An der Herbsttagung der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum, vom 6. bis 9. Oktober, ging es um Polaritäten im Menschen. Die Entdeckung: Was im Organismus als Gegensatz das Leben bestimmt, zeigt sich im Umgang mit Technik als ein pulsierendes Schwingen zwischen Unter- und Übernatur.
«Im Rhythmus von Wachen und Schlafen spüren wir alle ein Verwobensein der beiden Pole.» Mit diesem Hinweis hat Johannes Wirz die Teilnehmenden bei der Begrüßung eingestimmt auf die Art von dynamischen Polaritäten, um die es beim Austausch an dieser Tagung geht. Beide Pole können – ins Extrem getrieben – Schaden anrichten, aber in einem balancierten Wechselspiel mit gleitenden Übergängen ergänzen und befruchten sie einander.
Ein Übungsfeld zur Wahrnehmung von Unsichtbarem
Der erste Tagungsabend war dem Goetheanismus gewidmet, der Schulungsmethode, die das Wahrnehmen der Sinneswelt in eine bewusste Beziehung bringt mit dem Wahrnehmen im Inneren des Menschen – und damit als Eintrittstor für die Anthroposophie gelten kann. Vesna Forstneric Lesjak hat am Beispiel des Alpenveilchens (Cyclamen europaeum) eindrücklich dargestellt, wie sich eine Pflanze polar zum Urbild des Pflanzlichen verhalten kann: Wo sich die meisten Pflanzen sofort nach der Keimung in die senkrechte Ausrichtung zwischen Himmel und Erde begeben, lässt das Alpenveilchen seinen Stängel in der Erde zur Kugel anschwellen (Abb. 1). Wenn viele Blütenpflanzen im Sommer ihre Blüten und Früchte zur Reife der Sonne zuwenden, neigt das Alpenveilchen im August, wenn es auf den Herbst zugeht, seine Blüten nach unten und die Stängel der reifenden Früchte kreisen über den Winter, zum Frühling hin, spiralig auf die Erde zu. Kräuter, Sträucher und Bäume, die ein hohes Alter erreichen, bilden normalerweise holzige Strukturen aus – das Alpenveilchen aber erhält sein Speicherorgan, die Knolle, saftig und weich, auch wenn es bis 60 Jahre alt werden kann. Diese Pflanze führt uns einen spielerischen Umgang mit den Gestaltbildungsprozessen vor, der in vielerlei Hinsicht polar zur ‹normalen› Pflanzenentwicklung verläuft. Gleichzeitig zeigt sie in der Gestalt- und Substanzbildung, die anhand von Steigbildern aus verschiedenen Reifestadien und Jahreszeiten dargestellt wurde, dass mit großer Kraft die Mitte zwischen quellendem Wachstum und formender Gestaltung gehalten wird. Kann sie uns dabei Vorbild werden zur Heilung von ausufernden Prozessen zwischen Licht und Dunkelheit im Menschen? Vesna hat im Vergleich mit anderen Arten von Cyclamen diese balancierende Kraft als heilend bei manisch-depressiven Zuständen erkannt und daraus ein Heilmittel hergestellt.
Wie Rudolf Steiner Polaritäten in künstlerische Gestaltung umgesetzt hat, wurde von Hansjörg Palm anhand der Architektur im ersten und zweiten Goetheanum-Bau, in umliegenden Gebäuden und Landschaftsgestaltungen herausgearbeitet (Abb. 2). Die prozessuale Ebene, wie sie uns in der Metamorphose der Pflanze vorgeführt wird, findet sich im Menschen in der steten Verwebung von Denken, Fühlen und Wollen. Im Ersten Goetheanum wurde mit der kleinen Kuppel als Bühne und der großen Kuppel als Zuschauerraum eine Situation geschaffen, in der Offenbaren und Entgegennehmen von geistigen Inhalten ermöglicht wurden. Ein sozialer Prozess aus dem Wesen des Menschen ist in der Architektur als ‹Doppelkuppelprozess› zur Anschauung geworden: die polare Geste von Anregen und Aufnehmen, die nicht nur zwischen Menschen, sondern in Wahrnehmung und Denken in jedem Menschen stattfindet, insofern alles Wahrzunehmende – das sinnlich Erscheinende ebenso wie Gefühle oder ein im Bewusstsein auftauchender Gedanke – an uns zunächst als Offenbarung herantritt, die wir uns denkend aneignen und in Erkenntnis verwandeln.1
Beim Glashaus sind zwei gleich große Kuppeln durch einen Mittelbau getrennt – hier wurden in künstlerischer Tätigkeit ‹Lichtbilder› für den Großen Saal gestaltet. Die Metamorphose der Formen findet sich im Heizhaus, wo Wärme entsteht, in geschrumpften Kuppeln, zwischen denen der Architrav rhythmisch in die Höhe schießt; und schließlich in der Landschaftsgestaltung am Felsli, wo der kleine und der große Kreis als Projektion der beiden Kuppeln – Offenbaren und Erkennen – ineinandergefügt sind. Auch im Zweiten Goetheanum finden sich die ‹Kuppeln› in metamorphosierter Form: Der Kubus schiebt sich in das Trapez des Großen Saals. Es entsteht Raum für den Doppelkuppelprozess – ein meist unbeachtetes Prinzip des Geisteslebens, das immer neu aktiviert werden muss, um Entwicklung zu leben.
