Jacques Lusseyran erblindet als Kind. Doch er lernt, mit seinen inneren Sinnen zu sehen. Als Widerstandskämpfer im besetzten Paris und als KZ-Häftling in Buchenwald wird er vielen zum Licht in dunkelster Zeit. Eine Lesung am Goetheanum macht diesen Menschen erlebbar.
Philipp Tok: Warum gestaltest du so einen dunklen Stoff von Krieg und Folter?
Richard Schnell Im Dunkelsten offenbart sich das Lichteste. Lusseyrans Geschichte ist nicht nur dunkel, sie ist vor allem erhellend. Sie ist der ergreifende Beweis, dass man der Finsternis etwas entgegensetzen kann: ein inneres Licht. Und dieses Licht kann Quelle für Zuversicht, Mitgefühl und Liebe sein.
Ein inneres Licht?
Ja, 1932, als noch Siebenjähriger verunglückt Jacques Lusseyran schwer. Ein Brillenarm bohrt sich in sein rechtes Auge, das linke wird durch den Druck des Glases zerstört. Sein Augenlicht ist verloren. Für den Jungen bricht die Welt zusammen, doch in der Dunkelheit macht er eine folgenreiche Entdeckung: «In mir ist ein Licht, das durch nichts ausgelöscht werden kann. – Ich entdeckte das Licht und die Freude im selben Augenblick.» Ihm zeigte sich eine tiefere Wirklichkeit; nicht nur ein verfeinertes Sehen, auch ein moralischer Quell des Daseins: Zehn Jahre später reift in ihm durch eine schwere Masernkrankheit der Entschluss, die Hoffnungs- und Mutlosigkeit von fünf Millionen schweigenden Menschen im besetzten Paris nicht mehr hinzunehmen: Er gründet die Widerstandsgruppe ‹Volontaires de la Liberté›. Sie drucken Flugblätter, organisieren Sabotageakte und verstecken Verfolgte. «Die Illusion, wichtig zu sein – sie hatte nicht einer von uns. Die Gewissheit, nötig zu sein – sie hatten wir alle.» 1943 fliegt die Gruppe auf. Monatelange Verhöre und Folter durch die Gestapo folgen. Doch selbst im KZ Buchenwald verliert er den Lebensmut nicht: «Ich spüre, dass wir stärker sind als die Finsternis um uns herum.»
Was meint ‹Sehen ohne Augen›?
Eine ganze Menge! Lusseyran entwickelt eine ungeahnte Sensibilität. Er beschreibt ein ‹Tastsehen›, ein ganzheitliches Erfassen der Welt durch das Zusammenspiel aller Sinne. Wie auf einem inneren Radarschirm zeichnen sich Gesichter, Gegenstände und Räume in seinem Geist ab, oft klarer und vollständiger als zuvor mit den Augen. Doch auch die Grenzen zwischen innen und außen lösen sich auf. Die Erfahrung einer tiefen Verbundenheit mit allem Lebendigen wird zur Quelle seiner Zuversicht. «Wenn ich durch den Wald gehe, spüre ich die Bäume wie Freunde um mich herum», berichtet er. Auch sein Gehör verschärft sich: «Wenn ich einen Raum betrete, höre ich die Anwesenheit von Menschen, noch bevor sie sprechen. Jeder Mensch trägt eine einzigartige Melodie in sich, die in den Raum hinausschwingt.»
Er kann sein Licht in den dunkelsten Stunden bewahren?
In Buchenwald wird er auf eine harte Probe gestellt. Als seine Freunde verlegt werden und er allein zurückbleibt, überkommt ihn Verzweiflung. Er spürt, wie Finsternis von ihm Besitz ergreift. Er beginnt die anderen anzufeinden, wird bitter und verschlossen, sein neuer Sinn versagt. Es gibt Zeiten, in denen das Licht nachlässt: «Das ist immer der Fall, wenn ich Angst habe: Was der Verlust meiner Augen nicht hat bewirken können, bewirkt die Angst: Sie macht mich blind. Ich werde buchstäblich von Nebel, von Rauch umhüllt. Die schlimmsten Folgen aber hat die Boshaftigkeit. Ich kann es mir nicht leisten, missgünstig und gereizt zu sein, denn sofort legt sich eine Binde über meine Augen, augenblicklich tut sich um mich ein schwarzes Loch auf und ich bin hilflos.» Er darf der Gewalt in sich keinen Raum geben, wenn er das Licht in seiner Seele bewahren will.
