Die Erkenntnisfähigkeit und die Freiheitsbegabung des Menschen bilden zwei Grundlagen der anthroposophischen Suche. Hans-Christian Zehnter zeigt anhand eines aktuellen Beispiels, dass die Würde des Menschen aus dem Blick gerät, wenn diese zwei Fähigkeiten nicht anerkannt werden.
Derzeit geht ein Video um die Welt, auf dem ein Schimpanse zu sehen ist, der ein Handy bedient. Das Video gibt Anlass zu einer breit gefächerten Diskussion. Die Stellungnahmen reichen von unmittelbarer Betroffenheit bis hin zu aufgebrachten Tierschutzappellen. Betroffenheit darüber, wie menschenähnlich sich dieser Schimpanse doch offenbar verhält: Unbeirrbar navigiert er sich durch den Touchscreen des Smartphones, bis er endlich die Videos mit seinen Artgenossen zu sehen bekommt. Und Tierschutzbeschwerden gibt es deshalb, weil dieser Schimpanse offensichtlich irgendwo in einem Privatappartement gehalten wird.
Der Tierschutz geht von der Unwürde und Unfähigkeit des Menschen aus. Ein Wesen, das – wie der Mensch – nur im Kerker der Selbstbezogenheit lebt, hält sich auch die Tiere aus Egoismus. Daher muss der konsequente Ruf aus dieser Richtung lauten: Schützt die Tiere vor dem Menschen. Und auch der andere Pol, die Erschrockenheit über die Menschenähnlichkeit des Schimpansenverhaltens, macht deutlich, dass wir die eigene Würde aus den Augen verloren haben.
Anstatt nämlich zu meinen, das Menschsein bestimme sich durch die Fähigkeit, ein Handy bedienen zu können, wäre die reziproke Anschauung viel sachgemäßer: Das Handy bedient eben das Tier im Menschen, es macht den Menschen alles andere als frei.(1) Das Schimpansenvideo macht das nur allzu deutlich: Der Menschenaffe ist wie gebannt von den gebotenen Bildern und Bedienungsmöglichkeiten – gefangen in der Befriedigung der eigenen, unbewussten Bedürfnislage.
Zwei Grundfragen der Menschenwürde
Zwei Grundfragen der Anthroposophie betreffen den Kern der Menschenwürde.
1. Kann der Mensch erkennend etwas Objektives über die Welt um ihn herum aussagen? Diese Frage ist immanent verbunden mit der Frage nach der Konstitution unserer Wirklichkeit. Denn: Eine Wirklichkeitsauffassung, die den Menschen zu einem externen Zuschauer verurteilt, als welcher er zum wahren Weltgeschehen keinen Zugang habe, verunmöglicht eine um Erkenntnis bemühte, liebevolle Zuwendung zur Welt. In seiner Isolation bleibt dem Menschen einzig der Rückzug in die Selbstliebe, in den Egoismus.
2. Ist der Mensch – zumindest seiner Anlage, seiner Möglichkeit nach – ein freies Wesen? Diese Frage ist im eminenten Sinne mit der Überwindung des Materialismus verbunden. Wenn ich nur Produkt der Materie, meiner Gene etc. bin, dann kann ich nicht frei sein.(2)
Der heute so dominierende Materialismus beantwortet beide Fragen negativ. Weder könne der Mensch etwas Objektives über das Wesenhafte der Welt aussagen noch sei der Mensch selbst ein freies Wesen. Mit dieser doppelten Negation ist der Mensch um seinen eigenen Wesenskern entwürdigt.
Eine höhere Intelligenz?
Dadurch verwischen auch die Grenzen zwischen den verschiedenen Seinsstufen, so auch der Unterschied zwischen Mensch und Tier. Demgegenüber wird – zunehmend vergeblich – versucht, einen prinzipiellen Unterschied zwischen Tier und Mensch mit der vermeintlich größeren Intelligenz des Menschen aufrechtzuerhalten. Abgesehen davon, dass immer wieder Beispiele von der vielfach höheren Intelligenz der Tierwelt vorgelegt werden, so führt gerade diese Blickrichtung am Ziel vorbei. Sie sucht den Unterschied an der falschen Stelle. Denn der Mensch zeichnet sich primär durch seine Begabung zur Erkenntnis (Liebe) und zur Freiheit aus. Dadurch ist er Mensch – und nicht durch seine derzeit übermächtige Verstandesintelligenz, mit der er den ganzen Erdglobus und damit auch sich selbst existenziell gefährdet.
