Zur Kulturtagung ‹Rilkes orphische Wege› der Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum. Mit Rainer Maria Rilkes orphischen Wegen sind sein Weg als Dichter und seine Beziehung zu den Toten gemeint. Es war keine Veranstaltung für Germanisten, sondern eine Einführung in die biografische Seite von einem, der sich entschlossen hatte, sein Leben der Sprache, der individuellen Sprachwerdung hinzugeben, ein innerlich unabhängiges Leben für die Kunst und Spiritualität.
Rilke, der «letzte fahrende Sänger» (J. R. von Salis), verbrachte die letzten Jahre seiner Lebenszeit in der Schweiz, zeitweise mehrere Monate in der Umgebung von Basel und wenige Kilometer von Dornach entfernt, wo er auch das im Bau befindliche Goetheanum besuchte, aber davon eher befremdet war. «Die Schweiz und die Schweizer haben mir in den letzten Jahren so ungemeinen Schutz, so viele Hülfe, ja vielleicht Rettung gewährt …»
Ferne zur Anthroposophie – Nähe zu Anthroposophen
Eineinhalb Jahre vor seinem Tod ließ Rilke sich vom jungen Anthroposophen Camille Schneider von Paris aus nach Straßburg und zum Isenheimer Altar in Colmar begleiten, mit besonderem Interesse für die Antoniter und die Darstellung des heiligen Antonius, der als Einsiedler mit Dämonen und Monstern kämpfte. Auffällig ist, wie Rilke immer wieder in die Nähe von Rudolf Steiner, von Anthroposophen und anthroposophischen Inhalten gekommen ist – und die Distanz und eigene Selbständigkeit aufrechterhielt. Insofern ist eine Tagung am Goetheanum wie diese eigentlich naheliegend, die sich mit Rilke, seinem Lebensgang, seiner Dichtung und seinem Umgang mit den Toten beschäftigt.
Natürlich bedauern Anthroposophen, dass der suchende Rilke kaum etwas von Steiners Erforschungen mitbekommen hatte. Andererseits wächst der Respekt vor dem Dichter, je mehr man sich mit anthroposophischem Verständnis auf seine Dichtungen, auf Äußerungen in seinen Briefen und auf seinen Lebensweg einlässt. «Was wir von ihm lernen können, ist eine Existenz, die von und in der Schwellenluft lebt und im Wechsel von Diesseits und Jenseits sich gleichsam auf dem von keiner Räumlichkeit geprägten Ort der Schwelle einrichtet, in einem Hin- und Herweben, wie in einem ‹Wehn im Gott›.» (Christiane Haid)
‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge›
Jaap Sijmons ist Jurist und Professor für Gesundheitsrecht und war bis vor Kurzem Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden. Sein Beitrag führte in Rilkes Lebensbogen und seine Pariser Jahre ein und in den dort mehrheitlich spielenden Roman ‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge›, der mit dem Satz beginnt: «So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.» Der Blick geht geradezu dem Morbiden entlang zu Hospitälern, Sanatorien, Krankenzimmern, reflektiert Kranke und Sterbende und erinnert sich an das frühere Wissen vom Tod, den man in sich hat wie die Frucht den Samen. Wobei die Kinder einen kleinen solchen Samen in sich haben und die Erwachsenen einen großen. Sijmons Bogen spannte sich zurück bis an die Erinnerungsschwelle der frühen Kindheit, die uns die allerersten geheimnisvollen Erlebnisse unerreichbar verhüllt. In diesen merkwürdigen Aufzeichnungen und Erzählungen geht’s kurz bis nach Eckernförde und zum Grafen St. Germain, der dort gestorben ist. Sijmons gelang mit feiner Zurückhaltung, den ‹Malte› mit Zügen von Orpheus zu zeigen, der mit der Welt der Toten in Berührung kommt.
