Der gütige Himmel

Das Gute lässt sich nicht besitzen; es ist eine Schwelle im Sein, über die wir gehen müssen, um es zu finden.


Immer habe ich das Wort Güte geliebt. Güte als Wesenszug, als Haltung der Welt gegenüber. Weniger das Gütesiegel: ‹bedingt vertrauenswürdig›. Die Güte war mir immer sympathischer als das Gute. Sie ist nah an der Seele, am Ich, am Menschen. Das Gute ist Gegenstand intellektueller Debatten, die Güte lebt in den Kammern des Herzens.

Und ‹meine Güte?›, fragt man sich. Die eigene? Wo hat man sich gütlich geeinigt oder im Sozialen begütigend gewirkt? Auch bei diesen Wortfeldvariationen geht die Unschuld des Begriffs verloren. Wer wollte von sich sagen, dass Güte seine Eigenschaft sei, die Substanz des eigenen Wesens? Eher ist sie eine unsichtbare Casula, die sich als Gnade über uns legt und die Wogen der Affekte und Stiche des Rechthabens für Momente beruhigt. Wer indes immerzu begütigen will, scheint Disharmonie nicht zu ertragen. Auch Schönheit entsteht nicht durch Beschönigung. Will er den schwarzen Talar irdischer Unvollkommenheit nicht sehen und die Alba der Nachsicht über alles legen? Ist das Gute, was guttut oder was nottut?

Das Gegenteil von gut gemeint ist bekannt. Auch dass Gutes nie statisch oder ewig ist (wie Wahrheit der Wahrhaftigkeit bedarf), hat die Moderne gelehrt. Geschätzt wird es als Mitte zwischen den Extremen, die sich zeigt, indem sie fehlt, und deren Fehlen gefühlt wird. Offenbart sich das Gute erst in der Wahrnehmung seiner Abwesenheit?

Die Güte heilt die Ambivalenz

Bei Konflikten stand ich oft zwischen Positionen, die ich gleichermaßen verstand. Es fühlte sich ohnmächtig an, nicht zu wissen, ob man sich abgrenzen oder nachgeben, hart oder weich sein soll. Es wird als eher ungut angesehen und sozial kaum kompatibel. Selbst der größte Verfechter, die größte Verfechterin des Sowohl-als-auch wird auf Erden um Entscheidungen nicht herumkommen. Es gibt nun mal kein Sich-Inkarnieren, das zwischen Geist und Körper schweben bleibt. Man lernt in solchen Konstellationen, sich für kompliziert zu halten und nicht entzifferbar. Gibt man sein Wort, hat es zu wenig Fleisch. Das Konkrete, etymologisch das Greifbare, Anschauliche, Wirkliche, scheint abstrakt: als Herausgezogenes, stets nur Abgeleitetes, Entferntes.

Trotzdem kann das Zögern ehrlich und notwendig sein. Bis heute will ich im Zweifelsfall stets gütig zu einem Menschen sein, der etwas Dummes oder ‹Böses› getan oder sich selber in der Hölle der Handlungsoptionen verirrt hat. Der gute Mensch braucht meine Güte nicht.

Weiß ich in Auseinandersetzungen beim besten Willen nicht, was gut wäre, weiß trotzdem das Gute mich und gibt sich zart zu erkennen – ohne es mir ‹zu zeigen›. Alles hängt dann davon ab, ob man die Güte des Guten bemerkt. Nichts Schöneres als erschöpft sein vom Bösen, vom Streit! Gar nicht mal erlöst, aber in Frieden. Vielleicht weiß man gar nicht, ob das Gute einem die Waffe sanft aus der Hand nahm – oder das Böse selbst. Als habe es seine Aufgabe erfüllt: uns zu erschöpfen, damit wir Kraft finden, uns neu zu begegnen.

Als Kinder sollten wir die Welt zunächst als wahr erfahren und ihre Schönheit erleben können und nicht gleich deren Karikatur oder Morbidität. Nicht an jedem eigenen Zweifel müssen die, die älter sind, die ihnen Anvertrauten teilhaben lassen. Deshalb braucht es trotz allem auch zuverlässig tragende Urteilskriterien, nicht nur luftige, und Vor-Bilder, an denen wir uns als Heranwachsende orientieren. Mag sein, danach, wenn wir ein derartiges Gegenüber hatten, können wir eigene Techniken entwickeln, um in den moralischen Dilemmata des Alltags Individualismus und Fantasie zu aktivieren.

