Der Mut Fragment zu sein

Die Goetheanum-Weltkonferenz lädt dazu ein, die nächsten Jahre der anthroposophischen Weltbewegung zu bewegen. Es ist eine Gelegenheit, gemeinsam zu lauschen, wo wir stehen und was als Nächstes ansteht. Es geht um gemeinsame Visionen und eine gelingende Co-Kreativität. Christine Gruwez aus Belgien wird als eine Hauptreferentin dabei sein.


Franka Henn Christine, wie hat sich die Weltbewegung verändert, seit du Teil von ihr bist?

Christine Gruwez Ich nehme sie genau als das wahr: als eine Bewegung. Für mich hat es ganz konkret in meinem direkten Lebensumfeld angefangen, an der Waldorfschule, die einzige, die es damals in Belgien gab! Da erlebte ich, wie Anthroposophie wirkt, wie wirksam sie werden kann. Seitdem habe ich diese Wirksamkeit in vielen verschiedenen Zusammenhängen kennengelernt. Ich habe mich immer weiter hinausbewegt und Anthroposophie in Ägypten, im Libanon, in Europa oder Indien, in Amerika oder Japan erlebt. Aber mein Anfang, mein Ausgangspunkt, den ich nicht als irgendein Zentrum betrachte, wurde verstärkt und vertieft. Ich betrachte mich noch immer als eine, die ‹anfänglich› ist. In der anthroposophischen Bewegung erlebe ich diesen Anfang in seinen verschiedenen Gestaltungen. Alle Gestaltung, die ihren Anfang aus dem Ort des Ursprungs speist, kann immer nur eine Zeitgestalt sein. Um die ganze Welt herum ist die Anthroposophie als Bewegung nicht ein Festes, Erworbenes, nicht ein Gewordenes. Sondern in einer sehr bewegten und sehr unterschiedlichen Art manifestiert sich, was in Dornach gestaltet worden ist und wird – eben nicht als Zentrum, sondern als Ort des Anfangs, als Potenz.

Henn Hast du eine Veränderung erlebt, seit du das Goetheanum zum ersten Mal besucht hast?

Gruwez Ja, als ich Mitte der 70er-Jahre zum ersten Mal da war, hatte ich das Gefühl: Jetzt gehe ich zum Anfang. Anfang als Ursprung. Damals war im Goetheanum alles, was stattfand, in einer für mich fremden Sprache, was jetzt gar nicht mehr der Fall ist. Sicher, ich hatte Deutsch gelernt, konnte mich sogar ziemlich gut verständlich machen, aber es blieb mir fremd. Heute kann man sich in vielen Sprachen hier bewegen. Aber vor allem gab es gewisse Verhaltensweisen, die man verstehen musste. Ich kannte diese ‹Codes› nicht und fühlte mich wie eine Außenseiterin. Eine Fremde. Nach fast 50 Jahren fühle ich mich hier in der Welt stehend, und nicht wie in einem Zentrum. Mir ist klar, dass ich mich hier und auch anderswo, im Grunde überall, an einem Ursprungsort befinde und das stiftet in mir diese immer tiefer werdende Dankbarkeit der Anthroposophie und ihrem Begründer gegenüber. Im Grunde geht es für mich um einen Prozess, der sich zwischen Anfang und demjenigen, was Gestalt annehmen will, bewegt. Ich kann mich im Goetheanum wie an einem Quellort, am Ort, wo es angefangen hat, erleben. Nicht wie in einem Zentrum. Ich erlebe das auch anderswo. Wenn ich das schaffe, dann ist die Welt unmittelbar hier und nicht ‹da draußen›. Sie ist in mir.

Kreative Spannung zwischen Zentrum und Umkreis

Henn Du bemühst dich, in dir selbst die Peripherie zu erleben, oder?

Gruwez Ja, aber zur gleichen Zeit erlebe ich mich auch im Zentrum, denn für mich gibt es keinen Gegensatz zwischen diesen beiden Polen, nur eine Spannung, eine fruchtbare und schöpferische Spannung. Erneuerung kann nur aus dieser Spannung hervortreten. Es ist die Spannung zwischen dem Anfang der schöpferischen Potenz eines jeden Menschen und dem, was sich gestalten will. Wir tragen alle diese Potenz in uns, auch wenn sie noch aufwachen muss. Heute ist die Quelle des Schöpferischen individuell oder individualisiert sich, soll sich individualisieren. Die Potenz habe ich als Individuum in mir, dennoch gehört sie mir nicht. Sie ist kein Eigentum, denn sie will aus sich gestalten. Anders gesagt: Sie will verwirklichen, was sie in sich trägt. Was ist dann das Gemeinsame? Das ist der Prozess des Entfaltens der Potenzialität! Alles dasjenige, was sich zwischen Anfang und Gestaltetem entfaltet. Wenn jeder Mensch nur einen kleinen Schritt macht und aus seiner Potenz vollzieht, dann entsteht eine Co-Kreativität. Für mich bedeutet das zum Beispiel, Freiräume zu schaffen, in denen die Potenz des anderen sich zeigen kann. Wir müssen uns miteinander in diesem Gewebe aufhalten können, einander tragen, ohne sofort zu urteilen oder unmittelbar ein Ergebnis zu wünschen.

Henn Ich höre darin, dass Kreativität an sich niemandem gehört. So sind wir alle auch Peripherie. Aber trotzdem ist das schöpferische Vollziehen oder die Möglichkeit dazu in jedem einzelnen Menschen. Also, jeder Mensch ist auch im Zentrum dieser anthroposophischen Bewegung oder auch: im Zentrum der Welt.

