Denken wird Sehen

Wenn Wahrnehmung und Sinn uns als Einheit im Bild erscheinen, erkennen wir in Wahrbildern oder Imaginationen.


Imagination ist einer der komplexeren Begriffe der anthroposophischen Wissenschaft, der auf kultur- und erkenntnistheoretischem Grund schwer zu begreifen ist. Auf der kulturellen Ebene begleitet ihn eine tiefliegende Angst vor dem Bild, die zwischen urchristlichem Ikonoklasmus und modernem Willen zur Abstraktion changiert. Schlicht lässt es sich als ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Bildhaften beschreiben, weil es sich nicht um das Objekt, sondern nur um dessen Simulation handelt, die als unwahrhaftig und unfähig, wirklich zu sein, erscheint. Für die Erkenntnistheorie zeigt sich das Imaginäre als zu tief im Subjekt verankert, um eine allgemeingültige Wahrheit zu verkünden. Das Erschauen von himmlischen Wesen als geflügelte Humanoiden scheint Philosophierenden eher als eine Fantasie-Collage aus Vogel und Mensch denn als eine Offenbarung der Wahrheit. Will ich diese Meinungen denkend durchdringen, muss ich die Begriffe ‹Bild› und ‹Erkennen› klären.

Der Erkenntnisprozess lässt sich in der Selbstbeobachtung nachvollziehen: Sowohl die Sinnesbeobachtung als auch das Betrachten meiner Seelenaktivitäten treten, wenn wahrgenommen, ohne Sinn und Bedeutung auf. Ich stehe der Natur, einem anderen Menschen oder einer seelischen Regung gegenüber und nehme diese wahr, ohne zu wissen, was sie sind. Nur wenn ich einen Gedanken an die Wahrnehmung knüpfe, beginne ich, einen Baum, meine Nachbarin oder das Gefühl der Freude zu erkennen. Je mehr ich darüber nachdenke, je mehr Gedanken und ergänzende Wahrnehmungen ich anschließe, desto mehr erkenne ich und das Bild der Vorstellung des Wahrgenommenen klärt sich. In meinem leibgebundenen Bewusstsein begegne ich Wahrnehmung und Gedanken separat, obwohl beide ihren Ursprung im gleichen Objekt haben. Als Denkender bringe ich zusammen, was ich als Wahrnehmender trenne, und erzeuge so ein volles Bild der Wirklichkeit. Ich bemerke, dass die Naturgesetze, die Ideen und Gedanken, sich in den Dingen aktiv befinden. Ich stelle fest: Es ist meine sinnliche Konstitution, die die Wirklichkeit in Wahrnehmung und Gedanken zerlegt.

Im Unterschied zur Wirklichkeit ist das Bild seinem Wesen nach zweiteilig. In jedem Bild, ob Gemälde, Foto, Vorstellung oder Imagination, habe ich es mit einem Erscheinungsmedium und mit dem, was dadurch in Erscheinung tritt, zu tun. So kann beispielsweise durch das Medium der Ölfarbe eine Landschaft auf der Leinwand auftreten. Gleich verhält es sich mit meinen Vorstellungen, anhand derer ich mir sogar eine ganze Theateraufführung im Seelenmedium auftreten lassen kann. Im Bildhaften gibt es immer zwei; das, was auftreten will, und ein Medium, durch welches es erscheint. Das unterscheidet das Bild von der Wirklichkeit und dadurch werden die Möglichkeiten des Mediums, dessen Konstitution, maßgeblich für die Abbildung. Das, was durch ein Klavier sich hörbar machen kann, ist anders als das, was ein Cello spielend hervorrufen kann.

Sinnliche und geistige Konstitution

Durch das Medium meiner sinnlichen Konstitution bilden sich nur die Seiten der Wirklichkeit ab, die keinen dauerhaften, allgemeinen Charakter haben, die also keine Gedanken, Begriffe oder Wahrheit, sondern nur Gesichtspunkte sind. Dieser relative, partielle Charakter lässt sich an allen Sinneserfahrungen zeigen: Trinke ich einen Espresso, nachdem ich etwas Süßes verspeist habe, dann wird das Bittere bitterer. Die Sinne zeigen mir nie, wie etwas ist, sondern wie etwas in Bezug zu meinem Standpunkt und Zustand ist. Es ist die Aufgabe des Denkens, aus der fragmentarischen Sinneswelt wieder eine Einheit zu bilden. Das Denken ist fähig, die volle Wirklichkeit des Wahrgenommenen in meinem Bewusstsein aufleuchten zu lassen. Es ist aber zunächst an den Sinnenleib gekettet, durch den Inhalt des Leiblich-Wahrnehmbaren begrenzt. Die Tatsache, dass wir aus den sinnlichen Spuren das Übersinnliche deduzieren können, führt uns nur bis zur Grenze, nie aber ins gelobte Land des Übersinnlichen.

