Joseph Beuys sprach sich in seinen Kunstaktionen für die Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Europa und Asien aus. Das Symbol dieser Begegnung war für ihn der Hase. Eine Spurensuche in seinem Werk.
Als Joseph Beuys sich entschloss, mit dem Hasen zu agieren, war es zunächst eine Verlegenheitslösung. Denn, wie Hans van der Grinten berichtet, hatte er vorgesehen, bei seinen Aktionen mit einem Hirsch zu agieren. Der jedoch erwies sich als zu unhandlich. Intuitiv war es dann doch der richtige Griff! In einer seiner ersten Aktionen ‹Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt› im November 1965 in der Galerie Schmela in Düsseldorf versperrte Beuys die Tür von innen und ließ die Besucherschaft draußen. Seinen Kopf vollständig mit Blattgold, Goldstaub und Honig bedeckt, mit dem Tier im Arm und offenbar im Zwiegespräch, ging er von Objekt zu Objekt durch die Ausstellung. Erst nach drei Stunden wurde das Publikum in die Räume gelassen. Beuys saß dabei, den Hasen auf dem Arm, mit dem Rücken zum Publikum auf einem Hocker im Eingangsbereich.
Der Anfang des Hasen
Im ‹Museum der unerhörten Dinge› von Roland Albrecht ist zu lesen: «Bei seinem Flug 1944 mit der JU 87 wurde er [Beuys] von einer russischen Flak getroffen, konnte sich aber hinter die Frontlinie retten. Dennoch stürzte er aufgrund eines fürchterlichen Schneesturms ab. In ‹einer völligen Einöde oben am Flaschenrand der Krim› fanden den schwerverletzten und ohnmächtigen Mann dort wohnende Tataren. Die Familie Khairetdinov pflegte den meist in tiefer Ohnmacht Liegenden, sie rieben seinen mit Wunden übersäten, verletzten Körper mit tierischen Fetten ein, wickelten den geschundenen Körper in Filzdecken und stellten brennende Kerzen an seine Lagerstatt, sogenannte Hasenkerzen, Kerzen in Hasenform. Diese Kerzen sind im Siedlungsgebiet der Tataren weit verbreitet. Hasen gelten von alters her bei den Tataren als Lichtbringer, als Lichtbewahrer. Seit ältester Zeit werden dort Kerzen in Hasenformen gezogen. Noch heute gibt es diese Hasenkerzen in jedem südrussischen Kolonialwarengeschäft. Diese Hasenkerzen, diese lichtspendenden Hasen, waren das Erste und lange Zeit das Einzige, was Joseph Beuys, wenn er aus seiner tiefen Ohnmacht erwachte, sah und wahrnahm.»1 Ob diese Geschichte einer real erlebten Wahrheit entspricht oder eine von Beuys nach dem Absturz intuitierte Erzählung ist, interessiert hier nicht im Detail. Interessant ist in jedem Fall der Ort der Geschichte (Krim/Ukraine) und der Zusammenhang mit Beuys’ Lieblingstier, dem Hasen.
Die eurasische Utopie
Die Tataren-Erzählung verweist auf Beuys’ eurasische Vision, ein Fundament seines politischen Denkens. Während 1968 die Studierenden eine Revolution auf marxistischer Grundlage forderten, eine Verbesserung der Existenz durch ökonomische Veränderung, entwickelte der Künstler seine Eurasien-Performance-Reihe. Darin thematisierte er nicht nur die gewaltsame Konfrontation der Blöcke, sondern richtete – im Unterschied zu den von angelsächsischen ‹Hippies› beeinflussten Linken – den Blick in den spirituellen Osten. Im Mai 1967 rief Beuys den ‹freien demokratischen sozialistischen Staat Eurasia› aus – eine Vision, die das Gegenteil von dem heute imperialistisch geprägten Begriff von Eurasien meint. Im Juni folgte die erste Aufführung von ‹Eurasienstab› in Wien: Zu Orgelmusik und mit liturgischen Bewegungen versuchte der Performer, mit einem Kupferstab sowie Fett und Licht den Energietransfer in alle vier Himmelsrichtungen zu vollziehen – der Ritus einer spirituellen Verteilungsgerechtigkeit im Sinne der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus von Rudolf Steiner.