Gruwez Ja, ich trage Schöpferisches in mir, aber es gehört mir nicht. Das ist kein Widerspruch. Es ist die Gabe, mit der wir auf die Welt kommen. Sie gehört mir nicht, aber ich bin verantwortlich für sie. Sie gehört eigentlich dem anderen, der Welt. Auch so kann man verstehen, dass Zentrum und Peripherie einander bedingen.

Schöpferisch zu sein, ist unsere menschliche Gabe. Sie gehört mir nicht, aber ich bin für sie verantwortlich.

Henn Wenn man heutzutage von der anthroposophischen Weltbewegung spricht, kann man sich nicht mehr eine Bewegung denken, die vom Goetheanum inauguriert oder inspiriert wird, sondern sie hat immer neue und multiple Ausgangspunkte. Du hast das ‹ein Weben› genannt. Wie siehst du diese Spanne für die anthroposophische Bewegung? Wie können wir noch mehr daran wachsen und uns dieses Co-Kreierens bewusst werden?

Gruwez Jede und jeder mit der wachen, kreativen Potenz müsste den Mut pflegen, erst mal Fragment zu sein. Das heißt eine Gestalt, die sich in der Zeit verwirklicht und Form annimmt, aber dazu bereit ist, diese Form in eine nächste Form überzuleiten. Denn es kann in diesem Prozess und in dieser Spannung nichts Endgültiges geben, von dem man sagt: «Jetzt haben wir es.» Es wird immer eine Form sein, die eine Zeit lang besteht – und eine Zeit lang kann für mich ruhig zwei, drei Jahrhunderte meinen. Das ist im Ganzen sehr kurz; das sind die Zeitgestalten, die immer nur Fragmente des Ganzen sind. Wir tragen in uns das Urbild dieses Ganzen. Das ist eben die Potenz; die Potenz weiß, wie das Vollendete einmal aussehen könnte. Deswegen kann sie sich von Fragment zu Fragment entfalten.

Henn Wie sähe das Vollendete für die anthroposophische Weltbewegung aus?

Gruwez Dass die Welt ganz ‹imprägniert› worden ist von dem, was Menschheitszukunft ist, von dem, was es heißt, Mensch zu werden. Anthroposophie ist dann ganz Welt, nicht mehr von der Welt verschieden. Sie ist eine ständige Tat, die gelebt wird. Und wenn ich ‹Aufgabe› dazu sage, dann lege ich es schon wieder zu fest. Aber vielleicht wäre die Aufgabe der anthroposophischen Bewegung heute, die Möglichkeit, Mensch zu werden oder zu sein, zu erhalten. Denn wir stehen an einem Punkt, an dem wir immer vehementer darin behindert, gehemmt werden. Wir können immer weniger unsere Menschlichkeit zum Ausdruck bringen, sie in der Welt zeigen und leben. Es sei denn, wir haben den Mut zum Fragment. Damit meine ich, kleine Zwischenmomente miteinander oder kleinere Zusammenhänge zu weben, in denen die Möglichkeit des Menschwerdens erhalten bleibt. Das gelingt nicht mit ausgearbeiteten Formen. Dann wäre es schon tot. Ich erlebe dennoch, dass es das weltweit innerhalb, aber auch außerhalb der anthroposophischen Szene gibt: dieses Aufblühen kleiner, schlichter Gebärden eines menschlichen Miteinanders.

Raum für die anderen schaffen

Henn Jetzt haben wir von der anthroposophischen Weltbewegung gesprochen, die sich im Kern um das Schöpferische dreht, um die Schöpferkraft des Menschen. Im Ideal: Der Mensch wird ganz und gar schöpferisches Wesen. Es gibt aber viel mehr Menschen, die das nicht sehen und die sich dafür nicht interessieren, die einen ganz anderen Lebensweg einschlagen. Wie stellen wir uns in diesen Kontext – wie gelingt die Co-Kreation mit allen Menschen?

Gruwez Die schöpferische Potenz ist ein Geschenk der Inkarnation, das heißt, dass alle Menschen sie in sich tragen. Es gibt keinen Menschen, der nicht, insofern er Mensch ist, über eine Potenz verfügt. Alle Menschen haben dieses schöpferische Vermögen, ob sie daraus etwas schaffen oder nicht. Diese Potenz stiftet unser aller Würde. Niemand ist davon ausgeschlossen. Darauf baut auch Anthroposophie, indem sie die Instrumente darbietet, dies erkenntnismäßig zu durchdringen. Das heißt, nicht nur begreifen, sondern erkennen und erleben! Im gemeinsamen Prozess zählt die Schöpferkraft jedes einzelnen Menschen. Für mich bedeutet das, wenn ich mitgestalte, zählt nicht nur meine Vision, sondern wie ich aus meiner Vision heraus Freiraum für die Vision meines Mitmenschen schaffe. Die Zeitgestalt, die eine Schöpfung oder Bewegung eine Zeit lang annimmt, bevor sie wieder verschwindet, sollte so viele verschiedene Stimmen wie möglich in sich tragen und an sich mitarbeiten lassen. Auch wenn das heißt, dass die Gestaltung Fragment bleibt. Der Mut zum Fragment, zum Unvollendeten lässt in uns die Menschlichkeit wachsen und uns zu Mitschöpfenden werden.

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