Der Leib ist ein Erlebnis. Durch ihn findet das Ich sein Schicksal.
Zu Beginn eine kurze Klärung darüber, wie ich Körper und Leib in diesem Text verstehe: Als Körper gelten die physischen Bedingungen. Als Leib gilt das belebte, persönliche Sich-Ausdrücken, Sich-Zeigen durch eine subjektbezogene Entwicklung; der Leib wird, der Leib ist mein. Den Körper kann ich sehen und haben, den Leib muss ich fühlen und durch mein Sein erfüllen.
Durch den Leib bildet sich Heimat
Der Leib ist Heimat: Ich bin ganz innen, ganz bei mir. Ich wohne in mir.
In der Berührung begegne ich der Welt. Durch die Haut bin ich mit dem Außen verbunden und gleichsam davon getrennt. Wie tief geht streicheln, eine Hautberührung? Wie tief können wir es erleben und spüren uns dadurch selbst – spüren uns als Mensch mit uns selbst verbunden?
Ich mit mir, mich in mir. Der Leib ist der Raum der Berührung nach innen.
Wenn ich in Begegnung gehen möchte, mache ich das zuerst mit meinem Leib. Ich öffne mich. Ich habe innerlich einen Öffnungsmuskel, der sich im Außen sichtbar zeigt. Ich gehe auf etwas oder jemanden zu. Ich begegne der Welt mit meinem Leib und vertraue mich ihr an. Somit wird der Leib die Berührung zur Welt. Ich erfahre am Leib die Resonanz mit der Welt.
Durch den Leib bildet sich Vertrauen
Ich mache mich empfänglich auf eine Weise, die für mich stimmig ist: nicht komplett verschlossen und auch nicht komplett offen und schutzlos, sondern mit meiner inneren Verbundenheit zu mir, vertrauend.
Dieses Vertrauen verbindet mein Leibliches mit meinem Gefühl und macht es spürbar. Es berührt mein Empfinden, mein Wohlbefinden oder mein Missempfinden. Es führt mich weiter zu meinem Denken, zum Erkennen meines Befindens. Daraus folgt eine pulsierende Dynamik, die als Polarität von Leiblichem und Erkennendem durch die Herzregion – die Fühlensebene – ihre Vergewisserung, ihre Verbundenheit mit meinem Menschsein erfährt.
Durch den Leib bildet sich Entwicklung
Dieses Geschehen macht deutlich, dass eine Trennung von Leib und Geist unmöglich ist.
Denn – darauf stößt uns Rudolf Steiner – der Bewegungssinn ist unser Schicksalssinn! Das kann ich so verstehen, dass wir durch unsere leibliche Bewegung uns intuitiv in unser Schicksal hineinbewegen, unseren roten Faden flechten, indem wir Schritt rechts, Schritt links, Schritt rechts … den Fuß auf unseren Weg setzen – und es ist richtig, im Sinne des Schicksals!
Durch den Leib bildet sich Identität
Wenn wir jede Begegnung, die immer eine Bewegung ist, auf der Grundlage des Leiblichen als eine schicksalsbildende Bewegungsimprovisation, und nicht als wörtlichen Dialog, betrachten und erleben können, dann liegt ein achtsames Verbundensein mit meiner unbewussten Intention, mit meinem biografischen roten Faden, dahinter.
Ist das schon Geistiges? Oder ist das Geistige der Schritt, wenn ich mir durch eine spirituelle Praxis bewusst erkennend eine innere Versicherung meines Seins und meines Weges erschaffe? So wäre der Leib Träger meiner Erkenntnisfähigkeit.
Hierfür müssen wir körperlich hineinspüren und uns in einen bestimmten körperlichen Zustand bringen – hier und jetzt sein durch Atmen, innere Ruhe, eine stille Umgebung, ein Kerzchen, einen Spruch – der uns zum inneren offenen Prozess und zu geistiger Erkenntnis führen kann.
Durch den Leib bildet sich Gegenwart
Die drei physischen Raumdimensionen, die Steiner musikalisch mit Melos, Rhythmus und Takt verbindet, lassen sich auf ein leibliches Erleben übertragen. Unsere leistungsoptimierte Grundhaltung ‹höher, schneller, weiter›, die auch körperlich-leibliche Realität besitzt, sollte sich ändern zu ‹tiefer, langsamer, näher›, wenn wir heute unseren Leib ergreifen und für unser Ich wirksam machen wollen.
Ein Versuch:
‹Tiefer› zeigt sich in der Polarität von oben und unten. Eine Bewegung zwischen Leichtigkeit und Schwere, was Strecken und Beugen des Körpers sein kann. Hier zeigt sich eine Dimension des physischen Leibes.
‹Langsamer› ist mit Tempo und Rhythmus verknüpft und mit der Raumdimension des Vorne-Hinten. Auf der leiblichen Ebene ist es das Fokussieren und Entspannen, eine Dimension des Ätherischen des Leibes.
‹Näher› weist auf die soziale, emotionale Komponente hin, die Beziehung, das Berühren, die Nähe und auch der Abstand, die aus der seelischen Mitte zu einem anderen entstehen. Nach links und rechts. Hier findet sich der Astralleib wieder.
Wenn wir ‹tiefer, langsamer, näher› in unserem Bewusstsein sowie in unserer Bewegung durchdringen, kann der Leib ein Erkenntnisorgan werden, weil sich Geist und Seele in ihm begegnen.
In diesem Zusammenspiel im Gegenwärtigen verschmilzt, was Rudolf Steiner das Ich nennt. Wenn ich mich so ganz im Innen dieser drei Dimensionen verankere, ganz zu mir komme, werde ich äußerlich frei! Vielleicht entsteht auf diesen drei Ebenen eine spirituelle Praxis, die mir anders herum betrachtet auch meinen Leib näherbringen kann, ihn mir aneignen kann, mich resilient und selbstbewusst macht und mir Zugehörigkeit auf Grundlage einer intentionalen, körperlichen, verstehenden Bewegung ermöglicht.
Mehr Körperlichkeit und ein Verabschieden von entfremdenden Prozessen verbinden uns heute mit unserer Leiblichkeit und bringen so unsere geistig-seelische Realität auf die Erde. Um lebendig zu sein, um unser Leben auf der Erde zu erhalten, müssen wir vertraute Räume schaffen, und die beginnen in unseren eigenen Körpern. Sie ermöglichen einen achtsamen, zuhörenden Dialog und einen gesunden Umgang mit der Erde. Dann können wir auch Gegenüber werden, die ganz – bis in den Leib – von Weisheit und Freiheit durchdrungen sind.
Bild Cornelia Friedrich, ‹Himmelblau›, 120 cm × 110 cm, Tusche und Acryl auf Leinwand, 2022.