Die Pflanzaktion der ‹7000 Eichen› eröffnete Beuys mit der Aktion ‹Friedenshase mit Zubehör›. Johannes Stüttgen beschreibt: «Am 30. Juni 1982 fand die von Joseph Beuys schon in der Pressekonferenz zur Eröffnung der documenta 7 angekündigte Schmelzung der Kopie der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen statt. Diese hatte der Künstler von dem Düsseldorfer Gastronomen Helmut Mattner erhalten, der sie Anfang der 60er-Jahre von dem Juwelier René Kern nach dem Original hatte anfertigen lassen, um sie dann in der Düsseldorfer Altstadt-Nobelkneipe ‹Datscha› in einer Glasvitrine auszustellen und sie zuweilen, mit Krimsekt gefüllt, an besonders zahlungswillige Gäste herumzureichen. Ein altes Symbol autokratischer Herrschaftsform, abgewirtschaftet im Kitsch der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft, hatte ausgedient – ein für Joseph Beuys wie geschaffenes Demonstrationsobjekt zur Vorführung seiner Idee ‹Plastik›, welche die Umschmelzung aller verbrauchten Begriffe und Formen, nicht zuletzt des herrschenden Gesellschaftssystems im Ganzen vorsah und mit der gerade begonnenen Skulptur ‹7000 Eichen› real in die Welt überführen sollte. […] Diese Verwandlungsaktion, die gegen organisierte Proteste des Juweliergewerbes und aufgebrachter Bevölkerungskreise öffentlich, da auf dem Podium, aber verdeckt für die meisten – mitten im Gedränge der Journalisten vonstatten ging, hatte eine geheimnisvolle Dramatik, die an ein Ketzertribunal oder eine alchemistische Vorführung erinnerte. Beuys zog die blitzende Zarenkrone aus einer Plastiktüte, zeigte sie mit ausgestreckter Hand der Menschenmenge und sprach ins Mikrofon: ‹Es geht jetzt los! Es wird also jetzt die Krone Iwans des Schrecklichen eingeschmolzen. Ich zeige sie euch noch mal.› Dann zog er sich lächelnd in den inneren Kreis zurück, wo schon das Feuer im provisorischen Ziegelofen entfacht war, schraubte das Kreuz von der Kronenspitze ab und brach, nachdem er alle Edelsteine der Krone behutsam demontiert und mit dem Kreuz in ein Einmachglas gelegt hatte, das Kronengestell auseinander und warf jedes einzelne Goldblechteil in ein in die Glut getauchtes Gefäß. Das Einmachglas war mit der Aufschrift versehen: ‹Es kommt alles auf den Wärmecharakter im Denken an. Das ist die neue Qualität des Willens.› Es dauerte, bis die Glut auf 1100 Grad erhitzt war. Beuys rief in rhythmischen Abständen die Namen großer Alchemisten hinein: Agrippa von Nettesheim, Athanasius Kircher, Theophrastus Bombastus, Aureolus von Hohenheim, Paracelsus. Als das Gold zu sieden begann, sprang er auf und schrie über den Friedrichplatz, selbst ein Magier im Zustand der Verzückung geworden: ‹Jetzt ist das Gold gesunken! Das Gold – das Gold – es blickt! Das Gold – es blickt, es blickt!› Die feste Form des Metalls war durch die Wärme in chaotische Energie verwandelt worden. Und nun konnte die pratzende Tinktur in eine neue Form gegossen werden, die der Künstler vorbereitet hatte, bis dahin nur ihm bekannt: in die Form eines Hasen.
