Im Film ‹Joker› scheitert ein Mensch an seiner Umwelt. Statt einen Ausweg aus der Misere zu finden, entwirft Regisseur Todd Phillips Gegenbilder des Clowns und des Faust.
Lachen befreit und vermag Distanz zu sich selbst zu schaffen. Typischerweise sind in Diktaturen Witze verboten. Der Umgang mit Humor und Lebensfreude ist ein Indikator, wie frei das eigene Verhältnis zu sich und zur Welt ist. Im Werk E. T. A. Hoffmanns ist das Lächeln nicht selten Signatur der Verstellung. Im Film ‹Joker› von Todd Phillips steht Lachen für Verzweiflung und Verlegenheit. Arthur Fleck, wie der Joker mit zivilem Namen heißt, leidet unter pathologischen Lachkrämpfen, die bei psychischer Anspannung ausbrechen. Er ist ein sozialer Mensch, kümmert sich um seine Mutter, ist bemüht, Geld zu verdienen, und mag Kinder, vor denen er beispielsweise als Spitalclown auftritt. Dennoch erfährt er wenig Wertschätzung, gelegentlich wird er sogar verprügelt. Als drei Männer eine Frau belästigen, zieht er – unbeabsichtigt – mit einem Lachkrampf die Aufmerksamkeit von ihr ab. Die Männer wenden sich nun ihm zu und schlagen auf ihn ein. Arthur Fleck wehrt sich mit dem Revolver, den er von einem Arbeitskollegen bekommen hat. Er gewinnt daran Selbstsicherheit – und hat nun die Schwelle zum Töten anderer überschritten. Unmittelbar nach der Tat zieht er sich zurück und vollzieht Bewegungen der Selbstbeglückung. Zuletzt schminkt er sich nach einem Autounfall seinen Lachmund mit dem Blut aus seinem Mundraum nach.
Gegenbild des Clowns
Die Figur des Jokers ist ein Gegenbild zum Clown, ein Gegenbild zu Faust. Schon in ‹The Dark Knight› (2008) von Christopher Nolan agiert der Joker in verwischter Clownschminke als kompromisslos Böser. Er will andere in seine Destruktivität hineinziehen und konstruiert dafür Zwickmühlen, in denen man letztlich nur zwischen einer Variante im Sinne des Jokers wählen kann. So stattet er zwei voll bemannte Fähren mit Sprengstoff und der Macht aus, die jeweils andere Fähre in die Luft sprengen zu können (um die eigene zu retten). Würde keine der Besatzungen ihrer Aufgabe gerecht werden, würde der Joker selbst beide in die Luft jagen.
Die Figur Joker greift das Motiv ‹Horrorclown› auf, wie es beispielsweise auch Stephen King in seinem Roman ‹Es› für die Gestalt Pennywise tat. Horrorclowns sind Menschen oder fiktive Gestalten, die in der Maske des Clowns andere erschrecken, bedrohen oder gar angreifen. Das ist aber eine Umkehrung dessen, wofür ein Clown eigentlich steht: verletzlich in seiner Kindlichkeit, aufgeschlossen für alles, was ihm begegnet. In einem srf-Interview von Michael Luisier am 29. September sagt Yve Stöcklin, Leiterin der Theater- und Clownschule in Basel: «Ein Clown ist ein Botschafter der Liebe und der Würde.» Ein Clown ist weltzugewandt, findet einen Umgang mit Konflikten; insofern ist er ein durch und durch Lernender. Er verbreitet Lebensfreude. «Leute aus dem Busch zu locken», beschreibt Yve Stöcklin als Lebenshaltung des Clowns. Und das heißt: im Anschauen des Clowns über eigene Ungenügsamkeiten zu lachen und Konventionen zu überwinden.
Letzteres vermutet Dirk Kurbjuweit im ‹Spiegel› Nr. 27/2019 als Grund für die Attraktivität des Clowns in der Politik: «Komiker [wie Beppe Grillo, Wolodymir Selenskyj und Martin Sonneborn] reüssieren als Politiker, und gleichzeitig führen sich einige Spitzenpolitiker [wie Donald Trump, Boris Johnson und Silvio Berlusconi] auf, als wären sie Komiker.» Den Grund dafür sieht er in einer Ermüdung an einer «überritualisierten, verkünstelten, klandestinen Politik».
Unterschicht-Faust
Arthur Fleck erinnert auch an Faust: Er ist ein Strebender, will Stand-up-Comedian werden. In der Interpretation von Johann Wolfgang Goethe kommt Faust aus der Oberschicht: Er ist studiert, geachtet, aber er langweilt sich in seinem Wissen, das nicht zum Leben, zum Lebendigen vordringt. Arthur Fleck kommt vom anderen Ende der Gesellschaft, ist sozial benachteiligt, leidet an depressiven und suizidalen Gedanken («Ich hoffe, mein Tod macht mehr Sinn als mein Leben»), sucht nach Wertschätzung, die ihm regelmäßig verweigert wird. Der Goethe’sche Faust kann machen, was er will, am Ende wird ihm verziehen und er wird in den Himmel als geschätzter Mensch aufgenommen. Arthur Fleck ist das nicht beschieden – ihm wird der Weg versperrt, eine Erlösung ist nicht vorgesehen. Allein der Weg der Selbsterhöhung bleibt ihm offen.
Dabei führt bei beiden der Verlust einer Verbindung zum Geistigen zu Selbstmordgedanken. Arthur Fleck verliert zudem die Sicherheit seiner Herkunft: Er ist (vermutlich) adoptiert, mindestens werden seine wahren Eltern verschleiert. Als er dies herausbekommt, wirkt er wie endgültig abgeschnitten von einer sinnstiftenden Welt. In dieser Leere, verbunden mit seiner Verletzlichkeit, erschließen sich ihm statt geistiger Impulse ab jetzt destruktive Kräfte.
Im Film ‹Joker› geht es um tiefe Motive des Menschseins und darum, was geschieht, wenn der Mensch nicht gesehen wird. Bei aller differenzierten Herleitung des Handelns entsteht dabei der Eindruck: Der Mensch ist allein Produkt seines Umfelds. Statt das Potenzial von Clown und Faust zu nutzen, um das reale Leben bewältigen zu lernen und einen Ausweg aus dem zerstörerischen Sog zu suchen, wird die Entwicklung bis in krasse Bilder roher Gewalt, ohne emotionale Verbundenheit, abwärts nachgezeichnet.
Dass der Film dann doch noch einen indirekten Ausweg aufzeigt, gehört zur Vielschichtigkeit dieser Produktion. Sie zeigt, dass in einer fiktiven Stadt wie Gotham City mit ihrer atmosphärischen Trostlosigkeit keine Menschlichkeit gedeihen kann, im Gegenteil: Das Potenzial des Menschen wird hier schrittweise ausgelöscht und ins Gegenteil verkehrt. Der Umkehrschluss daraus liegt nahe: Das menschliche Leben blüht auf, wo das Umfeld Lebensfreude und Anerkennung gibt. Und das ist die Aufgabe des Clowns. Oder in Worten von Yve Stöcklin: «Wir brauchen Leute, die uns wieder zeigen, wie Leben geht.» Denn wie es nicht geht, das wissen wir in der Regel schon aus unseren eigenen Erfahrungen.
Bild: Szene aus Todd Phillips Film ‹Joker›, 2019, mit Joaquin Phoenix als Arthur Fleck.