‹Briefe an einen jungen Dichter›
Erich Unglaub, emeritierter Professor für Gemanistik und Präsident der internationalen Rilke-Gesellschaft, war leider erkrankt, aber sein Vortrag konnte wenigstens vorgelesen werden. Unglaub hat die zehn ‹Briefe an einen jungen Dichter› neu herausgegeben, und zwar zum ersten Mal zusammen mit den Briefen des Briefpartners Franz Xaver Kappus. Die Briefe Rilkes enthalten ein bis heute aktuelles Werk- und Lebenskonzept, mit radikalen Empfehlungen an (junge) Dichter und Künstler. Dabei geht die existenzielle Gewissheit der Berufung zum eigenen Dichter- und Künstlersein den Produktionen voraus. «Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand.» Der Kreative soll sich ganz von Tradition, Konvention, Regeln und Gelehrsamkeit befreien und nur auf sich gestellt sein, seinen eigenen Weg finden. «Die innere ‹Notwendigkeit› des Künstlers trat an die Stelle von Normen, Regeln und Maßstäben der Kunst.» In der Ausbildung am New Yorker Actors Studio gehörten diese Briefe zur Studienlektüre späterer Holywoodschauspieler. «Marilyn Monroe, Dennis Hopper, Jane Fonda, Dustin Hoffman verweisen auf die Wegweisung durch diese Briefe während ihrer professionellen Ausbildung. Dustin Hoffman erklärte bei einer Preisverleihung (2003): ‹It’s my bible. Someone gave it to me when I started acting. I read it over and over again.›» Die Briefe wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und schätzungsweise gegen eine Million Mal weltweit gedruckt. Unglaub erklärt den Erfolg dieser kleinen Schrift dadurch, dass sie von Kreativen und (jungen) Künstlern im Moment der existenziellen Entscheidung als eine Art ermutigendes Handbuch genommen werden können.
Orphische Praxis – Begegnungen mit der Welt des Geistes und dem Tod
Im Zusammenhang mit dem Tagungsakzent und Rilkes Haltung ist folgende Briefstelle aufschlussreich: «Wir müssen unser Dasein so weit als es irgend geht annehmen; alles, auch das Unerhörte, muss darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. Dass die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen Schaden getan; die Erlebnisse, die man ‹Erscheinungen› nennt, die ganze sogenannte ‹Geisterwelt›, der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, dass die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, verkümmert sind. Von Gott gar nicht zu reden.»
«Wir müssen unser Dasein so weit als es irgend geht annehmen; alles, auch das Unerhörte, muss darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann.»
Rainer Maria Rilke
Wilbert Lambrechts, Dichter und ehemaliger Waldorflehrer, hat vor Kurzem in Belgien einen Zweig der Sektion für schöne Wissenschaften begründet. Mit besonderer Anteilnahme beschäftigt er sich seit Jahren mit den sogenannten ‹Requiem›-Gedichten Rilkes, die von der Literaturwissenschaft eher stiefmütterlich behandelt werden. Dazu gehören: ‹Requiem an eine Freundin› (gemeint ist Paula Modersohn Becker, die 31-jährig kurz nach der Geburt ihres Kindes starb); ‹Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth›, der mit 19 Jahren Selbstmord beging, er war Übersetzer von Baudelaires Gedichtband ‹Fleur du Mal› (dieses Requiem endet mit den Worten «Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles») und ‹Requiem auf den Tod eines Knaben›. Diese Requiems sind keineswegs Nachrufe, wie Lambrechts deutlich machte, sondern Zwiegespräche mit den Verstorbenen.
Rilkes Requiems sind keineswegs Nachrufe, sondern Zwiegespräche mit den Verstorbenen.
Nach Lambrechts gibt es eine neue orphische Praxis. Orpheus, der Ursänger und Urdichter, machte seit der vorchristlichen Zeit eine Entwicklung und Metamorphose durch, er hilft jetzt den Toten und hilft beim Zugang zu den Toten. Lambrechts scheute sich nicht vor seinen eigenen Gefühlen, was der Tagung eine besonders intensive und farbige Note bescherte.