Hasensymbol
Beuys hatte die Grundprinzipien seiner ‹Theorie der Plastik›, bezogen auf die drei Aspekte Chaos – Bewegung – Form, die schon bei Paracelsus als sulphur – mercurius – sal auftreten, diesmal am Gold vorgeführt. Herausgekommen war der Hase. Dieses Tier hatte er Zeit seiner Aktionen immer wieder als Zeichen der Liebesverbindung von Himmel und Erde, der Beweglichkeit und des Friedens sowie des Zusammenhangs von Ost und West (Eurasia) eingesetzt. Aus dem restlichen Gold goss er eine kleine Sonnenkugel und rief: ‹Nun haben wir einen Hasen und die Sonne!› Beuys nannte ihn den Friedenshasen. Das Kunstwerk befindet sich heute in der Staatsgalerie in Stuttgart. Sein Erlös floss, wie von Anfang an vorgesehen, vollständig in die ‹7000 Eichen›.2
Im Rahmen der Free International University (FIU) entwickelten wir aus dieser Aktion unser Signet. Es war auch zunächst das Logo der Anfang der 1980er-Jahre von Achberg ausgehenden Bewegung für die dreistufige Volksgesetzgebung.
Ukraine und Mitteleuropa
Dass die Krone nun ausgerechnet eine Kopie der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen war, mag irritieren. Man fragt sich, wer heute Iwan der Schreckliche ist. Hatte Beuys da eine Intuition? Nach neuesten ‹Messungen› liegt jedenfalls der südwestliche Teil der Ukraine in Mitteleuropa. «Dilowe (im Dreieck Rumänien/Ungarn/Slowakei) ist ein Dorf im Südwesten der Ukraine an der rumänischen Grenze. 1977 wurde dort eine Stele mit einer Inschrift aufgestellt, die besagt, dass hier der geografische Mittelpunkt Europas liegt.»3
Was bedarf es heute mehr als einer Vision, die Europa mit Asien verbindet, und zwar gerade nicht nur auf wirtschaftlicher, sondern insbesondere auf ideell-kultureller Ebene? Haben wir es denn nötig, Putin im russischen Reich zu bedrängen? Der Hase schlägt Haken, wenn einer seiner Brüder (Ukraine?) in Bedrängnis gerät. Der ‹Eurasische Hase› wäre jener, welcher hin- und herrast «von Wladiwostok bis Ostende», 11 750 Kilometer, und die beiden Enden verbindet, anstatt Waffen zu liefern. Oder sollte er das doch auch tun, da der Hase sich durchaus auch verteidigt, wenn es um seine Jungen geht? Müssen wir Putin mal nach Achberg einladen? Oder besser überlegen, wie wir die russische Zivilgesellschaft unterstützen können? Ich zitiere Beuys aus einem Vortrag, den er am Schweizer Bodensee-Ufer 1985 gehalten hat: «Also nicht immer die Angst vor den Russen haben. […] Ist es eigentlich immer so wichtig, dass wir hier am Bodensee Bodensee-Leute haben? Hier könnten doch durchaus auch Russen wohnen. Und die Leute am Bodensee könnten doch durchaus auch in Moskau wohnen. Wäre das denn vielmehr überhaupt eine intensive Möglichkeit, wenn die alle hier reinspazierten, die Russen, dass man mal mit ihnen in ein Gespräch käme?»4
Für Beuys war der Hase «das Zeichen der Bewegung, ganz besonders in der eurasischen Steppe, zwischen Ost und West und West und Ost. Wir werden also dieses friedliche Tierchen, was ja auch jedes Kind kennt, zum Friedenssymbol machen. Da sind wir allerdings verpflichtet, das Problem von Ost und West und West und Ost auch zu lösen. Und das haben wir uns vorgenommen.» (Beuys im ‹WDR›-Interview am 16. März 1982)
