Der Leib wird Wort

Es war eine Mysterienweisheit, was Rudolf Steiner am Ende seines Lebens ausgesprochen hat: Er hielt 19 Vorträge über das Theater, die es ermöglichten, seine Lehre von Reinkarnation und Karma künstlerisch zu offenbaren.


Die fünf griechischen olympischen Disziplinen, die Rudolf Steiner als Grundlage für ein zeitgenössisches Theater nannte, sollten die Schauspielenden mit den modernen Mysterien vereinen. Diese neue Form der Einweihung, die er mit der Weihnachtstagung 1923/24 gab, hat ihre Wurzeln in den alten Mysterien, aus denen auch das Theater hervorgegangen ist. Diese moderne Initiation verbindet den Schauspieler, die Schauspielerin mit kosmischen Wahrheiten und hilft, Lieblingsideen, Gewohnheiten und Erwartungen aufzugeben. Aus esoterischer Sicht dienen diese neuen Mysterien auch dazu, dem Doppelgänger des Schauspielers dabei zu helfen, der spirituellen Kraft des Wortes statt seinen subjektiven biografischen Emotionen zu dienen. Dies geschieht durch die Führung dieses Schattenwesens zunächst durch den Körper (griechische Gymnastik), dann in die Seele und schließlich zum Geist, wo es zur dynamischen Bewegung der Laute des Wortes wird. Anschließend steigt es verwandelt durch die Seele zurück in den Körper. Der Körper wird zum Wort. Es mag für diejenigen, die diesen Prozess nicht erlebt haben, vielleicht unverständlich klingen, doch es ist tatsächlich ein Weg. Es ist ein Weg, den ein Eingeweihter vom Rang Rudolf Steiners ins Leben rufen konnte.

Es gibt hier nicht genug Platz, um die Weisheit zu beschreiben, die er kurz vor seinem Tod in seinen letzten Zyklus von 19 Vorträgen einfließen ließ. Hier mag es genügen, zu sagen, dass sie kraftvoll genug sind, um Theaterschaffenden auf der ganzen Welt zu helfen, unabhängig von Glauben oder Sprache ihre Kunst zu erneuern. Es ist ein offensichtlich exoterisches Buch, das jedoch aus esoterischer Weisheit entstanden ist. Jetzt, 100 Jahre später, können wir uns dazu inspirieren lassen, den Staub wegzublasen, die Vorträge noch einmal zu prüfen und zu sehen, ob sie heute noch Relevanz haben. Ich weiß, dass viele in Sprachgestaltung Ausgebildete den Schauspielkurs in Waldorfschulen, Workshops oder bei der Regie von Laientheatern sinnvoll genutzt haben. Meines Wissens wurde er jedoch selten professionell bei der Regie eines Theaterstücks eingesetzt. Für mich ist es ein vergleichbarer Unterschied zwischen üblichem Theater und dem, was sich aus Rudolf Steiners ‹Dramatischem Kurs› ergeben könnte, wie zwischen Tanz und Eurythmie.

‹Der Hüter der Schwelle›, Mysteriendrama von Rudolf Steiner, 2010. 7. Bild. Maria: Catherine Ann Schmied, Hüter: Barbara Mraz, Johannes: Jens Bodo Meier. Foto: Jochen Quast.

Warum der Kurs verborgen blieb

Aus Gründen der Transparenz, auch historisch, ist es wichtig, in die Geschichte dieses Vortragszyklus einzutauchen und herauszufinden, warum es mit ihm nicht gelungen ist, das Rückgrat des anthroposophisch inspirierten Theaters zu bilden. Die Sprachgestaltung wurde zum bestimmenden Faktor, während die Schauspielerei allein auf das Talent der Spielenden sich stützen konnte. Die Schauspielkunst wurde nie in gleichem Maße geschult wie die Sprachgestaltung. Das liegt vor allem daran, dass es keine Lehrer oder Lehrerinnen gab, die auf dem im Kurs dargelegten Weg geschult wurden. Eine Antwort könnte darin bestehen, dass die emotionale Seelenkonstitution eines Schauspielenden spezifisch ist und sich stark unterscheidet von allen, die sich hauptsächlich mit Sprache befassen. Die dramatischen Künste sind stärker in den dionysischen Mysterien verwurzelt, die ihrer Natur nach auf Erfahrungen der Doppelgänger basieren. Diese Beziehung allein durch die reinigende Kraft der Sprache zu unterdrücken oder zu verbannen, bedeutet, die Kreativität der Spielenden zu ersticken, ihren Karmafluss einzudämmen und zu einer tiefen, wenn nicht sogar traumatischen Frustration zu führen. Es gibt viele, die so beschädigt, verlassen und auf der Strecke geblieben sind. Rudolf Steiner hat dies, wie ich meine, zutiefst verstanden. Immer wieder fordert er im Vortragszyklus, die Spielenden frei zu lassen, selbst bestimmen zu lassen, wie sie Hinweise interpretieren.