Goethe hat nach Rudolf Steiner die Geistbetätigung entdeckt, durch die das Organische vom Menschengeist in seiner lebendigen Bewegung erfasst werden kann. Diese bildet ein Übungsfeld zur Wahrnehmung von unsichtbaren, aber immer wirkenden Kräften. In der Rückschau wurde im Plenum deutlich, dass eine solche Betätigung dem Menschen Zugang zur übersinnlichen Natur bieten kann, als Gegengewicht zu der Beschäftigung mit der digitalen Technik, die die meisten von uns mehrere Stunden am Tag in Atem hält.
Die digitale Welt – Möglichkeiten, Versuchungen, Gegengewichte
Wie die Möglichkeiten des World Wide Web entstanden sind, hat Uwe Buermann durch eine historische Darstellung der Technikentwicklung ins Bild gebracht. Die materielle Grundlage für die Internettechnologie ist die Nutzung von Silicon, das zur Herstellung von Chips bis heute unter enormem Energieaufwand bei 1400 Grad geschmolzen wird. Dabei geht es um die Reinigung der Substanz von Sauerstoff, die nur in extrem abgeschlossenen Laborräumen erreicht werden kann und unter natürlichen Bedingungen nicht vorkommt. Die digitale Technologie, die unsere Sinne in vielfältiger Weise fesselt, wird durch die gleiche Substanz ermöglicht, die in der biodynamischen Landwirtschaft zur Vermittlung kosmischer Kräfte eingesetzt wird und von der Steiner sagte, dass sie als Heilmittel alles, was sich in abnormen Zuständen der Sinne zeigt, merkwürdig beeinflusst!2
Ganz aus persönlicher Erfahrung schilderte Uwe Buermann die Ziele, die zunächst mit dem Internet verbunden waren: Im Anfang waren die Nutzer eine kleine, verschworene Gruppe, die das Ideal verfolgte, dass jeder sein Wissen mit jedem anderen weltweit teilen kann – ein Gegenmittel gegen jegliche Diktatur, die immer auf dem bewussten Vorenthalten von Information beruht. Mit dem kostenfreien WLAN und der Google-Suchmaschine für alle setzte aber eine millionenfache Nutzung ein, die manche Menschen in Versuchung führte, die Möglichkeit, alle zu informieren, für ihre eigenen Zwecke einzusetzen, zum Beispiel durch gezielte Falschinformation. Oder indem das, was jeder Einzelne von sich preisgibt, gespeichert und zur Erstellung eines Profils verwendet wird, um personalisierte Werbung zu betreiben – Weltmachtträume von Konzernen, getrieben von ‹ahrimanischen› Impulsen, werden im Internet umgesetzt. «Das Internet ist nicht an sich schlecht, es ist nur ein Spiegel der Menschheit», so der Referent. Wie durch das Internet auch Kräfte wirken, die Menschen anregen, sich durch die Fantasie aus ihrer Wirklichkeit herauszuheben, und dabei das Interesse am Mitmenschen untergraben – ‹luziferische› Kräfte –, schilderte er eindrücklich am Beispiel der sozialen Medien, wo jeder die Möglichkeit hat, die Person zu sein, die er sein möchte, unabhängig davon, wer er ist. Für Jugendliche sieht er hier die Gefahr einer Entfremdung von sich selbst und von den Mitmenschen.
