Der Glanz der Welt

In der Heiligen Nacht wird der Welt ein Kind geboren. Doch nicht nur das. Ein Stern geht auf. Es ist der Stern, der die Menschen den Glanz des Kommenden schauen lässt, der sie zu dem verklärten Stall führt. Der Kommende ist es, der die Menschen heilt, damit sie einander heilen werden. In seinem Glanz atmet die Welt Frieden. In seinem Licht wird der Welt eine neue Kindheit zuteil.


«Und es waren in der Nähe Hirten auf dem Felde. Sie hüteten und umhegten von Nachtwacht zu Nachtwacht ihre Herden. Da stand auf einmal der Engel des Herrn vor ihnen und das Licht der Gottesoffenbarung umleuchtete sie. Ein großer Schrecken bemächtigte sich Ihrer, aber der Engel sprach: Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch die große Freude, die der ganzen Menschheit zuteilwerden soll.»

Lukasevangelium1

Mit Weihnachten geht der Himmel auf. Ein Lichtglanz verklärt die Finsternis. Das kostbarste Gut, der Friede hier auf Erden, wird von einer Engelschar verkündigt. Fürchtet euch nicht, hat vorher der Engel des Herrn gesagt. Eine große Freude bringe ich euch. Ein Kind ist uns geboren. Mitten in der Nacht. Eine verklärte Nacht. Eine heilige Nacht.

Was der Engel verkündigt, was die Engelchöre singen, die ‹frohe Botschaft›, gehört zu dem Vertrautesten des Weihnachtsfestes, eine Vertrautheit, die uns vor dem Ungeheuren des Geschehens bis jetzt geschützt hat. Und doch ringen wir ständig um einen Moment der Stille. Darum, anhalten zu können. Einen Hauch von Freude in uns sich ausdehnen zu lassen. So wie Kinder fragen beim ersten Schnee: Legt sich der Schnee nieder? Wird er bleiben? Ist er noch da, wenn ich morgen aufwache?

Herauszufinden, was uns Freude macht, leidet an einer Überfülle des Angebots, die nur die Spiegelung einer selbst herbeigeführten Leere ist. Übrigens, wo soll sich denn die Freude zur Ruhe niederlegen?

Inzwischen ist der Himmel schon wieder zu. Oder sind wir es, die ihn nicht geöffnet haben? So nahe scheint uns doch die Zeit, in der der Himmel sich aus sich selbst öffnen könnte. In manch’ einem Lied schallt das Gloria als der Triumph eines Neuanbruchs und klingt auch noch da nach, wo nur noch die Sehnsucht nach einem ‹White Christmas› übrig geblieben ist. Nach einigen Tagen klingt es wie Blech, ohne Resonanz. Die Sehnsucht hat jede Resonanz verloren. Das Gold der Aureole von der Mutter, das Gold des leuchtenden Strohbündels, auf dem der Neugeborene nackt und wehrlos liegt, hat sich niedergeschlagen in den meist unansehnlichen Objekten des Alltags. Im Glitter am Packpapier, Schlingen und Schleifen allerhand. Aber wir vergessen, hochzuschauen. Nur die Kinder, aus ihrer Meisterschaft des Erwartenkönnens, wissen noch eine kurze Zeit vom Geöffnetsein des Himmels.

Der lange Weg eines Lichtglanzes

Wovor aber müssen wir denn überhaupt geschützt werden? Wieso sind die ersten Worte des Verkündigungsengels: «Fürchtet euch nicht»? Was erregt denn unsere Furcht? Der Himmel hat sich nicht geöffnet. Furchterregend ist, dass er immer offen ist.

‹Gloria›, Doxa, δόξα im griechischen Urtext, oft auch mit ‹Herrlichkeit› übersetzt, bedeutet ursprünglich ‹Glanz› der Herrlichkeit. Glanz ist nicht Licht. Glanz ist ein Leuchten, das aus der Opazität der Materie heraus – oder hindurch – strahlt.

Verdichtet es sich, wird es zum Goldglanz, zur Aureole oder zum Heiligenschein. Es ist der Glanz, der von Zarathustra in ‹Zamyad Yasht 19›, dem persischen ‹Hymnus an die Erde›, verehrt wird, als derjenige, der den ‹Saoshyant›, den kommenden Heiland, begleiten wird und der in der Sprache des Avesta (die zoroastrische Heilige Schrift) ‹Chwarenah› genannt wird.