Vom Schrei nach Ehrlichkeit zum Ruf nach Geist

An dieser Stelle ist es vielleicht gut, meine persönliche Sicht auf die Lage, in der wir uns heute zum ‹Dramatischen Kurs› befinden, darzulegen. Ich wurde im Herz der englischen Schauspieltradition nach dem ‹Stanislawski-System› ausgebildet. Daher verstehe ich zutiefst, was dieser Strom für die Theaterkultur bedeutet. Er hat sich mehr oder weniger über die ganze Welt ausgebreitet und in der Filmkunst seinen Höhepunkt erreicht. Das Bedürfnis, als normal, real, verletzlich und vor allem persönlich gesehen zu werden und sich von allem zu lösen, was als altes melodramatisches Pathos erscheinen könnte, darin liegt der Schrei nach Ehrlichkeit. Er ermöglicht es den Zuschauenden, ihr normales tägliches Selbst zu erkennen und zu bestätigen. Alles andere erschien lügenhaft. Sie wollen das Publikum aus seiner Selbstgefälligkeit reißen und seine Erwartungen an das, was Theater ist oder nicht ist, durcheinanderbringen. Damit tun sie etwas, was die Malerei der Moderne auch vollzieht: die Bilder lösen sich von dem, was das Auge sieht und erwartet. Rudolf Steiner thematisiert dies in seinem ersten Mysteriendrama im Standpunkt der Figur ‹Estella›.

Eine der Aufgaben des Theaters besteht darin, nicht nur einen Spiegel vorzuhalten, sondern auch ein Fenster zu öffnen, das Unerwartete, das aus den geistigen Welten entgegenkommt, anzunehmen und die geistige Natur des Menschen zu offenbaren. Der Schauspielkurs hätte helfen können, auf dieser Welle weg vom Naturalismus zu reiten und einen Stil zu entwickeln, der aus der Inspiration der Geisteswissenschaft geboren wurde. Das ist nicht geschehen, obwohl man einwenden kann, dass ein Zweig des Kurses, die Sprachgestaltung, einen zumindest stilisierten Gebrauch des gesprochenen Wortes kultiviert hat. Wäre die Schauspielkunst in den letzten 100 Jahren in gleichem Maße vorangetrieben worden wie die Sprache, so ist meine Überzeugung, hätte sich eine Form des Theaters entwickelt, die sich im Prozess ständiger Metamorphose im Geist der Zeit befunden hätte. Geführt vom Erzengel Michael hätte weltweit ein Echo erklingen können, wenn ein solch inspiriertes Theater sich durch die verschiedenen Volksseelen in vielen Erscheinungsformen offenbart hätte – inspiriert von der kosmischen Kraft des gesprochenen Wortes.

‹Ein Sommernachtstraum› von William Shakespeare, 1969. Oberon: Anita Zingg, Puck: Margarethe Proskauer. Foto: Unbekannt.

Die Siegel aufbrechen

Der ‹Dramatische Kurs› wurde zu einem Buch mit sieben Siegeln, von dessen Lektüre von den meisten anthroposophischen Sprachlehrern und -lehrerinnen der ersten Generation abgeraten wurde. Dies ist verständlich, denn es bedeutete einen Bruch mit dem traditionellen Schauspielstil, der sich auf einen eher rezitativen oder deklamatorischen Stil konzentrierte und eine Grundlage erforderte, die auf dem Körper und nicht auf der Sprache basierte, aus der die Erneuerungsimpulse hervorgehen sollten. Der Körper wurde damals und wird noch immer als etwas Gefährliches, Unzuverlässiges angesehen, das die Spielenden in unerwünschte Gefühle versetzen könnte, die die Reinheit der Sprache beeinträchtigen würden. Rudolf Steiner hingegen sah im Körper die Grundlage für das Wort, was wiederum die Transformation des Körpers des Schauspielers ermöglichen würde, zunächst durch die fünf griechischen olympischen Disziplinen.

