Seine Bilder sind Kulturgeschichte, zeigen die Tiefe und die Heiterkeit, die im Menschlichen liegt, und machen sie zugleich zum Rätsel. Sie zeigen den Leib und lassen ihn leicht werden. Wie bei jeder großen Kunst scheint ein Bild mehr zu sein als all die versammelte Fülle.
Aktuell häufen sich Großveranstaltungen der Bilderschau anlässlich der Jubiläen der alten Meister Rembrandt, da Vinci und nächstes Jahr Raffael. Man könnte den Kuratoren unterstellen, dass sie mit den gigantischen Projekten der weltweiten Bilderjagd und -versammlung die Gesetze des Marktes bedienen, kurz: Masse und Macht! So war schon im Vorfeld der Leonardo-Ausstellung die meistdiskutierte Frage: Kommt er oder kommt er nicht? – ‹Salvator Mundi›, der Weltenretter, das teuerste Weltbild aller Zeiten, 450 Millionen Dollar schwer. Es ist interessant, den Werdegang dieses Bildes zu verfolgen, das im Jahr 2005 in einem kleinen Auktionshaus in New Orleans von zwei New Yorker Händlern angeblich für rund 2000 Dollar erworben wurde …, wie im Netz nachgelesen werden kann.
Die Bilder Leonardos schreiben Kulturgeschichte, diese erzählt auch von uns, den Menschen des gegenwärtigen Zeitalters. Es ist ein langer Weg, von der mittelalterlichen Auffassung der Heilkraft der Bilderschau bis zum Kapital, das wir aktuell aus der Kunst schlagen. Zu Zeiten Leonardos war ein Maler buchstäblich ein Handwerker, während in der Antike das, was uns heute als Naturwissenschaft gilt, durchaus als freie Kunst verstanden wurde. Der ‹Salvator Mundi› ist und bleibt unsichtbar, und das, möchte man unwillkürlich anmerken, ist auch gut so. Etwas muss sich ändern an unserem Blick auf die Welt, wenn sie gerettet werden soll; eben dazu verhilft uns Kunst, wenn man sie lässt. Und sei es, indem ein Bild unsichtbar bleibt, sodass wir Gelegenheit haben, uns zu fragen, was unser Motiv betrifft, es sehen zu wollen. Sensationsschau als sinnliche Gier? Das ginge weniger auf das Konto der Kuratoren, es ist das Publikum, das entscheidet, ob Bilder der alten Meister Konsumgüter sind, Wertobjekte auf dem Kapitalmarkt oder etwas ganz anderes. Wir können sie scherzhaft ‹Influencer› übersinnlicher Art nennen, oder am besten ‹Sinnfluencer›. Nicht im Klick-Klick-Verfahren der Selfies aufzunehmen, sondern in der Begegnung als Augenweide – sich geistig durch sie nährend und seelisch wachsend auf ihre Höhe. Es lässt sich in unserer Ära der Bilderflut – das Gegenteil des historischen Bildersturms – ein Zweifaches wahrnehmen: an der Oberfläche der Augen wie der Seele die Reizüberflutung, die Blendung, der gleisnerische Schein, doch in der Tiefe der menschlichen Sinne eine unstillbare Sehnsucht nach Erfüllung. Menschen sehnen sich heute mehr denn je, zu verstehen, einzusehen, was wirklich ist. Im Fall der Vorbilder: Wie wurde das, was ich sehe, das, was es ist, und wie kann ich teilnehmen am Prozess dieser Wirklichkeit, sodass ich darin eigene Geistesgegenwart und damit Zukunft erlebe? Das ist die Frage und dazu brauchen wir das Element der Vermittlung. Genauer gefragt: Wie kann ich mich so besinnen, dass Geist-Erschauen wirksames Geist-Erinnern wird? Dieses Erlebnis selbst liegt in den Bildern verborgen – um mit Rainer Maria Rilke zu reden: «denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht». Wir müssen uns selbst entsprechend einrichten dem Kunstwerk gegenüber. Wie begegnen wir Leonardo auf Augenhöhe? Denn anders begegnen wir ihm nicht!
