Die Begegnung von Musik und Anthroposophie hat im 20. Jahrhundert bedeutende Lebenswege so geprägt, dass beide Kräfte sich zu unauflösbarer Durchdringung und Wirksamkeit entwickeln konnten. Der Weg Jürgen Schriefers war einer davon.
In ihrer jetzt vorliegenden biografischen Würdigung ‹Jürgen Schriefer. Ein Übender› legt Reinhild Brass als Autorin und Herausgeberin neben eigenen Darstellungen zahlreiche Selbst- und Fremdzeugnisse vor, anhand derer sich der äußere Lebensweg eher skizzenhaft, der innere Werdegang folgerichtig und die impulsierende Wirksamkeit des Menschen und Musikers sehr facettenreich nachvollziehen lassen. Zeittafel und Personenregister sind dabei hilfreich.
Das Anliegen des Buches ist jedoch weder die distanzierte Analyse der gewürdigten Persönlichkeit noch eine komplette Darstellung der äußeren Tatsachen ihres Wirkens. Vielmehr sollen Leserin und Leser in möglichster Unmittelbarkeit etwas von der Wärme und lebendigen Kraft des Feuers spüren, das in Jürgen Schriefer brannte. Wie es diesem immer «um etwas ging», so will auch der vorliegende Lebensbericht seine Leserschaft nicht ‹kaltlassen›.
Reinhild Brass, die nach dem Tod des verehrten Lehrers in dessen langjähriges letztes Wohnhaus in Witten einziehen durfte, übernahm damit auch den äußerst umfangreichen schriftlichen Nachlass des Unermüdlichen. Dadurch ist sie einerseits in der Lage, Jürgen Schriefer in vielfältigen Selbstzeugnissen zu Wort kommen zu lassen, andererseits aber das eigentliche Feld seiner Wirksamkeit als ein Nicht-Schriftliches umso klarer zu charakterisieren: Er war ein Übender und Aus-Übender der musikalischen und redenden Kunst, seit seiner Jugend überzeugt von deren heilender, wenn nicht sogar rettender Möglichkeit und Pflicht. Dieses unentwegte Bemühen galt ebenso den Einzelschicksalen seiner Mitmenschen wie dem Zeitgeschehen in großen und größten Zusammenhängen. Es wird deutlich, aus welcher inneren Führung heraus Jürgen Schriefer in der Lebensmitte zu seinem immensen Einsatz für die ‹Schule der Stimmenthüllung› finden konnte, welche existenziellen Opfer hierfür zu bringen waren, welche Wirkungsmöglichkeiten daraus erwuchsen. Immerhin wurde durch diesen Einsatz eine der ganz seltenen anthroposophischen Kunstbestrebungen aktualisiert, die nicht von Rudolf Steiner persönlich ausgingen, aber von ihm als geisteswissenschaftlich fundiert anerkannt und gefördert wurden.
Man wünscht dieser biografischen Würdigung Leser und Leserinnen, die sich für die Zusammenhänge des 21. mit dem 20. Jahrhundert auf musikalischem, anthroposophischem und zeitgeschichtlichem Gebiet interessieren. Ferner solche, die nach Beispielen dafür suchen, wie Geist zu einer existenziellen Kraft werden kann. Vor allem aber wünscht man dem Buch Menschen, die bereit sind, durch die indirekte Begegnung mit Jürgen Schriefer sich selbst von dem berühren zu lassen, was ihm wichtig war.
Buch Reinhild Brass, Jürgen Schriefer. Ein Übender, edition zwischentöne, Weilheim 2021
Grafik: Fabian Roschka