Differenzierung in der Ich-Begegnung
Weil der Blick auf die Erkenntnisfähigkeit und auf die Freiheitsbegabung des Menschen noch nicht genügend ausgeprägt worden ist, kann auch nicht zwischen verschiedenen Qualitäten der Ich-Begegnung und Ich-Erfahrung unterschieden werden. Nur der andere Mensch bietet unserem Ich-Sinn ein echtes Sinnesangebot (so wie die Farben für den Sehsinn) – es sei denn, er ist durch ein Handy gebannt und dadurch abwesend. Nur das Ich des anderen Menschen zeigt sich im Sinnlichen, im Äußeren der Welt.(3) Wir können auf ein äußeres Dort zeigen, um den Ort der sinnlichen Ich-Erfahrung anzugeben.
Anders ist die Ich-Erfahrung bei einem Schimpansenblick. Hier erlebe ich eine Ich-Qualität innerlich, gleich dem innerseelischen Anteil beim sinnlich-sittlichen Erleben von Farben, allerdings ohne ein sinnliches Farb- bzw. Ich-Angebot. Das Ich-Erlebnis in der Begegnung mit einem Schimpansen ist rein übersinnlicher Natur. Dieses innere Erlebnis verliert sich aber auch nicht in kosmische Weiten, wie das bei der Begegnung mit einem Gruppen-Seelen-Ich der Fall sein kann. Schaut man beispielsweise einer Kuh oder auch einer Eule in die Augen, dann fühlt man sich selbst einerseits wie durchschaut, durchleuchtet; und zugleich – auf der Suche nach dem, was einen da durchleuchtet – verliert man sich andererseits in die scheinbar unendlichen, aber von Weisheit und Würde getragenen Weiten des Kosmos hinein.
Im Gegensatz dazu hat das Ich-Erlebnis in einer Menschenaffen-Begegnung einen viel konkreteren Bezug zu dem einzelnen Affen oder einer Affenfamilie. Es ist wie ein ‹Als-ob›-Ich-Erlebnis. Rudolf Steiner formulierte das so: «Daher wirkt auf das naive Gemüt der Affe so sonderbar, weil er in der Wirklichkeit ein von dem Gruppengeist abgeschnürtes Wesen ist; […] Dasjenige nun, was von diesen sozusagen individuellen Tierseelen zurückbleibt, was sich aber auch nicht wieder inkarnieren kann, das ist der wahre Ursprung einer […] Gruppe von Elementargeistern. […] Von zahlreichen Tieren bleiben solche ich-artigen Wesenheiten zurück, und das sind dann die Salamander. Das ist die höchste Form der Naturgeister, denn sie ist ich-artig.»(4)
Selbst-Erwürdigung
Dass wir unsere Freiheits- und Liebe-Erwürdigung nicht genügend ergreifen, zeigt sich auch in der Polarisierung der aktuellen Klimadebatten. Der Ökozentrismus tendiert zur Diktatur der ökologischen Fakten, der Anthropozentrismus führt zur immer weiter gesteigerten Konsumorientierung einer Ignoranz gegenüber der Natur.
Der Mensch kann seine Erkenntnis- bzw. Liebe- und Freiheitswürde be- und ergreifen, wenn er die Aufgabe einer wesensgemäßen Erkenntnisweise, einer Pflege und einer Entwicklung des Erdglobus als seine ihm anheimgestellte Aufgabe betrachtet. Dann stellt er sich in die Verantwortung gegenüber sich selbst und der Erdennatur.
(1) Womit nicht gesagt ist, dass nicht durch Übung oder durch eine entsprechende Veranlagung auch ein freiheitlicher Umgang erreicht werden kann.
(2) Der ersten Frage widmete Rudolf Steiner seine ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goethe’schen Weltanschauung› (GA 2), der zweiten Frage wendete sich Rudolf Steiner mit seiner ‹Philosophie der Freiheit› zu (GA 4).
(3) «In anthroposophischer Beleuchtung darf alles dasjenige ein menschlicher Sinn genannt werden, was den Menschen dazu veranlasst, das Dasein eines Gegenstandes oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in die physische Welt zu versetzen berechtigt ist.» Aus: Rudolf Steiner, Anthroposophie. Ein Fragment (1910; GA 45). Dornach 2009, s. 23.
(4) Rudolf Steiner, Vortrag vom 16. Mai 1908, in: GA 102.
Foto: Petr Kratochvil