Der geöffnete Himmel lässt diesen Lichtglanz bis auf die Erde heruntersteigen, bis dorthin, wo er die Erde berührt und durchdringt, um aus ihr als Glanz emporzusteigen. Der kommende Heiland wird die Welt ‹Frasho-Kereti›, das heißt ‹heil machen›. ‹Frasho›, worin wir noch ‹frisch› hören könnten, bedeutet auch: neu, transfiguriert, verklärt. In einer verklärten Nacht, in diesem lebendigen Ursprungslicht, dessen Quelle im Paradies hinter uns liegt, wird ein Kind auf Erden geboren.

Der Indologe Hermann Beckh hat die Verheißung in der Avesta in einer ganz eigenen, fast kultischen Sprache übersetzt. ‹Sonnen-Äther-Aura›, so deutet Beckh dasjenige, was in dem Urtext der Avesta als ‹Lichtglanz› (Chwarenah) erscheint und später im Lukas­evangelium als ‹Doxa›, ‹Gloria›. Beckh nennt diese Prophezeiung «wohl eine der gewaltigsten Christus-Verheißungen, die aus der Ferne vorchristlicher Zeiten zu uns herüberklingen».2

«Die mächtige, die königliche Verheißung tragende Sonnen-Äther-Aura,
Die Gottgeschaffene verehren wir im Gebet
die übergehen wird auf den sieghaftesten der Heilande, und die andern, seine Apostel.»3

Dank dieser Ferne wird es möglich, zu erfahren, wie lang der Weg ist, den der Lichtglanz zurückgelegt hat, bis zur Geburt eines Kindes, das einst den Heiland tragen wird. Und wie lang der Weg noch sein wird, der sich in der Ferne eines Zukünftigen ahnen lässt, der gemeinsame Weg zur Transfiguration der Erde.

Und sie fürchten sich sehr

Mitten in der Nacht hat sich der Himmel aufgetan. Die Klarheit des Herrn, ‹doxa Kuriou›, der Glanz der Herrlichkeit, hat sich um die Hirten ringsherum ausgebreitet und sie fürchten sich mächtig.

Darauf sagt der Engel des Herrn: «Fürchtet euch nicht!» Es gibt aber jeden Grund zur Furcht. Denn es ist ein gewaltiges, wenn der Himmel sich kundtut und wir ihn offen sehen.

Der Himmel ist nicht dieses Gewölbe, das sich wie ein mit Sternen ausgestatteter Baldachin nach allen Seiten hin entfaltet, uns birgt und uns ein Hier und Jetzt auf Erden gewährt. So wie die Gebärde der Madonna, die ihren Mantel der Menschheit umhängt. Wir schauen in die Höhen, aber was wir schauen, ist die Innenseite ihres Mantels, die Innenseite ihrer Gebärde. Wir schauen nicht bis in den Himmel hinein.

Der Himmel ist da, wo ununterbrochen nur Schöpfungsmächte walten. Das ist mit den Höhen gemeint, von denen die Engelchöre singen.

Und schauten wir bis in diese, wir könnten wie Rilke überwältigt werden, in dem Moment, als ihm der Himmel ‹aufging›, im Schloss Duino, inmitten des Tobens und Dröhnens eines Sturmwindes, der übers Meer kam. Der Dichter hatte gerade die Ordnungen der Engel angeschrien und schon spürte er in sich das Gewaltige ihrer möglichen Nähe: «und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein.»4

Die Wirklichkeit, ja auch die Wirklichkeit ‹hier unten›, wenn sie sich verkündigt, indem sie uns ihre innersten Wesen offenbart, macht uns fassungslos. Wir sagen uns, der Himmel hat sich geöffnet, und richten den Blick nach oben. Doch wie könnten wir nach oben schauen, wenn wir nicht unten wären? Zugleich ahnen wir, dass ein noch höheres Oben, ein noch tieferes Unten sich unserem Blick entziehen. Es tritt die Ahnung an uns heran, dass sie im Inneren zu finden seien – die Ahnung, dass wir daran zerbrechen könnten.