Engel- und Hüterbegegnungen
René Madeleyn, ehemals leitender Kinderarzt an der Filderklinik, hatte mit Christiane Haid den Anstoß zu dieser Tagung gegeben. Durch die kürzlich erfolgte Wiederveröffentlichung eines Briefwechsels machte er den Anthroposophen eine vergessene Beziehung zwischen Rilke und einer Schauspielerin der Goetheanum-Bühne bekannt. Diese Freundschaft begann in München, als Elya Maria Nevar noch Studentin war, und, nachdem sie zur Anthroposophie gefunden hatte, an Steiners ‹Dramatischem Kurs› in Dornach teilnahm, später die tragenden Rollen des Luzifers in Steiners ‹Mysteriendramen› und der Helena in Goethes ‹Faust› spielte. Madeleyn ging Rilkes Beschäftigung mit dem Thema Engel nach und zeigte an mehreren Beispielen, wie sich die Sicht Rilkes auf die Engel im Laufe seines Lebens veränderte. Schon im Frühwerk steht der Engel für alles Idealische, für alles, was zunächst zu groß, unerreichbar erscheint. Später ist der Engel dann das Wesen, mit dem der Dichter ringt, von dem er sich im Ausgestalten seiner Dichtungen überwinden lässt und der in den Elegien Züge des in der Anthroposophie bekannten Hüters der Schwelle annimmt.
Auf der Suche nach einem wirklichen Arzt – Rilkes Krankheits- und Todesverständnis
Peter Selg, Mediziner und Dozent an der Universität Witten/Herdecke, bekannt durch seine Vorträge und Buchpublikationen zur anthroposophischen Grundlagenforschung und Geschichte, ist auch ein Kenner der Literatur. Obwohl Selg Arzt geworden ist, lebt und arbeitet er heute vor allem als Schriftsteller. So ging Selg vielleicht besonders nah, dass Rilke nach Abschluss des ‹Malte›-Romans erwog, Medizin zu studieren, um am liebsten Arzt auf dem Land oder mindestens Krankenpfleger zu werden. Rilke rang ein Leben lang mit der Medizin und den Ärzten und war bis zum Schluss auf der Suche nach einem wirklichen Arzt für sich selbst. Er starb 51-jährig an Leukämie.
Mit Selg wurde der Innenraum des Turmschlösschens Muzot im schweizerischen Wallis betreten und damit gelang die Aufmerksamkeit auf Rilkes letzte Lebens- und Krankheitsjahre und seinen Tod. Er beleuchtete Rilkes Ringen um ein Krankheits- und Todesverständnis.
Mit Selg wurde der Innenraum des Turmschlösschens Muzot im schweizerischen Wallis betreten und damit gelang die Aufmerksamkeit auf Rilkes letzte Lebens- und Krankheitsjahre und seinen Tod. Er beleuchtete Rilkes Ringen um ein Krankheits- und Todesverständnis. Rilke durchlitt äußerst schmerzhafte letzte Tage und Monate, er verweigerte die Annahme von schmerzlindernden Mitteln, wenn sie ihm das Bewusstsein trübten, er wollte die Schwelle erkennend und im Bewusstsein überschreiten. Rilke legte auch testamentarisch fest, dass er sich jeden priesterlichen Beistand verbiete, «der Bewegung meiner Seele, aufs Offene zu, wäre jeder geistliche Zwischenhändler kränkend und zuwider». Selg zitierte den jungen Jean Rudolf von Salis und seinen Eindruck am Totenbett: «Das magere, fast braune Gesicht, auf dem die Brandblasen schwarze Flecken hinterlassen hatten, die wunderbare Stirn, die den entschwundenen Geist in ihrer edlen Fassung noch auszudrücken schien, am Kinn der neue Bart, beinahe schwarz, und die schweren, über das große Geheimnis gesenkten Lider – ein hieratischer Kopf wie von einem vornehmen Perser oder Inder, von einem Weisen, der von weit her gekommen war für ein kurzes Leben und der jetzt, nach überstandenem Martyrium, unfasslich leblos auf seinem Sterbebett lag.»
‹Orpheus› – Mythos und Urbild des Dichters
Christiane Haid, Germanistin, Leiterin der Sektion für Schöne Wissenschaften und des Verlags, nahm sich den ‹Sonetten an Orpheus› an. Mit ihrem Beitrag wurden das Leben und der Tod, die Lebenden und die Toten zur Einheit, wie sie für Rilke selbstverständlich ist. Der Tod als das Samenkorn im Leben, in der Lebensfrucht, wie es im ‹Malte› heißt. So erhält der erste, zunächst salopp empfundene Satz des ‹Malte› noch eine weitreichendere Bedeutung: «So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.» Wir kommen hier auf die Erde, um zu leben UND um zu sterben. Dies hat seine Bedeutung. Rilke erhielt in Muzot die Tagebuchaufzeichnungen der Mutter von Wera Ouckama Knoop vom Krankheitsverlauf ihrer Tochter, die eine Freundin seiner Tochter Ruth war und 19-jährig an Leukämie starb. Kurz darauf gelang ihm endlich nach zehnjährigem Ringen und Abwarten die Vollendung der ‹Duineser Elegien›. Ganz unerwartet entstanden danach noch, wie im Diktat geschenkt, die 55 Sonette des Zyklus ‹Sonette an Orpheus – Geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop›.
