Der schönste Blick aufs Leben

Als Kulturveranstaltungen wieder möglich wurden, da wartete die Junge Bühne nicht lange und präsentierte einen Lyrikabend am Goetheanum.


Rezitation gehört zur Ausbildung, um, wie Jutta Nötiger, Sprachtrainerin im Dozententeam, betont, jenseits des dramatischen Ausdrucks sich auf die Sprachführung zu konzentrieren. Die neun Jugendlichen begannen zusammen mit ‹Ecce Homo› von Heinz Winfried Sabais. Sechsmal beginnt eine Strophe mit «Ich bin sehr alt» und dann geht es durch Schicksale aller Jahrhunderte und damit ist die Menschheit aufgerufen. Die meisten der folgenden Gedichte, mal alleine gesprochen, mal zu zweit, widmeten sich dem menschlichen Leben. Wie berührend, wenn die, die sprechen, alt genug sind, das Leben zu verstehen, seine Vielfalt fühlen zu können, und jung genug, es noch in seiner Fülle vor sich zu haben. Alles ist Ausblick. So ging es weiter mit Morgensterns ‹Wer vom Ziel nicht weiß› und dem Bekenntnis von Albert Schweitzer: «Ich bin ein freier Mensch!» Dann folgte von Steffen: «Es ist mir kein Auftrag gegeben, von Göttern nicht und nicht von Menschen, keine Lehre von irgendwem wurde mir anbefohlen.» Wieder ist die Energie erstaunlich, die aus diesen Zeilen strömt, wenn sie gerade dann ausgesprochen werden, wenn man beginnt, auf sich selbst zu hören. Da durfte dann Hermann Hesses Hymnus ‹Stufen› auf den Anfang nicht fehlen. Welch eine Zeile von Ingeborg Bachmann: «Dieses Land mit Klängen ganz zu erfüllen». In Rilkes ‹Imaginärer Lebenslauf› ist erneut vom eigenen, gelingenden Leben die Rede: «… tief in der errichteten Gestalt ein Atemholen». Immer wieder besingen die Vortragenden das Leben, mal leichtfüßig mit Wilhelm Buschs ‹Lebenslauf›, dann schicksalhaft mit Conrad Ferdinands ‹Die Parze›, dann mit Hölderlins ‹Lebenslauf› hymnisch, wenn man an die Schlussstrophe denkt: «Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, / Dass er, kräftig genährt, danken für Alles lern’, / Und verstehe die Freiheit, / Aufzubrechen, wohin er will.» Es mag manchmal schwer sein, den so viel gesprochenen und besprochenen Gedichten neues Leben zu schenken. Den neun Jugendlichen Anna-Sahra, Yamila, Sabine, Ludowika, Sophia, Lukas, Julian, Orell und Elias ist es gelungen, vielleicht deshalb, weil es um das Leben ging.


Titelbild: Elias Eckl, Foto: W. Held

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