«Eine geisterhafte Stille umgab uns und zwang uns zu schweigen», so beschreibt Walter Friedrich Otto ein erschütterndes und nachher auch freudevolles Erlebnis während einer Waldwanderung mit einem Freund.5 In ihrem Gespräch war die Rede gewesen von uralten Mythen und Orten, an denen Gottheiten und Menschen einander unversehens begegnen könnten. Auf einmal blieben sie mitten in der Wildnis des Waldes stehen, wie auf ein verabredetes Zeichen, und sahen einander an. Einen Moment lang hatte die Stille ihnen zugeredet. An solch einen Ort waren sie vorbeigekommen, an den Ort des «Ungeheuren des Ursprünglichen».

Denn was noch über die Engelordnungen hinausreicht, ist unerkennbar und unaussprechlich. Es grenzt allein dadurch an die Sphäre des Ungeheuren. An die Sphäre des Heiligen.

Wenn es sich in uns offenbart, sind wir von einer bisher ungekannten Ehrfurcht und zugleich Erschütterung ergriffen. Ein tiefes Schweigen ist die einzige Antwort, die uns noch aufrechthält, sonst würden wir, mit den Worten Rilkes, ‹vergehen›. Zugleich öffnet sich das Unfassbare in seiner Dunkelheit. Wir schaudern nur und lassen die Stille walten. Wie die Stille, die sich unmittelbar vor der Geburt hören lässt. Vor jeder Geburt. Sei es eines Menschenkinds, sei es der Geburt eines Neuen in uns. Eine gewaltige Nacht ringt in uns mit einer Übermacht an Tageshelle. In diesem Moment ‹vergeht› uns das Herz und wir können nur knien.

Eine Heilige Nacht

«Und mit einem Male war um den Engel die Fülle der himmlischen Engelchöre versammelt, ihr Lobgesang tönte zum Göttlichen Weltengrund empor.»

Lukasevangelium6

Wodurch wird eine Nacht geheiligt? Ist denn nicht jede Nacht heilig? Christian Morgenstern nennt die Nacht einen «Sternenbronnen», fühlt sich von ihren «Offenbarungswonnen» umflutet und bittet sie: «Ergib mir, was du weißt!»7 Was weiß die Nacht? Wird auch die Weihnacht nicht schon dadurch geheiligt, dass uns der Himmel näher erscheint?

Das Heilige und dasjenige, was durch es geheiligt wird, gehören zu zwei verschiedenen Daseinsbereichen. Sie sind nicht ein und dasselbe. Das Viele, das wir heilig nennen: ein heiliger Ort, ein heiliger Mensch, ein heiliger Eid, eine heilige Treue, ein heiliger Tempel, ein heiliges Anliegen, ein heiliger Engel. Wie verschieden auch, haben sie dieses miteinander gemeinsam: dass sie alle Aussagen sind. Diesem oder jenem wird das Heilige als Attribut zugeordnet. Es wird etwas über Tempel, Mensch, Ort, Treue ausgesagt.

Das Ungeheure ‹des Heiligen› liegt darin, dass es kein Ding ist, das wir nennen können. Denn was wir mit ‹heilig› meinen, ist keine Aussage, sondern die Offenbarung einer Wirksamkeit, deren Urquelle jenseits aller Namen liegt, über alle Bestimmbarkeit hinaus. Es kann also nichts über das Heilige ausgesagt werden. Das Heilige kann nur nach innen geschwiegen werden.

Wie kein anderer hat Dionysius Areopagita das Überwesenhafte der göttlichen Urquelle dargestellt. Alles, was seiner Offenbarung entspringt, ist reine Wirksamkeit. Offenbarung und Wirksamkeit sind aus dem Heiligen wie aus ihrem Ursprung hervorgegangen. Der Bach, der aus einer Quelle fließt, hat sich schon im ersten Moment des Fließens von der Quelle entfernt. Das Wasser rinnt durch eine ständig wechselnde Umgebung, in immer weitere Entfernung seines Ortes, des Ursprungs. Ursprung ist da, wo auch im Lukasevangelium vom «göttlichen Weltengrund» die Rede ist. Die Engel, jeder nach seiner Aufgabe und seinem Rang, die heilige Hierarchie, sind es, die an dieser Wirksamkeit teilnehmen. Ihre Entfernung von der Quelle bestimmt, wie sich ihre Rangordnung findet – an ihr können sie sich selbst erkennen. «Hierarchie ist nach meiner Auffassung eine heilige Rangordnung, eine Erkenntnis ihrer selbst und dadurch auch eine Wirksamkeit.»8 Zwischen Urquelle und Erden-Menschenwelt gehen sie auf und ab. Es ist ein ununterbrochener Reigen, ein Empfangen und ein Weiterreichen. Ihr Wesen ist ihr Wirken. Deswegen singen sie. Die Engelchöre singen dem göttlichem Weltengrund, dem Heiligen entgegen. Sie stützen, ja, sie tragen diesen Weltengrund, ähnlich, wie sie auf frühen Mosaiken, zum Beispiel in Ravenna, dargestellt werden. Sie bewirken, dass zwischen den Höhen und den Tiefen das Heilige wirkt. Sie empfangen es und geben es weiter, von heiligem Rang zu heiligem Rang, bis es zu uns in die Tiefen gelangt. Ihr Singen ist unser Nach-innen-schweigen-Können. Und wir werden geheilt.

