Der Mut, sich auf die Komplexität einzulassen

Der Soziologe Edgar Morin ist zu einem Monument des intellektuellen Lebens in Frankreich geworden. Nicht nur, weil er sich gegen den Faschismus in Spanien und im Widerstand gegen die deutsche Besatzung engagierte, nicht nur, weil er sein Leben lang originelle Denkanstöße gegeben hat, sondern auch, weil er im Alter von 102 Jahren nichts von seiner Wachsamkeit verloren hat und weiterhin Bücher veröffentlicht, Interviews gibt und fast täglich seine Gedanken auf dem sozialen Netzwerk X (früher Twitter) mitteilt.


In einem Interview mit der Schweizer Tageszeitung ‹Le Temps›1 sprach Edgar Morin kürzlich über sein Buch ‹Réveillons-nous!› (Erwachen wir!)2, das 2022 erschien. Dort bezeichnet er den Zustand, in dem die Menschheit die zeitgenössischen Krisen durchlebt, als «generalisiertes Schlafwandeln». «Ich beziehe mich mit diesem Wort in erster Linie auf meine Erfahrungen in den 1930er- und 1940er-Jahren. Jahre, die von steigenden Gefahren geprägt waren, mit der Machtübernahme Hitlers, dem Spanischen Bürgerkrieg, München und der Annexion der Tschechoslowakei. […] Nur sehr wenige Menschen waren sich damals dieses unerbittlichen Marsches auf eine globale Explosion hin bewusst», sagt er zu ‹Le Temps›.

Edgar Morin betont jedoch, dass Krisen auch Gelegenheiten für eine Bewusstwerdung, für ein Erwachen sind. Dieses Erwachen besteht für ihn nicht einfach in einem empörten Aktivismus, sondern vielmehr in einer Reform des Denkens, die er in seinen zahlreichen Büchern beschrieben hat. Denn es ist gerade die Frage des Denkens, auf die er zurückgeht, wenn er zum Kern der gegenwärtigen Krise vordringen will. Hier taucht der Begriff des ‹komplexen Denkens› auf, aber auch der Begriff der ‹Verbundenheit›, um aus einer fragmentierten und einseitigen Denkweise herauszukommen. Schon in seinem 2014 erschienenen Buch ‹La Tête bien faite› (Der wohlgeordnete Kopf)3 brachte Morin das Paradoxon des menschlichen Subjekts innerhalb des Kosmos gut auf den Punkt. «Wir sind gleichzeitig in der Natur und außerhalb der Natur. Wir sind kosmische, physische, biologische, kulturelle, zerebrale, spirituelle Wesen […] Wir sind Kinder des Kosmos, aber aufgrund unseres Menschseins, unserer Kultur, unseres Geistes und unseres Bewusstseins sind wir diesem Kosmos fremd geworden, aus dem wir stammen und der uns gleichzeitig heimlich intim bleibt. Unser Denken und unser Bewusstsein, die uns diese physische Welt erkennen lassen, entfernen uns umso mehr von ihr. Die bloße Tatsache, dass wir das Universum rational und wissenschaftlich betrachten, trennt uns von ihm.»

Es geht also heute darum, diesen der menschlichen Natur innewohnenden Widerspruch zu überwinden: gleichzeitig in der Natur und außerhalb der Natur zu sein, gleichzeitig lokal und universell zu sein. Wie können wir dieses Paradoxon innerhalb unseres Denkens, unserer Weltanschauung selbst überwinden? «Hegemoniales Denken beruht auf einem auf die aristotelische Logik beschränkten Verständnis von Rationalität, das an seine absolute Übereinstimmung mit der Realität glaubt und jeden Widerspruch als Absurdität ausschließt. Sie gehorcht dem Paradigma, das vorschreibt, das Universum in Objekten zu sehen, die von ihrem Kontext isoliert sind, oder in Elementen, die voneinander getrennt sind. Die Reform des Denkens erfordert daher eine paradigmatische Revolution. Es geht darum, die Prinzipien, die vereinfachendes, einseitiges, partielles und offensichtlich parteiisches Denken hervorbringen, durch Prinzipien zu ersetzen, die es gleichzeitig ermöglichen, komplementäre Antagonismen zu erkennen, zu unterscheiden und zu vereinen», schreibt Morin in ‹Réveillons-nous!›.