In einer mehrwöchigen Krankheit, die ihm das Gehör nimmt und ihn ganz in sich zurückziehen lässt, macht er in der Isolation eine mystische Erfahrung: «Das Leben war eine Substanz in mir geworden. Sie drang mit einer Kraft, die tausendmal stärker war als ich, in meinen Käfig ein. Sie kam wie eine hell schimmernde Welle, wie eine Liebkosung von Licht, auf mich zu.» Im Bewusstsein des nahenden Todes nimmt er wieder ein Licht, den Hauch Gottes, wahr, und er ergreift sich und sein Leben erneut und geht auf eigenen Beinen aus dem Krankenbau. Von nun an stiehlt ihm niemand mehr sein Brot noch seine Suppe, mehr noch, ein SS-Mann gibt ihm jeden Tag eine Extraration Brot. «In ihm sehe ich eine tiefe Traurigkeit und verstehe: Auch in der dunkelsten Seele ist noch ein Funken Menschlichkeit.» Trotz Hunger, Gewalt und Willkür strahlt Lusseyran: Er organisiert heimlich Französischkurse, informiert über die Kriegslage, hört Mithäftlingen zu. Abends rezitieren sie Gedichte, philosophieren, teilen ihre Träume: «Das hilft uns, unsere Seele lebendig zu halten.»
Was hat sein Sehen mit dir zu tun?
Sehr viel! Sein wichtigster Rat: Jeder Mensch trägt dieses Licht in sich, diese Klarheit, diesen inneren Kompass. Wir müssen nur lernen, ihm zu vertrauen – gerade in Zeiten der Dunkelheit. Er ist kein abgehobener Heiliger, sondern ein feinfühliger Realist. Er weiß um die zerstörerischen Kräfte, aber weigert sich, ihnen das letzte Wort zu geben: «Dunkelheit hat keine eigene Existenz», sagt er. «Sie ist nur die Abwesenheit von Licht. So ist es auch mit dem Bösen – es hat keine Substanz, es ist die Verneinung des Guten. – Es ist so leicht, verbittert zu werden angesichts des Leids. Aber damit lassen wir das Dunkle siegen. Unsere Aufgabe ist es, uns immer wieder neu für das Leben, für das Licht zu entscheiden.» «Mein Wort! Um meine Freunde herum war die Luft anders als gewöhnlich. Man roch hier die Freude. Selbst wenn sie traurig waren, selbst wenn sie von ihrem Tod sprachen, roch es gut, gab es einem Auftrieb. – Der Krieg ist ein schmutziges Geschäft, doch ich wünschte, die Menschen brächten es fertig, wenigstens im Frieden so zu sein, wie meine Freunde in diesem Krieg waren.»
Und warum einer mehrstündigen Lesung zuhören?
Es ist eine Chance, in die Welt eines außergewöhnlichen Menschen einzutauchen. Lusseyran ist jemand, der Grenzen von innen her sprengt: zwischen Sehen und Nichtsehen, Licht und Schatten, Gut und Böse. Mut zur Menschlichkeit – gegen alle Widerstände. Ihm zuzuhören heißt, die eigene Wesenheit zu weiten. Er lädt uns ein, tiefer zu schauen, genauer hinzuhören – bei den Dingen und bei uns selbst.
Veranstaltung
Zum 100. Geburtstagsjahr von Jacques Lusseyran lädt die Goetheanum-Bühne zu einer dreiteiligen Lesung aus seinem Werk ‹Das wiedergefundene Licht›. Ein Tag, um diesem Menschen und seiner lichtdurchdrungenen Zuversicht zu begegnen. Es lesen und musizieren Richard Schnell (Lesung/Textfassung) und Fritz Nagel (Musik/Komposition). Außerdem zu sehen: Bildhauerei von Barbara Schnetzler.
23. Juni 2024, 11 Uhr, Kindheit; 14 Uhr, Résistance; 16 Uhr, Buchenwald; Ende ca. 17.20 Uhr.
Bild Jacques Lusseyran