Haid betonte, wie Rilke den vorchristlichen Mythos des Orpheus weiterführte, Orpheus steigt nicht mehr nur ins Reich der Toten, er übersteigt den Tod, wie später der Christus. «Gelingt es, sich als Teil der Natur so zu verstehen, dass man sie verwandelnd über sich erhebt?» Das gelingt mit dem für Rilke zentralen Motiv der Wandlung und Verwandlung. Denn der Mensch hat nach Rilke eine Samenkorn-Aufgabe, einen wesentlichen Auftrag an der zerbrechenden, hinsterbenden Erde, wie er es kompromisslos deutlich in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Withold Hulewicz formulierte: «Unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht.»
Eine besondere Bereicherung während der ganzen Tagung war Katja Axe mit ihren eindringlichen, klaren und ungekünstelten Lesungen und Rezitationen der von den Referenten gewünschten (zum Teil langen) Gedichte, für mich außerordentlich eindrücklich ihre Interpretation des mir unbekannten ‹Requiem auf den Tod eines Knaben›.
Ein kleiner Kern; ich gönne ihn den Straßen,
ich gönne ihn dem Wind. Ich geb ihn fort.
Denn daß wir alle so beisammen saßen,
das hab ich nie geglaubt. Mein Ehrenwort.
Ihr spracht, ihr lachtet, dennoch war ein jeder
im Sprechen nicht und nicht im Lachen. Nein.
So wie ihr alle schwanktet, schwankte weder
die Zuckerdose, noch das Glas voll Wein.
Der Apfel lag. Wie gut das manchmal war,
den festen vollen Apfel anzufassen,
den starken Tisch, die stillen Frühstückstassen,
die guten, wie beruhigten sie das Jahr.
Und auch mein Spielzeug war mir manchmal gut.
Es konnte beinah wie die andern Sachen
verläßlich sein; nur nicht so ausgeruht.
So stand es in beständigem Erwachen
wie mitten zwischen mir und meinem Hut.
Da war ein Pferd aus Holz, da war ein Hahn,
da war die Puppe mit nur einem Bein;
ich habe viel für sie getan.
Den Himmel klein gemacht, wenn sie ihn sahn, –
denn das begriff ich frühe: wie allein
ein Holzpferd ist. Daß man das machen kann:
ein Pferd aus Holz in irgend einer Größe.
Es wird bemalt, und später zieht man dran,
und es bekommt vom echten Weg die Stöße.
Warum war das nicht Lüge, wenn man dies
‹Pferd› nannte? Weil man selbst ein wenig
als Pferd sich fühlte, mähnig, sehnig,
vierbeinig wurde – (um einmal ein Mann
zu werden?) Aber war man nicht
ein wenig Holz zugleich um seinetwillen
und wurde hart im Stillen
und machte ein vermindertes Gesicht?
Rainer Maria Rilke, Auszug aus: Requiem auf den Tod eines Knaben
Literatur
Christiane Haid, Dass ihr Wesen in uns aufersteht. Rilkes Sonette an Orpheus. ‹Das Goetheanum›, 6/2020.
René Madeleyn (Hg.), Dichter und Prinzessin. Rainer Maria Rilke und Elya Maria Nevar. Eine Freundschaft in Briefen, Aufzeichnungen und Dokumenten. Dornach 2019.
Peter Selg, Rainer Maria Rilke und Franz Kafka. Lebensweg und Krankheitsschicksal im 20. Jahrhundert. Dornach 2009.
Erich Unglaub (Hg.), Rainer Maria Rilke. Briefe an einen jungen Dichter. Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus, Göttingen 2019.