Von der Kindheit in der Coronakrise und dem Mut des Lehrers zur Wahrheit.
Am 8. Mai jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und damit die Befreiung von einer faschistisch-rassistischen, biopolitischen Ordnungsdiktatur, die das individuelle Leben und den sogenannten ‹Volkskörper› regulierte. Der Ansatz der Unterdrückung bediente sich einer medizinisch-epidemiologischen Ideologie, wie Peter Selg in einem bemerkenswerten Aufsatz darlegte.(1) Minderheiten, Behinderte und Kranke wurden mitunter als ‹Viren› und ‹Schädlinge› am deutschen Volkskörper bezeichnet, mit Rasseausweisen und Judensternen gekennzeichnet und mittels Rassegesetzen, Euthanasie und Vernichtungslagern bekämpft, selektiert, sterilisiert und ermordet. Die Maßnahmen wurden medizinisch-therapeutisch und ‹ethisch› gerechtfertigt. Die Aufarbeitung der unsäglichen Rolle der Medizin im Nationalsozialismus erfolgte durch den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der den Abschlussbericht seiner Dokumentation 1949 unter dem Titel ‹Wissenschaft ohne Menschlichkeit› vorlegte.(2)
Kurz zuvor verfasste der Schriftsteller Wolfgang Borchert einen Prosatext mit dem Titel ‹Dann gibt es nur eins: Sag Nein›.(3) In diesem Manifest zog Borchert die moralischen Konsequenzen angesichts der jüngsten Vergangenheit und forderte seine Mitmenschen auf, die Teilnahme an zukünftigen Kriegen zu verweigern.
Eine neue Normalität?
Nach dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron befinden wir uns gegenwärtig verbal wieder in einem Kriegszustand: «Wir sind im Krieg. […] der Feind ist da, unsichtbar – und er rückt vor.» (4) Der Kampf gegen das Virus folgt rhetorisch und methodisch einer Kriegslogik, die eine massive Beschneidung der Grundrechte, Ausgangsbeschränkungen, Zwangsisolierungen, die Schließung von Bildungseinrichtungen, die Diskussion um Zwangsimpfungen und Triage nach sich zieht: ‹Shutdown!› In einem Interview sagte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz: «Danach wird die Welt anders aussehen.» (5)
Eine Ausrichtung innerhalb der Virologie und Epidemiologie, die z. B. durch das Robert-Koch-Institut repräsentiert wird, hat in der Coronakrise unter Ausblendung aller anderen medizinischen, politisch-gesellschaftlichen, ökonomischen und psychologischen Perspektiven de facto das politische Handeln bestimmt. Rudolf Steiner warnte in vielen seiner Vorträge vor dieser Einengung der Beurteilung gerade im Umgang mit Infektionskrankheiten.(6) Dadurch und durch die sich darauf gründenden Maßnahmen können sich negative Entwicklungen ergeben, die gesamtgesellschaftlich den möglichen Schaden durch das Virus übersteigen. Wann gab es so etwas, dass fast weltweit christlichen Kirchen der persönliche Zugang zum öffentlichen Vollzug des Osterkultus verboten war, Sterbenden auf Intensivstationen und in Pflegeheimen das Abschiednehmen von ihren Angehörigen untersagt oder eingeschränkt wurde und die Teilnahme von Angehörigen an Bestattungen behördlich reglementiert und beschränkt wurde? Obgleich die Gefährlichkeit des Virus unzweifelhaft ist, scheint es, als würde hier ein drohender Zimmerbrand mit der Flutung einer ganzen Stadt bekämpft.
