Der Geist in der Natur – Ørsted und Goethe

Zum Hintergrund der Entdeckung des Elektromagnetismus im Jahr 1820.


Am 21. Juli 1820 ging ausgehend von Kopenhagen ein Lauffeuer durch die wissenschaftliche Welt Europas. Durch eine kleine Schrift, die Hans Christian Ørsted gleichzeitig an ausgewählte und vor allem jüngere Wissenschaftler in Europa verschickte, regte er zahlreiche Kollegen zu weitergehenden Experimenten an: unter anderen Ampére (1775–1836) in Frankreich, Seebeck (1770–1831) in Deutschland und Faraday (1791–1867) in England. Schon sieben Jahre später stellte Ørsted fest, weit mehr als 100 Wissenschaftler hätten zum Thema Elektromagnetismus geschrieben.

Wer war dieser Hans Christian Ørsted, der sozusagen über Nacht weltberühmt wurde? Geboren wurde er am 14. August 1777 als Sohn des Apothekenbesitzers einer Kleinstadt auf der Insel Langeland. Das Schulwesen war kaum existent, weswegen er von Bürgern der Stadt lernen musste. Mit zwölf Jahren wurde er Gehilfe in der väterlichen Apotheke. Dennoch bestand er – in Kopenhagen – 1794 mit Glanz das Abitur und 1797 die pharmazeutische Prüfung und wurde 1799 mit einer Abhandlung zum Thema ‹Grundzüge der Naturmetaphysik›, die auf Kant baute, promoviert. Er unternahm von 1801 bis 1804 eine Studienreise nach Deutschland, bei der sein Interesse an der romantischen Naturphilosophie in ihrer Betonung der ‹Einheit in der Natur› verstärkt wurde. Seine wichtigste Bekanntschaft auf dieser Reise war ohne Zweifel der Apotheker und Forscher Johann Wilhelm Ritter (1776–1810), der zu den Vertretern des ‹ganzheitlichen› Denkens der romantischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie gehörte.(1) Weiter ging seine Reise nach Frankreich, wo das wissenschaftliche Experiment eine größere Rolle spielte als in den deutschen Ländern.

Hans Christian Ørsted

Wieder in Kopenhagen angekommen, wurde Ørsted 1806 außerordentlicher und ab 1817 ordentlicher Professor für Physik. Ab 1809 konnte er Instrumente anschaffen und Versuche durchführen, mit dem Ziel, eine Beziehung zwischen Elektrizität und Magnetismus nachzuweisen. Über die Entdeckung des Elektromagnetismus heißt es: «Das Jahr 1820 war das glücklichste im wissenschaftlichen Leben von Ø. In diesem entdeckte er die magnetische Wirkung der Elektrizität. Er hatte in Folge des großen Zusammenhanges der Dinge schon in seinen frühesten Schriften angenommen, dass Magnetismus und Elektrizität durch dieselben Kräfte hervorgebracht werden. Diese Meinung war übrigens nicht neu, sondern durch mehr als zwei Jahrhunderte wechselweise angenommen und verworfen worden.» (Die bisherigen Versuche eines Beweises waren aber misslungen.) «Ø. folgerte deshalb, dass in der gleichen Weise, wie ein Körper, der von einem starken elektrischen Strom durchdrungen wird, nach allen Seiten Licht und Wärme ausstrahlt, es sich auch mit der magnetischen Wirkung verhalten könnte, die er darin vorausgesetzt hatte.» (2)

Der erste Versuch – während einer Vorlesung im Frühjahr 1820 – gelang, aber nicht überzeugend. Erst im Juli 1820 wiederholte Ørsted den Versuch mit einer sehr großen Batterie – und «erzielte jetzt eine sehr große Wirkung».(3) Jetzt zögerte er nicht, sondern schickte sofort die eingangs erwähnte Schrift an Kollegen. Unter diesen war auch Johann Wolfgang Döbereiner (1780–1849), Professor für Chemie an der Universität in Jena.

Buchcover: ‹Geist in der Natur›, Hans Christian Ørsted, 1854

Natürlich gab es auch gegen die Entdeckung Ørsteds Widerstände, vor allem in Frankreich, wo Coulomb (1736–1807) ein einflussreicher Wissenschaftler war. Er hatte seinen Kollegen versichert, dass es keine Wechselwirkung zwischen Elektrizität und Magnetismus gäbe – und sie suchten deshalb nicht danach. Aber es war sehr leicht, die Experimente Ørsteds nachzuprüfen. Ampére und Faraday wurden gerade durch ihre weiteren Untersuchungen des Elektromagnetismus berühmt. Die Ära Coulomb ging zu Ende. Heute kann jeder den Versuch nachmachen: Man hält eine elektrische Leitung über eine bewegliche Magnetnadel, schaltet den Strom ein und die Nadel schlägt aus. Ørsted allerdings benötigte eine erst 1800 von Volta erfundene Batterie.