Was würde aber eine Erkenntnisart sein, die nicht auf die leibliche Konstitution angewiesen ist? Leibfrei werden Wahrnehmung und Gedanke nicht mehr getrennt auftreten. In diesem Fall werden Empfindung und Bedeutung als eins erscheinen; Wahrnehmen und Erkennen zugleich. Diesen Bewusstseinszustand bezeichnet die Geisteswissenschaft als ‹Imagination› im vollen Sinne. Aber durch was nehme ich wahr, wenn nicht durch die Sinne, wenn der Körper nicht das Medium ist, in dem sich die Welt abbildet?

Verwirrtes Wasser, Gabriela Karpuch, 2020

Es ist die Aufgabe der Schulung, mein Bewusstwerden zu stärken, sodass mein Bewusstsein auch ohne mein Nervensystem aufrecht gehalten wird und die Seele sich bis zur Selbstlosigkeit ein Sinnesorgan gestaltet. Wird es erreicht, dann wandeln sich die Seelenglieder in meine geistigen Wesensglieder und die Welt beginnt sich unvermittelt in ihnen abzubilden. Im Zusammenwirken mit den in Erscheinung strebenden übersinnlichen Wesenheiten gestalte ich dann das Medium meiner Seele so, dass Gedanken und Bilder als Wahrbild mir offenbar werden. Jetzt kann ich Wahrnehmung und Sinn in ihrer Einheit in mir vorbilden. Ich beginne, Imaginationen zu haben.

Einigung von Wahrnehmen und Denken

Das Erscheinungsmedium, meine eigene Seele, ist Weg und Gefahr zugleich. In einem künstlerischen Werk, welches die Welt ausschließlich durch Lieblingsfarben abbildet, ist alles nach den jeweiligen Sympathien gebildet, also unwahrhaftig. Meine Seele selbst ist aber aus meinen Sympathien und Antipathien geflochten und tendiert dazu, alles, was in ihr erscheint, zu färben. Was dann primär erscheint, bin ich selbst als Seele, als Beziehung zur Welt, und nicht die Welt in ihrer Wirklichkeit.

Um als Medium dem Imaginativen zu dienen, muss der erkennende Mensch die eigene Seele nicht nur verwandeln, sondern auch ausführlich kennen. Nur so wird sich keine Eigenliebe verderbend in die Wahrheit einmischen. Weil die Seele der instabilste Aspekt meines übersinnlichen Wesens ist, zeigt sich das wahre imaginative Bewusstsein nicht nur schwer zu erreichen, sondern auch voller Irrtum. Es bedingt, im ‹Sehen› der Imagination extrem vorsichtig zu sein; jede Verstimmung der Seele kann leicht zu Erblindung und Irrbildern führen. Ein Beispiel finden wir im vierten Mysteriendrama von Rudolf Steiner: Für einen Moment, im Schmerz über Straders Tod, versäumt der große Eingeweihte Benedictus, Ahriman, der bildhaft in den Raum eindringt, zu erkennen. Auch auf der höchsten Stufe der Entwicklung kann mich die Seele, als Medium der Imagination, in die Irre führen.

Vermag ich aber reine Imagination zu entwickeln, zeigen sich mir die übersinnlichen Wesen in Seelenbildern, die zugleich Bild und offenbarter Wahrheitsgedanke sind. Hier wird es mir klar, wie Steiner über so zahlreiche, unterschiedlichste Themen wahrhaftig sprechen konnte; an der Quelle des imaginativen Bewusstseins sowie der Inspiration und Intuition wird die Trennung von Wahrnehmen und Erkennen aufgehoben. Was ich sehe, erkenne ich mit mathematischer Sicherheit. Der Unterschied zwischen Wahrnehmen und Denken ist aufgehoben, nicht weil das Denken aufhört, sondern weil es enthalten ist. In der Imagination sind Bild und Wahrheit eins.

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