Gleichzeitig vollzieht sich mit der Digitalisierung der ‹Bekämpfung› ein epochaler Paradigmenwechsel. Es sind nicht nur Virologen und Epidemiologen, sondern vor allem auch Informatikspezialisten und Big-Data-Experten, die die Verbreitung des Virus stoppen wollen. Es wurden Forderungen laut, Warn-Apps zur Kontaktverfolgung gegen das Coronavirus automatisch mit dem nächsten Update zu installieren. Antonella Mei-Pochtler, Leiterin der an das österreichische Kanzleramt angeschlossenen Denkfabrik Think Austria, sagte der ‹Financial Times›: «Das wird die neue Normalität sein. Jeder wird eine App haben.» Alle Europäer müssten sich an Tools gewöhnen, die sich «am Rande des demokratischen Modells» (7) befänden. Es wird angenommen, dass 40 bis 50 Millionen Deutsche ihr digitales Selbstbestimmungsrecht einschränken und die Corona-Tracing-App freiwillig auf ihren Mobiltelefonen installieren werden. (8) Allen anderen drohen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit – was in manchen asiatischen Staaten bereits praktiziert wird. Darüber hinaus sind biopolitische Überwachungssysteme geplant, die auch den Gesundheitszustand unserer Körper einer digitalen Kontrolle unterziehen. Zitat von der Website des Massachusetts Institute of Technology (Stand 10.5.2020): «mit-Forscher haben nun einen neuen Weg geschaffen, die Impfgeschichte von Patienten zu dokumentieren: durch Speicherung der Daten in einem Farbstoffmuster, unsichtbar für das bloße Auge, das zeitgleich mit der Impfung unter die Haut gebracht wird.» (9)
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht bei der Forderung eines Schutzes individueller Freiheitsrechte keineswegs um das Ausleben eines Individualismus auf Kosten der Gesundheit von Mitmenschen. Infektionsbekämpfung kann unter Einhaltung der Verhältnismäßigkeit und unter Abwägung aller Konsequenzen eine parlamentarisch legitimierte, zeitlich befristete und gerichtlich überprüfbare Beschränkung von Freiheitsrechten erforderlich machen, sofern dies sachlich zwingend geboten ist und keine anderen Alternativen möglich sind. Vielen scheinen diese demokratischen Essentials in der Coronakrise nicht ausreichend berücksichtigt worden zu sein.
Das Coronavirus – eine extrane Intelligenz
Zu den sicher gefährlichsten Viruserkrankungen gehört die Tollwut: Das Virus sammelt sich vor allem im Speichel, dessen Schlucken durch Krämpfe verhindert wird. Die Beißwut garantiert die Einschleusung des Virus in das Gewebe neuer Opfer. Der Wandertrieb sorgt für weite Verbreitung. Der ganze Nervenorganismus des Erkrankten ist auf Vermehrung und Verbreitung umprogrammiert. Er folgt einer «fremddienlichen Zweckmäßigkeit» (10). Der Schweizer Biologe Adolf Portmann weist bei der Tollwutinfektion auf die dämonische Natur des Virus hin. (11) Die eigentümliche Intelligenz des primitiven Virus ist in der Lage, die komplexe Funktionalität des menschlichen Nervensystems zu instrumentalisieren, was Portmann als «extranes Wissen» bezeichnet. Darunter ist eine Logik, ein handelnder Sinnzusammenhang zu verstehen. Auch das neue Coronavirus verfügt über eine extrane Logik, die sich sowohl auf der biologischen, als auf der gesellschaftlichen Ebene auswirkt. Dieser Logik folgen auch die Strategien seiner Bekämpfung, die sich in Isolation, Ausgangssperren, Selektion und Lockdowns spiegeln. Wir dürfen dem anderen, der jetzt zur potenziell tödlichen Bedrohung wird, nicht mehr begegnen. Wir tragen Gesichtsmasken und Plastikhandschuhe. Wir werden von unserer Verbindung zum Mitmenschen und zur Welt getrennt, ohne die wir aber in Wirklichkeit nicht existieren können. Die Logik des Virus lässt scheinbar nur einen Weg offen: den Weg in eine virtuelle Welt von Home-Office, Video-Besprechungen und virtuellen Versammlungen. Hinter diesen Scheinbegegnungen droht der kollektive Weg in eine «autistische Gesellschaft» (12). Ist das die «neue Normalität», die uns nach dem Abklingen des pandemischen Schocks erwarten wird?
