einander», wie Martin Buber das nannte (18) – und auf Goethe verwies: «Wie das Wort so wichtig dort war, / Weil es ein gesprochen Wort war.» (19) Seiner Ansprache 1953 bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche gab Buber den Titel: ‹Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens›.
Deutlicher wird des Weiteren das Unverzichtbare der wirklichen Begegnung, in der Sphäre von Ich und Du, ohne Bildschirm, sondern in realer Präsenz, in Gegenwart und lebendiger Bezogenheit. «Mensch sein heißt, das gegenüber seiende Wesen sein», formulierte wiederum Martin Buber (20), und weiter: «Liebe ohne Dialogik, also ohne wirkliches Zum-Andern-ausgehen, Zum-Andern-gelangen und Beim-Andern-verweilen, die bei sich bleibende Liebe ist es, die Luzifer heißt. Freilich muss man, um zum Andern ausgehen zu können, den Ausgangspunkt innehaben, man muss bei sich gewesen sein, bei sich sein.» (21) Buber sprach lebenslang vom notwendigen Eintritt in die «echte menschliche Beziehung» – durch eine «Verbindung von Unmittelbarkeit und Gnade» (22). Er meinte es nicht pathetisch, sondern alltäglich konkret, und bezog das Ganze immer auch auf die Pädagogik, auf eine Schule, die keine bloße «Wissensvermittlung» leisten soll, sondern eine Schulung der Beziehung, der gegenseitigen Bezogenheit ist. «Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsre Schüler bilden uns […].» (23) Die Beziehung – auch die pädagogische – hat unmittelbar zu erfolgen, ohne «Dazwischenseiendes», ohne Mittel, in lebendiger Gegenwart, im Innewerden des anderen – «Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.» (24) Martin Buber sorgte sich um die Schwächung der Beziehungskraft des Menschen und verwahrte sich gegen alle Strategien der Beziehungserschwerung und -verhinderung, die mit dem Satan in Zusammenhang stehen. Vom digitalen Online-Unterricht und der ‹Global Education›-Industrie hätte Buber definitiv nichts gehalten; 1948 schrieb er zur drohenden Gefahr des Kollektivismus: «Hier gibt es keinen anderen Ausweg als den Aufstand der Person um der Befreiung der Beziehung willen.» (25) Rudolf Steiners Wort vom «Nicht-in-sich-Leben, sondern In-einem-anderen-Wesen-Leben», vom «Hinüberschreiten von dem eigenen Wesen in das andere», das immer stärker werden müsse (26), von der Beziehungskultur der «erkennenden Selbstlosigkeit» (27), es hätte Buber gefallen.
Liegt hier, in der gesprochenen Sprache und in der direkten Beziehung, das ‹Rettende› der Krise im Hölderlin’schen Sinne? Wer vermag es zu sagen. Widerständig zu betonen ist jedoch, wie unverzichtbar in unserer Gegenwart die lebendige Sprache und der «Aufstand der Person um der Befreiung der Beziehung willen» tatsächlich sind.
Christus im Ätherischen
Den ‹Lebendigen›, so berichtet die Apostelgeschichte, erlebten die Jünger in den vierzig Tagen – im gesprochenen Wort und in unmittelbarer Beziehung. Um Lebendiges erkennen zu können, müsse man am Leben teilhaben, betonte der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker im Hinblick auf die Lebenswissenschaft der Zukunft, die mehr und anderes umfasst als den Materialismus des 19. Jahrhunderts. «Wenn du das Leben heiligst, begegnest du dem lebendigen Gott», unterstrich Martin Buber, mit dem von Weizsäcker die Zeitschrift ‹Die Kreatur› herausgab. (28) Wer aber ist der ‹lebendige Gott›? In den vierzig Tagen, auf ihrem Weg zu Himmelfahrt und Pfingsten, wurden die Jünger anfänglich in der Sphäre des Ätherischen heimisch, wenn auch eher unbewusst als bewusst. Sie lebten in einer Werdenswelt des Kommenden, für die es heute mehr denn je aufzuwachen gilt, in der Besinnung auf das «Rettende» nahe am Abgrund, auf das Rettende und den Rettenden, durch den der «heilende Geist» wirksam werden kann. Im Aufwachen für das Ätherische liegt offenbar die Zukunft. «Der Christus wird wiedererscheinen deshalb, weil die Menschen sich zu ihm hinaufheben werden im Ätherischen», betonte