Immer in Bewegung
Jede Zeit hat ihre eigenen Gesetze. Aus diesem Grund mag ich auch nicht beurteilen, warum sich Beuys im Frühjahr 1941 freiwillig zur Luftwaffe meldete und für zwölf Jahre verpflichtete. Am 4. März 1944 wurde er von der russischen Flak abgeschossen und notlandete in einem Schneesturm auf der Halbinsel Krim, wobei sein Flugkamerad ums Leben kam. Er zieht daraus die Konsequenz, dass wir eine permanente Verbindung und Bewegung zwischen West und Ost brauchen. Diese Bewegung ordnet er dem Eurasischen Hasen zu, wobei Mitteleuropa, zu dem Teile der Ukraine gehören, eine zentrale Stellung zukommt. Der Eurasische Hase verteidigt sein Recht auf Existenz – auch mit den ihm eigenen Waffen. Zugleich verhindert er die Ausdehnung des großrussischen Reiches nach der Mitte hin. Aber er ist permanent in Bewegung, um die scheinbar unversöhnlichen Gegensätze zu verbinden, zumindest in ein Gespräch zu bringen. Weder hat der Westen das Recht, große Teile der Ukraine und von Belarus unter seinen Einfluss zu zwingen, noch hat Osteuropa das Recht, seine staatliche Macht nach Mitteleuropa auszudehnen.
Aus dem restlichen Gold goss Beuys eine kleine Sonnenkugel und rief: ‹Nun haben wir einen Hasen und die Sonne!› Beuys nannte ihn den Friedenshasen.
Ein Europa der Regionen?
Der Nationalstaat hat scheinbar ausgedient. Der direktdemokratische Weg war schon immer einer, welcher der Demokratie und der Freiheit am nächsten kam. Wieso sollten nicht ukrainische Regionen in international beobachteten Abstimmungen darüber befinden, zu welcher Hemisphäre sie gehören wollen – immer unter der Devise der ‹Subsidiariät›, also einer Regulierungskompetenz (oder Gestaltungskompetenz). Die Gesetzgebung und andere Zuständigkeiten sollten auf der kleinstmöglichen Ebene stattfinden. Und es sollte Freiheit im Geistesleben herrschen. Die europäische Gemeinschaft spränge erst ein, wenn die Mitgliedstaaten bestimmte Aufgaben nicht ausreichend bewältigen können oder wenn Ziele und Aufgaben auf eu-Ebene besser zu erreichen sind. Waffen habe da gar nichts verloren, weder von der einen noch von der anderen Seite, wobei die ukrainischen Regionen das Selbstbestimmungsrecht besitzen, zu entscheiden, welcher Hemisphäre sie angehören wollen!
Da Waffen aber vor einem Jahr von russischer Seite eingebracht wurden, hat die Ukraine auch das Recht, sich mit Waffen zu verteidigen, sodass die umkämpften Gebiete in ihre Selbstverwaltung überführt werden können. Im künstlerischen Bild kann man eine Vision zeigen. Die Realpolitik aber hat die Aufgabe, konkrete Lösungen zu finden.
Das Signet ‹Hase und Sonne› ist als Aufkleber, Anstecker und Aufnäher beim FIU Verlag erhältlich.
Footnotes
- ‹Museum der unerhörten Dinge› Wie Joseph Beuys auf den Hasen kam
- Die Einschmelzung der Zarenkrone
- Dilowe
- ‹Aktive Neutralität – Die Überwindung von Kapitalismus und Kommunismus›, Vortrag Rorschach/Schweiz, Januar 1985, aufgezeichnet und publiziert vom/im FIU-Verlag als Heft, CD und DVD.
Lieber Rainer
Danke für Deinen umsichtig-verbindenden-künstlerisch-einfühlsam-in-Bewegung-bringenden Artikel.
Ich stimme voll zu.
Herzlichen Gruß
Kai Hansen
Freut mich! Danke, lieber Kai Hansen! Rainer Rappmann