Die psychischen Probleme werden bleiben
Sicherheit kann krank machen. Eine psychoneuroimmunologische Metastudie aus dem Jahre 2010 zeigt, «dass das Mortalitätsrisiko unter mangelnden Sozialkontakten stärker ansteigt als durch Rauchen oder Übergewicht». (13) Der psychosoziale Kollateralschaden der Pandemiebekämpfung ist schon jetzt unübersehbar: Die häusliche Gewalt stieg während der Zeit der Ausgangssperre um das Dreifache. Der Umgang mit der Coronakrise verursacht massenhaft psychische Probleme. Erste Studien über die Quarantänezeit zeigen eine massive Zunahme von Stress, Depressionen, Ängsten und Schlafstörungen sowie Alkohol- und sonstigen Suchtproblemen. (14) Dies bestätigt auch eine Befragungsstudie des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung in Mainz: «37 Prozent der Befragten zeigten Anzeichen psychischer Nöte.» (15) Besonders scheinen Kinder unter den Maßnahmen zur sozialen Distanz zu leiden. Eltern, Ärzte und Psychologen vermelden Verhaltensauffälligkeiten: erhöhte Konzentrationsprobleme, größere Zappeligkeit und eine besorgniserregende Zunahme von Angstzuständen, Zwängen und Depressionen. Eltern berichten, dass ihre Kinder «nervöser, streitlustiger, unselbständiger – und sorgenvoller» seien. (16) Die in der Isolation entstandenen oder wieder aufgebrochenen Traumata werden mit Ende der Coronakrise keinesfalls verschwinden, sondern nachhaltig wirken. (17)
Die Digitalisierung des Bildungswesens
In seiner Osteransprache sagte Armin Laschet, Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, bezogen auf die Schutzmaßnahmen: «Klar ist: Nichts wird, wie es war!» (18) Das betrifft auch das Erziehungs- und Bildungswesen, das plötzlich in den Fokus des Digitalisierungswahns gerät. Aber auch hier verstärkt die Krise nur bereits vorher bestehende Intentionen: digitales Home-Schooling, virtuelle Klassenzimmer, E-Learning. Erste Erfahrungen von Eltern und Lehrkräften zeigen die engen Grenzen dieser Form des Lernens, die nur unter speziellen Rahmenbedingungen eingeschränkt zu funktionieren scheint: nämlich dort, wo bereits stabile emotionale Beziehungen zwischen Lehrkraft und Kind bestehen, und dort, wo Eltern ihre Kinder im Home-Schooling emotional und pädagogisch unterstützen und so die räumlich unterbrochene Lehrer-Schüler-Beziehung ausgleichen können. Gerade in der Entwicklungspsychologie gilt der fundamentale Grundsatz: «Der Mensch wird erst am Du zum Ich.» (19) Und daran wird auch das Virus nichts ändern.
Das neue Coronavirus und die Art seiner Bekämpfung sind auch an der Waldorf-Welt nicht spurlos vorbeigegangen. Auch das Parzival-Zentrum Karlsruhe, das Schulen und Kindertagesstätten für über 600 Kinder und Jugendliche aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen mit einem besonderen Förderbedarf umfasst, wurde geschlossen. Diese Kinder und Jugendlichen haben zumeist keine Gärten hinterm Haus, sondern leben auf engstem Raum, oft ohne Rückzugsmöglichkeit. Auch in Coronazeiten sitzen nicht alle im selben Boot! Während des ‹Shutdowns› mussten diese benachteiligten Kinder und Jugendlichen in Form digitaler Lernangebote oder analoger Arbeitsmaterialien fernbeschult oder im häuslichen Umfeld durch tägliche Schulbegleitung pädagogisch unterstützt werden. Der Schwerpunkt unserer Betreuung und Beratung lag aber viel mehr in der psychosozialen Stabilisierung der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien. Wir richteten eine bundesweite Krisen-Helpline (0721-680786622) ein sowie ein ambulantes Interventionsteam, bestehend aus medizinischen Pflegekräften, Therapeuten und Psychologen.
Der ‹Shutdown› stellt für Bildung und soziales Lernen eine prekäre Situation dar: den Verlust der Bildungsgerechtigkeit! Gerade diejenigen, die sowieso bereits sozial benachteiligt sind, Kinder und Jugendliche aus sozialen Randgruppen und mit Migrationshintergrund, sind die Leidtragenden. Trotz aller Bemühungen besteht die Gefahr, dass deutschlandweit bis zu etwa einem Drittel der Schülerschaft während des ‹Shutdowns› ‹verloren› ging.
In der Zeit des jetzigen ‹stufenweisen Wiedereinstiegs in einen stark eingeschränkten Schulbetrieb› musste die Schul- und Unterrichtsorganisation aufgrund behördlicher Vorgaben einschneidend verändert werden, mit dem Ziel, Begegnungen zu vermeiden: gruppenspezifische Pausenzonen, getrennte Ein- und Ausgänge, Einbahn-Wegeführung durch die Gebäude, Aufteilung der Klassen in kleinere Lerngruppen und vieles mehr. Wie werden sich derartige Maßnahmen für den Schulorganismus und die beteiligten Menschen auswirken? Was geschieht, wenn Klassenorganismen in Kleingruppen zerschlagen werden? Wie wird es sich auswirken, wenn das Herzorgan des Schulorganismus – die Konferenzen – faktisch in seiner Funktion gestört wird?