Der Kurs ist voll von den erstaunlichsten Beispielen für einen neuen Theaterstil und führt uns durch Beispiele in Regie, Kostümen, Beleuchtung und Meditation und durch die Art und Weise, wie wir das gesprochene Wort aus dem Naturalismus in eine stilisierte Rede verwandeln können. Von den vielen Schritten, die Rudolf Steiner den Schauspielern und -spielerinnen zur Vorbereitung auf ihre Rolle gegeben hat, greife ich einen heraus. Dabei ist es nicht leicht, einen Prozess zu beschreiben, der, um verstanden zu werden, gefühlt und erlebt werden sollte. Am Ende des ersten Vortrags stellt Rudolf Steiner die Disziplinen Laufen, Springen, Ringen, Diskuswerfen und Speerwerfen des olympischen Fünfkampfs vor. Als Beispiel nehme ich das Ringen, das sozialste, dynamischste und subjektivste der fünf, das die Kraft des Herzens in all seinen Konnotationen entwickelt und die Vorbereitung für den Dialog darstellt, auch für alle körperlichen Regungen auf der Bühne, was die sechs Gesten der Sprache betrifft. Letztere sollten zunächst durch Zuhören geübt werden, «[…] wenn wir auf diese Weise vorgehen, werden wir ein richtiges Gefühl für die Formung der Sprache erlangen, während sich bei der umgekehrten Methode ständig Schlussfolgerungen willkürlicher Natur aufdrängen würden – vorausgesetzt, ich meine, wir würden mit dem Wort beginnen.»

Eine typische Probe würde folgendermaßen aussehen:

1. Üben Sie eine Dreiviertel Stunde lang griechischen und römischen Ringkampf. Das ist Ganzkörper-Ringen auf Matten, nicht nur das Berühren und Bewegen der Hände. Dadurch wird die Empfänglichkeit für die Regungen des Gegenübers und der Umgebung enorm gesteigert. Der Ringkampf hat eine zweifache Funktion. Er ist die Vorbereitung auf alle Bühnengesten, eine Vorbereitung auf die Gebärde in der Sprache.

2. Während sich die Schauspielenden unmittelbar im kraftvollen Nachklang des Ringens befinden, üben sie in zwei verschiedenen Phasen: Erstens, wie sie physisch auf jede Situation auf der Bühne reagieren, und zweitens, wie sich die Absicht und Emotion der Worte, die sie ausführen sollen, in Gesten offenbaren, ohne selbst zu sprechen. Ihr Text wird von jemandem außerhalb gesprochen. Das gesamte Stück wird mit dieser externen Stimme geprobt, sodass die Schauspielerinnen und -spieler ihre Gesten frei üben können, ohne dass sie durch das Auswendiglernen von Textzeilen oder der Sorge um die Wiedergabe ihrer Rede behindert werden. Es liegt eine tiefe spirituelle Weisheit in der Trennung von Sprache und Geste in diesem Stadium der Probe, die mit der Entwicklung spiritueller Imaginations- und Inspirationsfähigkeiten in Verbindung gebracht werden kann; die Gebärde inspiriert und schafft für das Publikum wahre Imaginationen, die Inspiration inspiriert die Musikalität der Sprache und ermöglicht es dem Publikum, das gesprochene Wort als inspirierten Klang zu hören, der von intellektuellen Inhalten befreit ist.

Nach dem Ringen folgen Diskus- und Speerwerfen, die wie oben ebenfalls klare Übung erfordern.

In der letzten Phase sprechen die Spielenden selbst, jedoch zunächst ohne die physischen Gesten, sondern lassen die ätherische Erinnerung an die physischen Gesten in die Sprache einfließen. Diese Phase ähnelt der Ausübung der Kunst der Sprachgestaltung, bei der die Gebärden beginnen, sich in den vier Klanggruppen zu offenbaren: Blasen, Aufprall, Fließen und Vibrieren, jedoch ohne physische Geste. Schließlich sehen wir in der Aufführung, dass die Schauspieler und -spielerinnen sich weder ganz in die Rede noch in die Bühnengeste hineinversetzen. Durch diese Trennung entsteht ein Raum, in dem das Publikum die Möglichkeit hat, das Stück selbst zu erleben. Ihr Auge ermöglicht es ihnen, den Inhalt durch Körper und Geste zu verstehen, ihr Ohr ermöglicht es ihnen, zu hören, wie der Inhalt durch Geste verändert wurde, und lässt so die Wahrheit und Schönheit der Laute in der Sprache erfahren. Zwischen diesen beiden ist das Publikum von den irdischen Vorstellungen befreit und kann dadurch die Magie erleben, die der Dichter oder die Dichterin verspürte. Was so von jenseits widerhallt, das hilft jedem im Publikum zu erkennen, wer er oder sie wirklich ist: ein geistiges Wesen!

Möge der ‹Dramatische Kurs› ein Wegweiser für eine neue Generation von Schauspielern und Schauspielerinnen sein, die ihre Kunst als Offenbarung des kosmischen Wortes sehen wollen, die es ihrem Publikum ermöglicht, sich der Schwelle der unsichtbaren Welt zu nähern und sie tatsächlich zu überschreiten, um von dort aus die Führung zu erfahren, nach der es sich so sehr sehnt.


‹Geste› und ‹Gebärde› wird in dem ursprünglich englischen Artikel synonym verwendet.

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