Goethe

Wir können erkennen, dass Ørsted von seiner Überzeugung von der Einheit der Natur getrieben war. Die Fähigkeit, den ‹großen Zusammenhang der Dinge› zu sehen, sein Forschungstrieb und sein Durchhaltevermögen waren die entscheidenden Voraussetzungen für das Gelingen. Eine Verwandtschaft zwischen Goethe und Ørsted tut sich auf. Direkt frappierend ist diese Verwandtschaft, wenn wir die Entdeckung des Zwischenkieferknochens durch Goethe (1749–1832) betrachten. Bezüglich der Frage, ob es auch beim Menschen den schon damals bei Tieren bekannten Zwischenkieferknochen gibt, war vor 1784 die Situation ähnlich wie vor 1820 bezüglich der Frage, ob es eine Beziehung zwischen Elektrizität und Magnetismus gab. Der Anatom Vesal (1514–1564) hatte 1543 die Existenz beim Menschen verneint. Diejenigen Naturwissenschaftler, die an die Schöpfung glaubten, sahen die fehlende Existenz als Beleg für die Schöpfung an und suchten deshalb nicht ernsthaft nach diesem Knochen. Goethe jedoch ging von der Evolution aus und war von der Existenz des Zwischenkieferknochens überzeugt – und suchte deshalb danach. Am 27. März 1784 gelang ihm gemeinsam mit Justus Christian Loder in Jena der Nachweis am menschlichen Embryo. Demzufolge und anlässlich seiner Publikation darüber wurde Goethe in die Academia Leopoldina in Halle aufgenommen.

Die Situation bezüglich der Frage, ob es auch beim Menschen den schon damals bei Tieren bekannten Zwischenkieferknochen gibt, war vor 1784 ähnlich der Situation vor 1820 bezüglich der Frage, ob es eine Beziehung zwischen Elektrizität und Magnetismus gab.

Goethe und Ørsted

Auf diesem Hintergrund ist es naheliegend, zu fragen, ob Ørsted und Goethe sich kannten. Wir wissen, dass Ørsted im November 1822 nach Berlin und weiter nach Jena reiste. Mitte Dezember fuhr er nach Weimar, zusammen mit Döbereiner, der ihn sofort zu Goethe führte. Goethe empfing ihn «sehr freundlich und sprach sehr lange über meine elektromagnetische Entdeckung».(4) Sie sprachen sogar über die Idee zu einem weiteren Versuch, wozu Ørsted jedoch Änderungsvorschläge hatte, und «Goethe verstand es vollkommen».(5)

Dass sich Goethe tatsächlich über das Thema informiert hatte, geht aus einem Brief von Goethe an Döbereiner vom 20.10.1820 hervor, wo es u. a. heißt: «Ingleichen folgt in der Bibliothèque universelle der Aufsatz von Oersted über den Einfluss der geschlossenen Voltaischen Säule auf die Magnetnadel, mit dem Wunsch, Sie möchten überlegen, ob mit unserem Apparat der Versuch wiederholt werden könnte.» (6) Döbereiner führte den gewünschten Versuch sofort durch, wie er Goethe am 27.10.1820 mitteilte. Einer Eintragung ins Tagebuch Goethes (7) vom 28.10.1820 ist zu entnehmen, dass er sich schon an diesem Tag von Döbereiner in Jena das Experiment hatte zeigen lassen. Weitere Notizen im Tagebuch weisen darauf hin, dass Goethe Döbereiner immer wieder gebeten hat, Experimente durchzuführen. Ørsted besuchte Goethe wieder nach einem Theaterstück und berichtet: «Bei Tisch wurde sehr viel über Naturwissenschaft gesprochen. Ich sprach unter anderem über meine Wärmetheorie, der er seinen Beifall gab.» (8) Später führten sie eine Diskussion über die Farbenlehre Goethes. Dieser meinte laut Ørsted, «dass wir wohl einander nähergekommen wären, wenn wir länger beisammen gewesen wären. Darüber habe ich meine Zweifel.» (9) Goethe hat über diesen Besuch nur knapp berichtet: «Lebhaftes Gespräch über Physikalisches u. s. w.» (10) Man kann nur bedauern, dass sie nicht die Gelegenheit nutzten, sich über die Ähnlichkeiten der zwei genannten Entdeckungen zu unterhalten. Vielleicht hätten sie sich dann auch hinsichtlich der Farbenlehre besser verstanden.


(1) K. Jelved, A. D. Jackson, H. C. Ørsteds rejsebreve. (Die Briefe Ørsteds von seinen Reisen). Det Kongelige Videnskabernes Selskab, Kopenhagen 2011.
(2) H. Højgaard Jensen, H. C. Ørsteds 200 års fødselsdag. BLADET om H.C. Ørsted Institutet Nr. 19, August 1977.
(3) Ebd.
(4) K. Jelved, A. D. Jackson, a. a. O.
(5) Ebd.
(6) Briefwechsel zwischen Goethe und Johann Wolfgang Döbereiner (1810–1830), hrsg. und erl. von Julius Schiff, Weimar 1914.
(7) Goethes Tagebücher. III. Abteilung, 7. Band 1819–1820; 8. Band 1821–1822. Weimar 1895 bzw. 1896.
(8) K. Jelved, a. a. O.
(9) Ebd.
(10) Briefwechsel …, a. a. O.

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