Oder stimmt das so nicht mehr? Lebt die gegenwärtige jüngere Generation, leben viele Kinder bereits mit einem Gegenüber in sich selbst? Ich beobachte an meiner 13-jährigen Tochter, dass sie eher über-wach und über-orientiert ist und ihresgleichen längst uns Eltern habituell-lässig über das Richtige unterrichtet. Als kehrte sich etwas um. Als befreite sich die Jugend heute nicht mehr von gesellschaftlichen Autoritäten oder einem vor-gegeben Gutgemeinten, sondern verkörperte es. Noch scheinen die Schattenseiten sozialer Medien allen völlig klar, da diese ja in jenen ständig korrekt beredet werden: Alles ist früh schon in ethische Koordinatensysteme integriert und wird in parallel laufenden Kommunikationssystemen permanent (ironisch abgeklärt) reflektiert.

Angesichts solcher Entwicklungen mag es umso sinnvoller sein, die Empfindung und das Bewusstsein für Zwischenräume wachzuhalten. Das Gute ist vergänglich, es ist zeitgebunden, und es kann je nach Perspektive und Notwendigkeit allzu rasch das Lager wechseln. Was heute als richtig, gesund oder normal gilt, gilt schon morgen als unheilvoll, falsch oder krank. Die Güte hingegen ist letztlich immer schaffend. Sie wirkt jenseits bohrender Fragen wie: Auf welcher Seite steht du? Sie beruhigt all das Diskutieren, Kommentieren und Bewerten der Handlungen anderer.

Das Gute vergeht und entsteht immer neu

Das Gute geht nicht auf wie eine Gleichung. Man kann nicht mit ihm rechnen, nur weil man per Gesetz verabschiedet hat, was es sei. Es geht auf wie die Sonne, es dämmert einem. Es lebt weniger in Vor- als in Eingaben, intuitiven. Im radikalen, an die Wurzel gehenden Innehalten des Gewissens. Es ist keine Blüte des Diskurses, eher der Wind, der übers weite Feld der Zeiten und Meinungen streicht, über trockene Wüsten oder saftige Wiesen. Es ist das, was zwischen den Zeilen geschieht und zwischen den Jahren. Das Gute ist das, was der Macht dazwischenkommt, die einen Krieg plant, der Lebensstrom zwischen Deadlines, der kleine Unfall, den uns das Schicksal liebevoll baut, um uns aufzuwecken. Will jemand durchregieren, ist es der Stock in den Speichen. Das Gute ist der Kampfjetpilot, der die Luke öffnen und das Dorf zerstören soll, aber sich über Funk als gerade unpässlich entschuldigt, weil er verliebt sei. Es ist die Soldatin, die das Gewehr sinken lässt, weil sie abgelenkt war von einer philosophischen Erkenntnis. Das Gute, das hier gemeint ist, bringt unentwegt Wege zur Welt, sein Leben zu ändern und die Nächsten zu lieben, grundsätzlich und immer.

Güte gebiert Gutes, das sterblich ist, weil es an den Menschen, an konkrete Situationen und Augenblicke gebunden ist, an eine Seele, die mitfühlt und die sich selber auf genau jene Schwelle schickt, die der Gute meiden muss, um gut bleiben zu können: die Schwelle, wo Himmel und Hölle ineinander übergehen, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Geburt und Tod, das eigene Ich und das Ich eines anderen. Insofern ist Güte in sich immer transhuman.

Erst auf den Schwellen halten wir inne und stehen wirklich uns selbst gegenüber. Wir spüren unser Wesen und hören eine Stimme, die uns zuflüstert: Macht einander nicht fertig, nur weil ihr unvollendet seid. Lasst euch nicht, aus Ungeduld oder Hybris, künstlich vervollkommnen. Es gibt Gründe dafür, dass der Mensch gut gedacht sei. Nur verfertigt er sich nicht auf Knopfdruck, sondern allmählich, im Leben, wie die Gedanken beim beseelten Reden. Oder wie Liebe, auf die niemand auch nur einen Cent gesetzt hat. So lerne ein jeder und eine jede, auch gütig zu sein zu sich selbst.


Bild Malerei von Ulrich Schulz, ‹Himmel›, 2017. Aquarell. Leinwand, Leim, Asche, Marmor, Pflanzenfarben, Pigmente.

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