Wenn wir bedenken, wie viele Stunden unseres Alltags wir mit digitalen Medien interagieren, sind wir dieser Gefahr alle ausgesetzt, sagte Andrew Linnell. Sein Ziel ist, im technologischen Zeitalter Gegengewichte aufzuzeigen, die die verhärteten Strukturen der menschengeschaffenen Mechanik und das zugehörige automatisierte Denken in fruchtbare Nahrung verwandeln können. In der Technik liegt die Möglichkeit, den menschlichen Willen durch fortgesetzten Nichtgebrauch zu zerstören, indem wir zum Beispiel mit minimalem Bewegungsaufwand in der ganzen Welt herumkommen können – virtuell, aber auch real. Das Verstandesdenken, das die technische Entwicklung ermöglicht hat, ist aber gleichzeitig die Voraussetzung der Freiheit, Entscheidungen zu treffen. Diese Freiheit erlaubt uns, einen christlichen Weg der Mitte zu beschreiten. Linnell sieht den Menschen als Teil einer sich gemeinsam entwickelnden Dreiheit mit ‹Luzifer› und ‹Ahriman› in gegenseitiger Durchdringung. Das bedeutet, dass die Souveränität zu entwickeln ist, mit beiden umzugehen, ohne ihren Versuchungen zu erliegen. Voraussetzung ist, dass wir nicht als eiserne Notwendigkeit auffassen, was uns als das technisch und ökonomisch Machbare angepriesen wird. Um in der Gegenwart sinnstiftend aktiv zu sein, müssen wir uns – so der Referent – der Verantwortung bewusst werden, dass wir die Zukunft mitgestalten. Es gelte an der zukünftigen Weltentwicklung, die er in die weite Zukunft hinein anhand von Steiners Beobachtungen grafisch darstellte, in einer Art Kollegialität mit den gefallenen Engeln mitzuarbeiten.
Am Abend konnten wir erfahren, was es bedeutet, aus der vertrauten Betriebsamkeit auszusteigen, das unersättliche von außen Aufnehmenwollen, das uns Gewohnheit ist und leider auch den Tagungsbetrieb begleitet, einmal mit der Gelegenheit zu vertauschen, in Stille nach innen zu lauschen. ‹In Erlebnisse eintauchen› hieß die innovative Veranstaltung, die eine Gruppe um Andrea de la Cruz von der Jugendsektion den Teilnehmenden geschenkt hat – und der Titel war Programm. Die Sinne wurden geweckt, zunächst durch Verzicht: durch Schweigen und Dunkelheit. Mit solchermaßen geschärften Sinnen durften wir in gedämpftem Licht, durch behutsame Berührung, zarte Musik und leise gesprochene Worte ein tiefes Erlebnis menschlicher Zuwendung erfahren. Oder am zweiten Abend, welche Geheimnisse die Natur uns in der Dunkelheit bereithält, wenn wir zu lauschen vermögen.
Agrikultur zwischen Unter- und Übernatur
Der dritte Tag der Konferenz stand im Zeichen der Landwirtschaft, die die physische Grundlage der Ernährung bietet. Die Landwirtschaft bewegt sich extrem im Spannungsfeld zwischen Natur und Technik – exemplarisch ausgedrückt im Titel des Beitrags von Tom Saat: ‹Ohne Technik keine Produktion, ohne Geist keine Landbaukultur: Unternatur zur Gestaltung der Übernatur nutzen›. Tom Saat weiß als Bodenkundler und nach bald 30 Jahren als Landwirt auf einem biodynamischen 200-Hektar-Betrieb in den Niederlanden, wovon er spricht, wenn er sagt, dass die Ersetzung menschlicher Arbeit durch Technik dazu führen kann, dass die landwirtschaftliche Praxis mechanisch betont wird. Technik kann aber auch zur Befreiung eingesetzt werden: Seit 2007 erspart sich Tom mithilfe der GPS-Technologie viele Stunden konzentrierter Arbeit auf dem Traktor beim Pflügen, Säen und Hacken. Routinearbeit wird beim ‹precision farming› von Maschinen ausgeführt. Der Landwirt kann sich um das Wesentliche kümmern – den lauschenden und bewussten Umgang mit der lebendigen Natur, wie etwa die hofgerechte, mit biodynamischen Präparaten angeregte Veredelung des Düngers. Die Essenz des landwirtschaftlichen Betriebes ist für Tom ein weitgehend geschlossener Kreislauf, der aus sich selbst heraus Produkte abgeben kann. Dieses Ideal verfolgt er so konsequent, dass er künftig auch den Verzicht auf den Zukauf von fossiler Energie anstrebt. Tom nutzt Technologien, ohne ihrer Faszination zu verfallen – anders gesagt, er setzt ‹Ahriman› sozusagen als Mitarbeiter ein, achtet aber in liebevollem Umgang mit ihm darauf, dass dieser sich nicht in die Betriebsleitung einmischt.
