Der Anthroposoph Bernhard Behrens (1892–1952) wirkte zunächst in Hamburg. Er wanderte 1938 aus politischen Gründen nach Amerika aus. Von 1941 bis 1945 wurde er als Deutscher aus Sicherheitsgründen in Los Angeles interniert. Vor seiner Emigration publizierte er eine Studienreihe mit sieben Heften zur ‹Anthroposophisch orientierten Wirtschaftswissenschaft›.
Der rote Faden dieser verschiedenen Hefte kann wie folgt charakterisiert werden: Das ‹Soziale Hauptgesetz› und die Weltwirtschaft als Anknüpfungspunkt einer neuen Wirtschaftswissenschaft, ihre philosophische Begründung in der ‹Philosophie der Freiheit› von Rudolf Steiner, Konsequenzen für ein brüderliches Wirtschaftsleben sowie die Rechtsgrundlage für ein assoziatives Wirtschaften. Diese Studienhefte beginnen also nicht, wie in der Volkswirtschaftslehre üblich, mit den Themen Bedarf und Bedürfnisse, Knappheit und Notwendigkeit eines Preissystems, um mit weltwirtschaftlichen Problemen zu enden, sondern mit einem ökonomischen Gesetz von Rudolf Steiner, ‹dem Sozialen Hauptgesetz›: «Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, d. h. je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.» Daran schließen sich weltwirtschaftliche Fragen an. Behrens zäumt die ökonomische Theorie von hinten auf und begründet sie nicht wie üblich mit naturwissenschaftlichen Methoden und Modellen sowie statistischen Verfahren, sondern aus der Geisteswissenschaft von Rudolf Steiner. Warum auch nicht. Philosophische Begründungen der ökonomischen Theorie gibt es sehr wenige. Hier handelt es sich zudem um einen weiteren Sonderfall, es geht nicht um Philosophie, sondern um Anthroposophie. Behrens nennt seinen Ansatz bescheiden ‹anthroposophisch orientierte Wissenschaft›. Worin besteht nun der Erkenntnisgewinn eines solchen unkonventionellen Vorgehens, das vor allem im Sinne eines Essenzialismus nur Wesenszusammenhänge zutage fördern will? Behrens hat schon sehr früh weltwirtschaftlich gedacht: «Ein Blick auf den umfassenden Lernprozess der Weltwirtschaft lehrt, dass die modernen Nachrichten-, Transport- und Produktionsmittel es ziemlich belanglos machen, an welchem Orte unseres Globus ein bestimmter Rohstoff gewonnen, eine bestimmte Fruchtart bestellt oder eine bestimmte Nutztierart gezüchtet wird. Diese der Natur am nächsten stehenden Erzeugnisse können überall, an einem jeden von Menschen bewohnten Ort unseres Globus dem Verbrauch zugeführt werden. Dass gegenwärtig infolge der Einsichtslosigkeit in das Wesen der Weltwirtschaft die fiktiven politischen Grenzen durch die Errichtung von Zollmauern zu realen gemacht werden und man dadurch der Weltwirtschaft stärkste Hemmnisse für ihre wirklichkeitsgemäße Entwicklung bereitet, macht für den Wirtschaftswissenschaftler die Notwendigkeit einer allgemeinen Erkenntnis der wirklichen Grenzen des Wirtschaftsprozesses durch Rechtsordnung und Naturgrundlage besonders eindringlich.»
Metamorphose durch den Menschengeist
Ökonomische Prozesse können heute nur noch weltwirtschaftlich gedacht werden, alle Menschen hängen voneinander ab und müssen deswegen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen ihres Handelns bedenken. «Für den Wirtschaftswissenschaftler sind die Zusammenhänge zwischen Volkswirtschaft und Weltwirtschaft von jeher schwer durchschaubar gewesen. Selbst heutzutage ist man noch über das wirkliche Verhältnis dieser beiden Wirtschaftsprinzipien im Unklaren, trotzdem die Gestalt des alles umfassenden und durchdringenden Weltwirtschaftsprozesses für den unbefangenen Beobachter eigentlich nicht mehr verkennbar ist.» Behrens rückt zu Recht den freien Menschengeist ins Zentrum der Betrachtung und grenzt sich damit vom Homo oeconomicus der Volkswirtschaftslehre entschieden ab. Dieser könne eine umfassende Erklärung des wirtschaftlichen Geschehens nicht liefern, da er die geistige Dimension des Menschen nicht thematisiere. «Wir müssen nun zu diesen Einsichten eine weitere hinzubringen, um aufzudecken, wie dieses Kernstück der ‹Philosophie der Freiheit› in eine unmittelbare Beziehung zum sozialen Leben gesetzt werden kann, indem es der Bewusstmachung des wahren Wesens der wirtschaftlichen Assoziation dient. Eigentlich ist es erstaunlich, wie wenig bisher erkannt worden ist, dass hier der eigentliche Ansatzpunkt für die vom Bewusstsein ausgehende Begründung echter Menschengemeinschaften und damit auch wirtschaftlicher Assoziation liegt.» Der freie Geist metamorphosiert die traditionellen Begriffe der Volkswirtschaftslehre wie Ware, Geld, Wert, Kredit in ein assoziatives Wirtschaftsgebilde, welches den Waren- und Geldfetisch nicht mehr kennt und den Weg eröffnet zur Frage nach gerechten Werten und Preisen. Die Entfremdung der Arbeit und die Eigentumsfrage kann so theoretisch gelöst werden. Der Arbeiter oder die Arbeiterin soll so bezahlt werden, dass er oder sie in Zukunft eine neue Ware erstellen kann. Der Warencharakter von Arbeit und Boden soll verhindert werden. Die herkömmliche Volkswirtschaftslehre vernachlässigt die Verbrauchenden und überlässt die gesamtwirtschaftliche Koordination einem anonymen Markt in einem dysfunktionalen Staat. Das assoziative Wirtschaften setzt hier vollkommen andere Akzente. «Es war zu zeigen, nicht nur, dass für Umfang und Intensität der gesamtwirtschaftlichen Produktion die Konsumtion maßgebend sein muss, sondern auch, wie diese Maßgabe unter voller Berücksichtigung des ‹Berechenbaren› prinzipiell vorstellbar ist. Dabei kommt die Notwendigkeit zum Vorschein, Warenproduktion, Zirkulation und Konsumtion durch ein assoziatives Wirtschaften aus dem Bewusstsein heraus zu regeln, denn nur so ist auch die sachgemäße Gliederung und Regelung der Geldfunktion möglich.»