Antagonismen erkennen, unterscheiden und vereinen: Das ist ein Merkmal dieser Reform des Denkens, dieses heute notwendigen Erwachens. Mit anderen Worten: sich aus einem vereinfachenden Denken lösen und sich in ein ‹komplexes Denken› wagen – lernen, die Gegensätze zu denken und zu überwinden. Ob es sich um die ökologische Frage, die politischen Gegensätze links/rechts oder geopolitische Krisen handelt: Wie können wir in den Antagonismen, die uns begegnen, den Ausdruck verschiedener Bedürfnisse der menschlichen Natur erkennen? Zum Beispiel kann die große politische Polarität zwischen Links und Rechts, Konservatismus und Progressismus, Universalität und Lokalität als Ausdruck polarer, aber versöhnbarer Bedürfnisse verstanden werden? «Wir dürfen nicht mehr das Universale den Heimatländern gegenüberstellen, sondern müssen unsere Heimatländer – familiäre, regionale, nationale, europäische – konzentrisch miteinander verbinden und sie in das konkrete Universum des irdischen Heimatlandes eingliedern.»4 Das Bedürfnis, sich als eine Menschheit anzuerkennen, die dem ‹Heimatland Erde› angehört, kann mit dem Bedürfnis nach lokaler Zugehörigkeit in Einklang gebracht werden.

Wir sind Kinder des Kosmos, aber aufgrund unseres Menschseins, unserer Kultur, unseres Geistes und unseres Bewusstseins sind wir diesem Kosmos fremd geworden, aus dem wir stammen und der uns gleichzeitig heimlich intim bleibt.

Edgar Morin hat sich auch mit dem Thema Krieg in seinem 2023 erschienenen Buch ‹Von Krieg zu Krieg›5 befasst, insbesondere mit dem, der heute in der Ukraine tobt. Auch hier appelliert er in seinem Interview mit ‹Le Temps› an das komplexe Denken: «Zu oft wird uns nur ein manichäischer Konflikt vor Augen geführt. Es ist klar, dass Putins Russland der Aggressor ist. Aber nehmen wir zum Beispiel den Fall des Donbass. […] Das russifizierte Volk, das dort lebt, braucht einen Sonderstatus, der sich nicht auf eine reine Integration in die Ukraine beschränkt, mit dem Risiko, unterjocht oder zerstört zu werden. Meistens tun wir, wenn ein komplexes Problem auftaucht, so, als ob es nicht existieren würde. […] Es reicht nicht, sich auf internationale Verträge zu berufen. Was ist mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker? Der Krieg in der Ukraine weckt eine komplexe Geschichte, die sich nicht auf einen Akt der Aggression und den mutigen Widerstand eines Volkes gegen den Aggressor reduzieren lässt. Wir können uns nicht auf die einseitige Sichtweise der Nachrichten beschränken. […] Der Krieg bringt eine Flut von Illusionen, Lügen, Mystifikationen und einseitigen Informationen mit sich, derer wir uns bewusst sein müssen.»

Wir haben es verstanden, für den hundertjährigen Soziologen ist es nicht diese oder jene äußere Lösung, die es uns ermöglichen wird, diese Krisen zu überwinden, sondern eine Veränderung in unserem Denken. Als der Journalist von ‹Le Temps› ihn nach den Haupthindernissen für einen Kurswechsel fragte, nannte er – neben den «mächtigen Wirtschaftsinteressen, die die Gesellschaften beherrschen und kontrollieren» – «das Gedankenvakuum, das uns daran hindert, eine Welt und eine Geschichte für die heutige Zeit zu imaginieren und zu entwerfen.» Dieses ‹Gedankenvakuum› ist sicherlich der Hauptwidersacher, gegen den Edgar Morin sein ganzes Leben lang gekämpft hat. Auch wenn Morin nicht so weit geht, eine Geisteswissenschaft im Sinne der Anthroposophie zu fördern, spürt man, dass sein Denken eine spirituelle Kraft in sich birgt. Das neue, komplexe und zugleich versöhnende Denken, an das er appelliert, ist ein Denken, das sich auch der Poesie annähern möchte: «Die Poesie des Lebens ist alles, was uns erhebt, alles, was uns zur Gemeinschaft führt, alles, was uns lieben lässt. […] Es wird immer wichtiger, den Menschen zu ermöglichen, ihre poetischen Potenziale auszudrücken. Poesie ist kein Luxus», so Morin in ‹Le Temps›.


Foto Edgar Morin am Set von ‹Edgar Morin, Chronique d’un regard› (Edgar Morin, Chronik eines Blicks), 2015, CC BY-SA4.0

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Footnotes

  1. Eric Tariant, Interview mit Edgar Morin. Nous marchons vers de possibles catastrophes dans un état de rêve éveillé. Le Temps, 8. September 2023.
  2. Edgar Morin, Réveillons-nous! Denoel, 2022.
  3. Edgar Morin, La Tête bien faite. Repenser la réforme, réformer la pensée. Le Seuil, 2014.
  4. Edgar Morin, Réveillons-nous! Denoel, 2022.
  5. Edgar Morin, Von Krieg zu Krieg: Von 1940 bis zur Invasion der Ukraine. Verlag Turia + Kant, 2023.
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