Martin von Mackensen schilderte, wie in der biodynamischen Landwirtschaft die polaren Gesten von tätiger Arbeit und Erkennen in der Natur in einem speziellen Verhältnis stehen: Der Handelnde erfährt im pflegenden, träumenden Verbundensein mit der Erde Wahrnehmungen, die ihn in der besinnenden Reflexion zum Korrigieren des künftigen erneuten Handelns führen. Im empfindenden In-der-Natur-Stehen leuchtet die Gelegenheit auf, im Jetzt zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Tun und Erkennen finden in Gestaltung und Pflege in einer solchen Agrikultur in enger Verwebung statt. Das erinnert daran, dass der am ersten Abend erwähnte «Doppelkuppelprozess» von Offenbaren und Vernehmen – der kleine und der große Kreis – in der Landschaftsgestaltung unter freiem Himmel so dargestellt wird, dass beide Kreise ineinandergefügt sind. Polare Gesten finden sich in verschiedenen Dimensionen der landwirtschaftlichen Arbeit. So ist diese immer auf ein Ziel gerichtet, obwohl sie nur ein Angebot ist: Der Landwirt schafft Pflanzen und Tieren die Bedingungen, um sich entfalten zu können. Ob sie es wirklich tun, hängt nicht mehr von ihm ab. Das Ziel wird also stetig korrigiert durch das, was tatsächlich im Zusammenspiel von Klima, Boden und Kosmos real wird. Das Wachstum der Pflanzen wird durch die Tätigkeit der Gärtnerin in Richtung der Nährhaftigkeit gelenkt, in der Auflösung der Gestalt entfaltet sich Reproduktion. Das Geschenk des Kuhfladens gilt es in seiner Potenzialität zu erkennen, die im Prozess der Entformung in die Nährhaftigkeit des Futters eingeht und schließlich der Kuh ermöglicht, Milch hervorzubringen. Der Land bebauende Mensch steht mitten im Wechselspiel von auflösenden und verdichtenden Kräften, von Leben und Tod.
Sich selbst verwandeln
Die Natur führt uns den schöpferischen Umgang mit diesen Polaritäten vor. Unsere Wirklichkeit sieht aber so aus, dass wir uns als Menschheit in einer Krise befinden, die sich in vielfältiger Weise zeigt und darin besteht, dass der tatsächlich praktizierte Umgang mit der Technik die Grundlagen des Lebens zerstört, aus dem sie entsprungen ist. Die Kluft zwischen dem, was politisch, das heißt menschheitlich getan wird, und dem, was getan werden müsste, um diese Katastrophe einzudämmen, wird immer größer. Die Tatsache, dass kein Einzelner das verhindern kann, kann auch umgekehrt interpretiert werden: Jeder und jede von uns müssen dazu beitragen. Das heißt, keiner kann so bleiben, wie er ist. Um sich zu wandeln, bedarf es einer sachlichen Selbsterkenntnis. Dieses Motiv griff Ruth Richter im Abschlussvortrag anhand des dritten Mysteriendramas von Rudolf Steiner auf. Die gleiche Kraft – die ‹ahrimanische›, das materieverhaftete Verstandesdenken –, die ohne Gegengewicht im blinden Glauben an technische Lösungen teilnahmslos und todbringend über Mensch und Tier hinwegschreitet, befreit den Menschen aus den Fängen der ‹luziferischen› Kräfte, die ihn mit wirklichkeitsfernen Idealen blenden. Dazu gehört auch die Auffassung, es genüge, wenn ich im Geistigen Fortschritte mache. Für meinen verantwortlichen Umgang mit der Menschheitskrise ist es zum Beispiel wenig relevant, an wie vielen Klimakonferenzen ich teilnehme, sondern er drückt sich darin aus, mit welchen Verkehrsmitteln ich mich dorthin begebe.
Vier Impulse wurden aus den gemeinsamen Gesprächen herausdestilliert, die den Tanz, das heißt einen bewussten und kreativen Umgang mit den Polaritäten von Natur und Technik, befördern können: Als Zeitgenosse anerkennen, dass ich persönlich zuständig, nicht nur betroffen, sondern auch verantwortlich bin für das, was auf der Erde geschieht; ein lauschendes Vernehmen vom Sinn unserer individuellen Existenz, der uns nur in unserem Inneren erscheinen kann; das unablässige kritische Abtasten unserer Überzeugungen und Meinungen aus verschiedenen Perspektiven; und schließlich die Aufmerksamkeit für den Mitmenschen. Auch hier gilt: «Lauschen, ohne schon zu wissen, was es zu ‹hören› gibt.»3
Titelbild Farbkreis von Julius Hebing