Die Schau
Es geht abwärts, die Sonderausstellung ist in der Halle Napoleon, unter der Erde installiert. Die großformatigen Gemälde sind gut ausgeleuchtet, während viele der kleineren Exponate in einem relativen Dämmerlicht zu sehen sind. Die ‹Mona Lisa› befindet sich nicht hier, sie verbleibt an ihrem angestammten Platz oben im Louvre. Das ist schon ein wenig verrückt, dass Bilder aus aller Welt von Russland bis Amerika anreisen; andrerseits lässt sich leicht ausmalen, was passieren würde, wenn sie hier unten wäre … Wer ebenfalls fehlt, ist die ‹Dame mit dem Hermelin› aus Krakau sowie die ‹Madonna mit der Nelke› aus München, beide aus konservatorischen Gründen abwesend, ebenso das berühmte ‹Verkündigungs›-Gemälde aus den Uffizien. Es sind ja weltweit nur 14 Gemälde, die gesichert Leonardo zugeschrieben werden. Er hat manchmal jahrzehntelang an einem Bild gearbeitet. Da er schon zu Lebzeiten als unübertrefflich galt, existieren unzählige Kopien sowie Werkstattarbeiten seiner Schüler, in denen er nur letzte Hand anlegte.
Was ein Bild zum Original macht und worin sich die Handschrift des Meisters äußert, dieser Frage ist die Ausstellung wesentlich gewidmet. Man versucht dies auf technischem Weg zu zeigen. Dabei geht es um die zeichnerische Vorarbeit, die später veränderten und übermalten Schichten werden mit Röntgen- und Infrarotaufnahmen freigelegt. Leonardos Stil ist gekennzeichnet durch die Technik des sogenannten Sfumato, das Auflösen der Konturen in feinen Übergängen, es verwebt Vorder- und Hintergrund sowie Figuren und Umgebung. So entstehen Spielräume, einerseits zwischen Mensch und Natur oder Architektur, andrerseits als atmosphärischer Ausdruck innerseelischen Geschehens zwischen den Figuren. Mit dieser Auflösungsgeste ins Periphere korrespondiert ein zweites Stilelement – was auf den ersten Blick widersprüchlich scheint –, die Klarheit. Eine Transparenz, die man kristallin nennen könnte. Alles Physische wird so durchsichtig wie ein Edelstein und bleibt umso ansichtiger in seiner Materialität, sinnlich konzentriert. Die berühmten transparenten Schleier, die man sieht, indem man durch sie hindurchsieht wie durch eine Wasserfläche. Und dann wäre da noch das Feuer, die Wärme. Sie liegt im Blick der Figuren. Ihre Augen sind so sprechend gemalt, dass der Betrachter unmöglich den Dialog mit ihnen versäumen kann. Was in der körperlichen Haltung, in den feinen Neigungen schon als Zuwendung sich einstellt und geradezu leiblich fühlbare Anrührung wird, das liegt in den Blicken, mit denen die Figuren aus dem Bild heraus auf den Betrachter schauen, noch einmal verdichtet, als Seelenbildnis, vor. Was sie so wundervoll macht, ist die Tatsache, dass sie lächeln. Im Heiligen wie im Profanen, selbst im Schmerz lächeln sie noch. Wir werden auf den Humor zurückkommen.
Es sei vorab bemerkt: Der Feldversuch der vergleichenden Betrachtung der lebendigen Originale und der technischen Durchleuchtungskopien geht nicht gut. Es ist eine phänomenale und phänomenologische Unmöglichkeit: nicht nur, in diesem Dämmerlicht die Grautöne der technischen Kopien im Detail zu studieren – dazu wäre zudem eine Nähe und Ruhe nötig, die im Massenandrang der Besucher garantiert nicht herstellbar ist –, sondern das Verfahren an sich funktioniert nicht. Der Betrachter müsste permanent hin und her switchen in der Einstellung seiner Aufmerksamkeit, man gerät so in eine maschinenartige Taktung der Blicke.