Rudolf Steiner zwei Jahrtausende nach der Zeitenwende. (29) Die Jünger nahmen den Christus in den vierzig Tagen in seinem ätherischen Leib wahr, der, so Rudolf Steiner, bis zur Sichtbarkeit «verdichtet» war. Die Himmelfahrt beschrieb Steiner aus einer gewissen Perspektive als Sammlung und Zentrierung der ätherischen Kräfte des Menschen, die mit der Christus-Kraft durchdrungen und dadurch – so wörtlich – «gerettet» wurden. (30) Christus «segnete, sich der Sichtbarkeit entziehend», die Jünger als Protagonisten der Menschheit; er segnete seine «Zeugen» und damit diejenigen, die in seinem Sinne und seinem Namen wirksam sein wollten, lehrend und heilend. Sie sollten seine Mitarbeiter werden am kommenden Reich («Dein Reiche erweitere sich in unseren Taten und in unserem Lebenswandel» (31)) – im Wissen um den drohenden Abgrund, um den waltenden «Fürsten dieser Welt», aber auch im Wissen um die Zukunft, in ihrer besonderen «Fähigkeit zur Verbundenheit mit dem Werdenden». (32)
Das Evangelium der Erkenntnis
Das ‹Evangelium der Erkenntnis›, in dem Rudolf Steiner im 20. Jahrhundert viele dieser Zusammenhänge zu entfalten begann, nannte er ein Buch der Kraft und des Trostes – eine «Schrift», die die Menschen für ihre Arbeit in Zukunft brauchen würden. (33) Wie sehr dieses ‹fünfte› Evangelium der Erkenntnis in der Gegenwart nottut, lehrt eben diese Gegenwart. Nur in Verbindung mit der Christus-Kraft scheint ein Weg aus der ahrimanischen Verstrickung und Umklammerung derzeit noch möglich. «Berater und Freund», so Rudolf Steiner vorblickend, werde der Christus im Ätherischen den notleidenden Menschen im 20. Jahrhundert, in ihrer Einsamkeit, Verlassenheit und Unsicherheit werden – «so wie ein Mensch, der physisch neben uns geht» (34), sofern die Menschen seine Gegenwart anstreben, vorbereiten und ermöglichen. «Ich bin bei Euch alle Tage …» (Mt. 28,20)
Vor diesem Hintergrund gilt es wohl in der Gegenwart, in der ahrimanisch geprägten Auseinandersetzung um den wiederkommenden Christus (35) den Schmerz auszuhalten und ihn in der «allzeiterneuerten Welt» zu verwandeln – den Schmerz um die Sterbenden und Gestorbenen, aber auch den Schmerz um so viel andere, was in diesen Wochen und Monaten in folgenreicher Weise zu Bruch geht und von vielen in seinem ganzen Ausmaß noch kaum gesehen oder auch nur geahnt wird. «So lang du den Schmerz erfühlest / Der mich meidet / Ist Christus unerkannt / Im Weltenwesen wirkend / Denn schwach nur bleibt der Geist / Wenn er allein im eignen Leibe / Des Leidesfühlens mächtig ist.» (36)
Aus dem Christus-Schmerz können, so schilderte Rudolf Steiner in seinen Beiträgen aus dem ‹Evangelium der Erkenntnis›, «verjüngende Kräfte» hervorgehen, die den pfingstlichen Aufbruch zur Zukunft ermöglichen – in einer erwachten Gemeinschaft, die die «Krise des Bewusstseins» (37), auch die Krise des ökologischen Bewusstseins, versteht und die richtigen Konsequenzen aus ihr zieht, darunter die gezielte Förderung des Ätherischen in der therapeutischen Medizin, Kunst und Landwirtschaft, im Kultus und in der Pädagogik. Auch der ätherische Zeitorganismus der Waldorfschulen wurde zerstört, liegt gegenwärtig ‹klagend am Boden›, das Heilsame der zeitlichen Gestalt des Unterrichts, die ganze Bildekraft eines kindgemäßen Organismus von Erziehung, Begegnung und Sprache, einer in Rhythmen gefügten Zeitordnung. «Denn es waltet der Christus-Wille im Umkreis / in den Weltenrhythmen Seelen-begnadend …» (38)
All dies und vieles andere gilt es in nächster Zukunft entschieden neu aufzubauen, aus der Kraft der geistigen Gemeinschaft, damit Kindheit und Pfingsten in bedrohter Zeit wieder möglich werden, damit eine neue Öffnung aus dem ‹Shutdown› oder ‹Lockdown› geschieht. «Wo hinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben.» (Franz Rosenzweig (39))
Illustrationen: Ella Lapointe, Faces (Ausschnitt), Vektorisierte Tintenzeichnungen, 2019.