Waldorflehrerbewusstsein: ‹Mut zur Wahrheit›
Es geht nicht um Fortschrittsfeindlichkeit und nicht um die Verunglimpfung von politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Handlungsträgern. Die von der deutschen Politik ergriffenen Maßnahmen erscheinen im internationalen Vergleich gemäßigt. Worum es geht, ist die Vereinseitigung eines materialistisch-reduktionistischen, naturwissenschaftlich-technischen Menschen- und Weltverständnisses und der Versuch von dessen brachialer Umsetzung in gesellschaftliche Normen. Dies konnte bereits vor wenigen Monaten an der gesetzlichen Verankerung eines faktischen Impfzwanges im Rahmen des Masernschutzgesetzes beobachtet werden. Und die Diskussion in den Massenmedien über alternative und homöopathische Medizin lässt für die Zukunft nichts Gutes befürchten.
Man ist noch kein Verschwörungstheoretiker, wenn man die philanthropischen Ideale von Bill Gates hinterfragt, seine Impfzwangvisionen ablehnt und seinem demokratisch nicht legitimierten Einfluss auf weltweite gesellschaftliche Ordnungssysteme kritisch gegenübersteht. Eine liberale Demokratie benötigt einen breiten, offenen Diskurs und Meinungspluralismus. Diese Grundlage des demokratischen Gemeinwesens war bereits vor der Coronakrise durch zunehmende autoritäre Denkstrukturen im öffentlichen Leben gefährdet.
Rudolf Steiner forderte die zukünftige Lehrerschaft der ersten Waldorfschule am Ende seines Lehrerbildungskurses 1919 auf, Mut zur Wahrheit zu entwickeln: «Ohne diesen Mut zur Wahrheit kommt er mit seinem Willen im Unterricht, insbesondere bei den größer gewordenen Kindern, nicht aus. Das […] muss aber gepaart sein […] mit einem starken Verantwortungsgefühl gegenüber der Wahrheit.» (20) In der Coronakrise werden weitreichende Weichenstellungen für die Zukunft vorgenommen. Wir leben in einer Entscheidungszeit!
«Die Welt danach wird eine andere sein», sagte der deutsche Bundespräsident Steinmeier in seiner Videobotschaft zur Coronapandemie am 16.3.2020, und er fügte hinzu: «In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wir leben werden, hängt von uns ab.» (21)
Illustrationen: Ella Lapointe, Faces, Vektorisierte Tintenzeichnungen, 2019.
(1) Peter Selg, Eine medikalisierte Gesellschaft? 2020.
(2) Ebd.
(3) Wolfgang Borchert, Gesamtwerk. Hamburg 2007
(4) Spiegel-online; Coronakrise: Macron verhängt Ausgangssperre für Frankreich. 16.3.2020.
(5) Kronenzeitung online vom 18.3.2020.
(6) Rudolf Steiner, Fachwissenschaften und Anthroposophie. Vortrag vom 7.4.1920, 210. Dornach 2005/1920, GA 73 a./ Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin. Vortrag vom 7.4.1920, 328 f., Dornach 1999/1920, GA 312. / Rudolf Steiner, Über Gesundheit und Krankheit. Grundlagen einer geisteswissenschaftlichen Sinneslehre. Vortrag vom 23.12.1922, 141 f., Dornach 1983/1922, GA 348.
(7) Kronenzeitung online vom 4.5.2020.
(8) Welt online, JU-Chef verlangt automatische Installation der Corona-App auf das Handy. 12.4.2020.
(9) Massachusetts Institute of Technology
(10) Klaus Dumke, Aids – die tödliche Befruchtung. Stuttgart 1988.
(11) Adolf Portmann, Biologie und Geist, Kap. 7. Frankfurt a. M. 1973.
(12) Reinhard Lempp, Die autistische Gesellschaft. München 1996.
(13) Rolf Heine, Den Lebensraum des Mitmenschen entdecken. Über die Pflege von Kranken und Gesunden in der Coronaepidemie. In: ‹Goetheanum› 18, 2020. (14) Welt online: Das Wuhan-Syndrom – was die Isolation mit uns macht. 7.4.2020.
(15) Welt online, Alarmierende Studie – Wie sich im Lockdown das Verhalten der Kinder ändert. 22.4.2020.
(16) Ebd.
(17) Stern online, Traumaexpertin Michaela Huber kritisiert Umgang mit der Coronakrise. 2.5.2020.
(18) Bild online «Klar ist: Nichts wird, wie es war» vom 13.4.2020.
(19) Martin Buber, Ich und Du. In: Das dialogische Prinzip. Gütersloh 2006.
(20) Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Vortrag vom 15.9.1919. Dornach 2019/1919, GA 293.
(21) Frank Steinmeier: Videobotschaft zur Coronaepidemie vom 16.3.2020.