Verzichten lohnt sich
Eine Ausnahme gibt es – und damit die Möglichkeit der realen vergleichenden Betrachtung. Die ‹Madonna mit der Spindel›, es handelt sich um ein relativ kleinformatiges Ölgemälde in zwei verschiedenen Versionen, die nebeneinander platziert sind. Damit allein hätte man im begrenzten Zeitfenster genug zu tun. Die beiden Bilder sind sich so ähnlich und so verschieden in ihrer jeweiligen Umgebung. Rätselhafterweise sind beide als Werkstattarbeit ausgewiesen. Dies erstaunt mich, da ich zuvor auf ‹Arte› den exzellenten Beitrag ‹Da Vinci or not da Vinci› sah, der in anderthalb Stunden eben diese beiden Gemälde als Untersuchungsgegenstand behandelte. Am Ende des Beitrags standen Restauratoren und Kuratoren gemeinsam im Louvre und bekundeten übereinstimmend, dass es sich tatsächlich um zwei Originale handle.
Besinnung bedeutet in der aktuellen Louvre-Ausstellung auf jeden Fall Entscheidung. In der Überfülle der kleinformatigen Zeichnungen, Entwürfe und Studien auszuwählen, worauf der Blick verweilen soll, ist die einzige Chance, sich schöpferisch zu verhalten. Verzicht ist nicht notwendig negativ, sondern kann sich sogar als positiv erweisen. Wieder eine Lektion im Hinblick auf die aktuelle Weltlage.
Man könnte sich entscheiden, die gesamte Zeit der Gewandstudie zuzuwenden, die dem Knie der Madonna gewidmet ist und als Vorarbeit zum großformatigen Ölgemälde der heiligen Anna dient. Darin in völlig veränderter Form, farbig eingekleidet und verhüllt, in der Komposition der Gruppe neu sichtbar werdend: die präzise Zeichnung der Anatomie eines Knies als Gliedmaßenphänomen so behandelt, dass sie ideell Gestalt annehmen kann – welch eine Bildmetamorphose. Dann ist da die berühmte Zeichnung ‹Der vitruvianische Mensch›, der in letzter Minute aus Italien anreisen durfte. Welch eine Überraschung der Introspektive. Was hier an der Wand hängt, sieht so völlig anders aus als der in meinem Inneren mitgebrachte Abdruck der tausendfach gesehenen Kopie. Das Original ist kaum größer als ein din-A4-Blatt, der Mensch im Kreis der Raumesrichtungen ist alles andere als die idealistische Erscheinung meiner Einbildung. Graue Locken um das Haupt, er ist alt, sein Antlitz gezeichnet von Lebenserfahrung, seine Zehen und Finger vermitteln ein lebendiges Kräftespiel. Was ihn zum Ideal macht, ist der Kosmos, in den er sich stellt. Er ist und bleibt sichtlich Mensch, der sich richtet nach dem, was ihn zum Menschen macht – seine Jugend stammt aus dem Umkreis.
Im Luxus der leeren Räume kann ich zwei weiteren Bildern innig begegnen. Die Mailänder Hofdame, genannt ‹La Belle Ferronnière› – auf Augenhöhe und ohne Panzerglas zu sehen – steht der ‹Mona Lisa› in nichts nach, ihr Antlitz ist ebenso geheimnisvoll. Die Frauenbildnisse Leonardos fordern den Betrachter heraus. Ihre Androgynität, der strenge Ernst ihrer Blicke, von einem feinen, beinah spöttischen Zug um die Lippen umspielt, ihrer Ebenmäßigkeit, Fragilität und Zartheit ist ein herbes, vitales Kräftewesen eingeschrieben – es ist, als würde man zwei Leiblichkeiten gegensätzlicher Geschlechtlichkeit vereint sehen. Das zweite kleinformatige Gemälde, von dem sich der Blick kaum zu lösen vermag, ist das Antlitz einer jungen Frau, genannt ‹La Scapiliata›. Sie erlaubt eine unbeschreibliche Erfahrung von Schönheit, von ihrem Kraftwesen in der Art und Weise, wie das gemalte Licht – sein Schein – diese Figur weniger ausleuchtet, als vielmehr aus dem Dunkel kreiert. Ein Bild, auf das ich mich besonders gefreut hatte – auch aus Licht und Finsternis gewoben –, ist mir verborgen geblieben. Wann immer ich hinkam, stand das Fernsehteam davor, mit einem Interviewpartner, der den Anblick versperrte. Eine kleine Mahnung, wie kostbar der Freiraum der Anschauung ist.