(1) Rudolf Steiner, Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, V. GA 346, Dornach 2001, S. 28.
(2) Rudolf Steiner, Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. GA 343, Dornach 1993, S. 466.
(3) Vgl. u. a. Peter Selg, Christus und die Jünger. Vom Schicksal der inneren Gemeinschaft. Arlesheim 2009; ders.: Himmelfahrt und Pfingsten, Arlesheim 2017.
(4) Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. GA 260a, Dornach 1987, S. 35.
(5) Rudolf Frieling, Die Himmelfahrt des Christus. In: Gesammelte Schriften zum Alten und Neuen Testament, Band III. Stuttgart 1986, S. 175.
(6) Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen, Band II. GA 268, Dornach 1999, S. 241.
(7) Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik. Das Fünfte Evangelium. GA 148, Dornach 1992, S. 208.
(8) Rudolf Steiner, Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904–1914. GA 264, Dornach 1996, S. 378.
(9) Rudolf Steiner, Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band I. GA 266 a, Dornach 2007, S. 479.
(10) Vgl. u. a. Peter Selg, Eine medikalisierte Gesellschaft? In ‹Kernpunkte› 6, 7.5.2020.
(11) Rudolf Steiner, Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls. GA 165, Dornach 2006, S. 123.
(12) Vgl. hierzu Peter Selg, Die Gegenwart des Vergangenen. Rudolf Steiner und die Aktualität des Jahres 1917. Arlesheim 2017, S. 99 f.
(13) Rudolf Steiner, Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. GA 314, Dornach 2010, S. 287.
(14) Friedrich Hölderlin, Patmos. In: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1. Hg. Michael Knaupp, München 1992, S. 460.
(15) Franz Rosenzweig, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand. Frankfurt a. M. 1992, S. 89.
(16) Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Dornach 1993, S. 72 f.
(17) Rudolf Steiner, Aus den Inhalten der esoterischen Stunden, Band I. GA 266 a, S. 298.
(18) Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente. Heidelberg 1986, S. 34.
(19) Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Diwan, Buch des Sängers. Weimarer Ausgabe, 1. Abt., 6. Bd., Weimar 1888, S. 5.
(20) Martin Buber, Begegnung, S. 83.
(21) Martin Buber, Das dialogische Prinzip. Zwiesprache. Heidelberg 1984, S. 169.
(22) Brief vom 26.1.1962 (an Richard Gambino). In: Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Band III: 1938–1965. Heidelberg 1975, S. 536.
(23) Martin Buber: Das dialogische Prinzip. Ich und Du. Heidelberg 1984, S. 19.
(24) Ebd., S. 16.
(25) Martin Buber, Das Problem des Menschen. Heidelberg 1948, S. 163.
(26) Rudolf Steiner: Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? GA 84, Dornach 1986, S. 231.
(27) Vgl. Peter Selg, Die Kultur der Selbstlosigkeit. Rudolf Steiner, das Fünfte Evangelium und das Zeitalter der Extreme. Dornach 2006.
(28) Martin Buber, Das dialogische Prinzip. A. a. O., S. 81.
(29) Rudolf Steiner, Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt. GA 118. Dornach 1984, S. 28.
(30) Rudolf Steiner, Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten. GA 224, Dornach 1992, S. 153.
(31) Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen, Band II. GA 268, S. 341.
(32) Zur ‹Verbundenheit mit dem Werdenden› vgl. Constanza Kaliks: ‹Eine Kraft erfahren, die an keine Grenze stößt›. In ‹Goetheanum› 18/2020, S. 12 f.
(33) Vgl. Peter Selg, Rudolf Steiner und die Vorträge über das Fünfte Evangelium. Dornach 2010.
(34) Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha. GA 152, Dornach 1990, S. 91.
(35) Vgl. hierzu Sergej O. Prokofieff, Die ätherische Wiederkunft und die ihr entgegenwirkenden okkulten Mächte. In: Das Erscheinen des Christus im Ätherischen. Dornach 2010, S. 79–103.
(36) In: Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr. 108, 1992, S. 46 (Handschrift, 1914).
(37) Vgl. Harald Schwaetzer, Krisen als Zeichen der Überforderung, In ‹Goetheanum› 19/2020, S. 9.
(38) Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24. GA 260, Dornach 1994, S. 68.
(39) Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M. 1988, S. 472.