Frieden wird geboren

«Frieden auf Erden.
Geoffenbaret sei Gott in den Höhen
Und Friede auf Erden
Den Menschen, die eines guten Willens sind.»

Lukasevangelium9

Der Engelgesang ist voller Rätsel. Es fängt an mit dem bekannten ‹Gloria›, das heißt mit dem Lichtglanz. Es ist ein Gloria, das als Lob und Ehre dem Allerhöchsten emporgetragen wird. Und es schließt mit einem Wort, das bis in die Tiefen reicht: ‹eudokia›. Meistens wird es als ‹guter Wille› oder ‹Gefallen› übersetzt. Diese beiden Worte haben im griechischen Urtext des Lukasevangeliums einen gemeinsamen Ursprung. Beide deuten auf ein und dasselbe Licht, das sich mit der Dunkelheit verbindet, in den Höhen sowohl als in den Tiefen.

Einmal tritt es in die Erdenfinsternis und verklärt die Nacht. Einmal tritt es hervor aus des Herzens Dunkelheit und erhellt es. Es ist dieses Wesenslicht, das die Engel besingen und die Hirten anbeten. Sie tun es mit der Gabe ihrer Andacht, die aus ihnen strahlt. Und zwischen Lobgesang und Andacht erscheint der Friede. Nicht nur in dieser Heiligen Nacht.

Der Friede währt immer. Es ist dieses Vermögen, das zur Sphäre des Heiligen gehört und an dessen Wirksamkeit unaufhörlich teilnimmt. Auch inmitten der Kriegsgewalt auf Erden. Aber damit Friede auf Erden wirksam werden kann, braucht es einen Zwischenraum, in dem der Friede geboren wird. Einen geöffneten Himmel in uns. Denn irdischer Friede kann nur im Menschen geboren werden und Mal um Mal neu. An der Freude erkennen wir die Möglichkeit eines immerwährenden neuen Anfangs, den sie golden umstrahlt. Die Freude als Verkünderin einer ‹frohen Botschaft›: die Geburt einer «höheren Kindheit»10 als Friedensfähigkeit in uns.


Bilder Miriam Wahl, Aquarell auf Papier, 2022

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Footnotes

  1. Lukasevangelium, 2:8–10, in: Das Neue Testament. Übersetzung Emil Bock, Urachhaus, S. 144.
  2. Hermann Beckh, Zarathustra. Verlag der Christengemeinschaft, Stuttgart 1927, S. 108.
  3. Hermann Beckh, a. a. O., S. 109.
  4. Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien. 1. Elegie. Insel-Verlag, 1. Auflage, 1923.
  5. Walter Friedrich Otto, Die Wirklichkeit der Götter. Von der Unzerstörbarkeit griechischer Weltsicht. Rowohlt-Verlag, 1969.
  6. Lukasevangelium, 3:13, a. a. O., S. 144.
  7. Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad. Verlag Piper & Co., München, posthum erschienen, erstmals 1914.
  8. Dionysius Areopagita, Die Engel-Hierarchie. Der Ursprung der christlichen Engel-Lehre. Crotona-Verlag, Nachdruck, München 2010, Kap. III/1, S. 33.
  9. Lukasevangelium, a. a. O., S. 144.
  10. Novalis, Heinrich von Ofterdingen. Posthum erschienen erstmals 1802, hg. von Friedrich Schlegel.

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