Eine Rechtsform für den Geist in der Wirtschaft
Eine anthroposophisch orientierte Wirtschaftswissenschaft muss auch über eine adäquate Rechtsordnung für das Wirtschaftsleben nachdenken, auch hier muss der freie Geist zu seinem Recht kommen. «Das Verhältnis des Rechtslebens zum Geistesleben und zum Wirtschaftsleben wird jetzt für das Bewusstsein fassbar. Für das Geistesleben gewährleistet die Rechtssatzung, die Freiheit mit der Ausgestaltung der beruflichen Betätigungen in das Wirtschaftsleben zu tragen. Für das Wirtschaftsleben schafft das Recht die Vorbedingungen für eine assoziative Gliederung, um der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse in sachgemäßer Weise dienen zu können. Aber die vom Rechtsleben ausgehenden sozialen Kräfte hemmen auch die ungerechtfertigte Übersteigerung wirtschaftlicher Bedürfnisse und der damit verbundenen Praktiken, ebenso wie sie es verhindern, dass die vom Geistesleben ausgehende Arbeitsantriebe sich als egoistische Machttendenzen auswirken können.»
Der vorliegende Ansatz von Behrens ist nur für diejenigen Lesenden ein Gewinn, die bereit sind, sich mit anthroposophischen Fragen auseinanderzusetzen. Mit normalen volkswirtschaftlichen Kategorien ist dies nicht möglich. Abgrenzbare Begriffe, kausalanalytische Modelle und statistische Beweisführungen sind hier bewusst nicht geliefert. Lässt man sich auf anthroposophische Argumente ein, so kann man hier eine breit begründete anthroposophisch orientierte Wirtschaftswissenschaft finden. Es ist eine gelungene Verknüpfung von freiem Geistesleben, geschwisterlichem Wirtschaftsleben und gleichem Rechtsleben. «Unsere Ausführungen hatten die Aufhellung des Verhältnisses des freien Menschengeistes, der Erkennen und Handeln in Übereinstimmung zu bringen sucht, zum assoziativen Leben der Wirtschaft zum Ziel. Der geistige Ursprung einer Assoziation sollte bewusst gemacht werden sowie die sozialen Bedingungen innerhalb welche sich das assoziative Leben ausgestaltet. Es ist dieses nur ein Aspekt des assoziativen Lebens. Ein zweiter tut sich auf, wenn man auf die Beziehung achtet, welche das assoziative Leben zur Rechtsordnung einnimmt, wenn ein Gemeinwesen zum Staate wird. Und eine dritte Betrachtung ist erforderlich, um die Wirksamkeit einer assoziativen Gliederung der Gesamtwirtschaft für eine gerechte Preisgestaltung und Wertbildung zu zeigen.» Die Ausführungen sind inhaltlich sehr verdichtet und verlangen eine Menge geisteswissenschaftlicher Vorkenntnisse in Ökonomie und Philosophie und die Bereitschaft, sich intensiv mit den Studienheften auseinanderzusetzen. Es bedarf des zusätzlichen Studiums der zugrunde liegenden Schriften von Rudolf Steiner, um der Sache gerecht zu werden. Bernhard Behrens hat sich tiefgründig in die Originale eingearbeitet und sie souverän und eigenständig bearbeitet. Es geht um mehr als um einen neuen ökonomischen Ansatz. Bemerkenswert sind die freigeistigen Begründungen und die Ausführungen über eine zukünftige Rechtsordnung in einer assoziativen Wirtschaft.
Buch Bernhard Behrens: Anthroposophisch orientierte Wirtschaftswissenschaft. Eine Studienreihe. 7 Hefte, Hamburg 1930–1932.
Manfred Kannenberg, Ralf Neff (Hrsg.), Verlag Ch. Möllmann, Hamborn, 2023.