Am Ende erwartete mich das große Gemälde der ‹heiligen Anna›. In diesem Bild lässt Leonardo den Humor die Hauptrolle spielen, es ist von einer unbezwinglichen Heiterkeit – was ja keinesfalls Witz bedeutet, sondern das Ernstnehmen des Humors als Weltkraftwesen ausmacht. Nicht nur das Jesuskind, das mit einem Lämmchen spielt und diesem die Ohren zu zwicken scheint, während seine Mutter, die Madonna, im Begriff zuzupacken, nicht ganz sicher scheint, ob sie zuerst nach dem Kind oder nach dem Lämmchen greifen soll … vielleicht ist die Geste auch ein Streicheln – das darf sich der Betrachter ebenso fragen wie Maria. Aber das Schönste an dieser heiteren und zugleich ernsten Szene ist die heilige Anna, die noch sehr jung aussieht und ihr eigenes Kind Maria auf dem Schoß hält, während das Jesus-Knäblein auf der Erde steht. Was an Innigkeit zwischen diesen Figuren webt, es stammt aus dem Reich der Mütter und es ist die irdische Korrespondenz dessen, wofür das Kind und der Vater im Himmel stehen. Es ist wunderschön.
Nachklang
Die Ausstellung dauert noch bis zum 24. Februar 2020. Doch niemand, der sie nicht sehen kann, muss traurig sein. Es ist zu vermuten, dass man angesichts des ‹normalen› Betriebs sowieso kaum etwas sieht – es wird sich eher um eine erschöpfende als um eine schöpferische Erfahrung handeln. Um Letztere zu ermöglichen, kann man den Weg Leonardos gehen, sich lange Zeit mit einem einzigen Bild zu beschäftigen. Die Wege nach München, London, Krakau oder nach Parma, wo ‹La Scapiliata› zu Hause ist, sind nicht weiter als nach Paris. Vielleicht ist es sogar jetzt ratsam, wenn alle Welt zum Louvre pilgert, sich auf den Weg nach Mailand zu machen und das ‹Abendmahl› in der Kapelle Santa Maria delle Grazie aufzusuchen. Ich erinnere mich an mein Erlebnis vor rund 40 Jahren: Jung und frisch in der Anthroposophie gelandet, stand ich vor der Wand, auf der nur äußerst blasse, gebrochene Farbreste zu sehen waren, und sagte mir, was soll’s? Dann trat ich aus der Tür ins lärmende Stadtleben und wunderte mich: Mein Körper wurde zum Leib, der sich anfühlte, als wäre er vitalisiert worden. In meiner jugendlichen Ignoranz, endlich im Süden, in Ferien, und außerdem verliebt, dachte ich: Das wird sicher an Italien und dem köstlichen Kaffee liegen. Ein unvergesslicher Tag, der sich durch mein Leben als Erinnerung zog. Wie oft habe ich diese Jugendsünde belächelt. Nun würde ich sie gerne wiedergutmachen. Ich wünsche mir zu Weihnachten vom Himmel, dass wir nächstes Jahr die Mittel finden, um hinzureisen – mein Schutzengel und ich. Denn Leonardos Bilder mit ihrem Geheimnis des durch den Stoff hindurchscheinenden Ätherleibs sind nicht nur auf menschlicher Augenhöhe. Auch Engel können sie sehen!
Ausstellung Leonardo da Vinci im Louvre in Paris. Vom 24. Oktober 2019 bis 24. Februar 2020. Tickets: www.ticketlouvre.fr
Titelbild: Leonardo da Vinci ‹La Belle Ferronière› Öl auf Holz, 1495–1499