Wenn die Seele sich denkend in den Zusammenhängen bewegt, wird ihre Erkenntnis zur musikalischen Gegenwart oder zur Inspiration.
Wenn ich ein Gemälde betrachte, entfaltet sich vor meinen Augen ein Anblick – Figuren, Farben und Formen. Ich bin dem Bildhaften darin ausgesetzt. Aber der Blick, der im Bild verweilt, bewegt sich zwischen den Farbflecken und Formen, und allmählich beginne ich, die Gesamtheit der Beziehungen zu begreifen, die als Komposition Gestalt angenommen haben. Ich spiele musikalisch das Gemälde innerlich. Und dieses Spiel führt mich in einem bestimmten Moment der Tiefe zu einer Erfahrung, die sich nicht in Worte fassen lässt, zu einer Wahrnehmung einer Essenz oder einer Richtung, vielleicht des Grundkerns, aus dem das Bild geboren wurde. Aber im Malen ist der Vorgang umgekehrt. Im Malen geht man von einem Richtungskern aus, der als Impuls in einem lebt, entwickelt ihn zur Bewegung – der Akt des Malens selbst ist ja Bewegung im Raum –, und diese Bewegung entfaltet sich vor ihm allmählich zum Bild. Hier führt die Bewegung vom Kern der Grundierung über eine vermittelte Metamorphose zum Bild.
Die Beobachtung dieses Prozesses offenbart uns drei Aktivitäten, die gleichzeitig drei unterschiedliche Bewusstseinsmodi konstituieren: das bildhafte Bewusstsein, das musikalische Bewusstsein und das Kernbewusstsein. In Rudolf Steiners Sprache: Imagination, Inspiration und Intuition. Die vermittelnde Ebene, das musikalische Bewusstsein, versucht, die Beziehungen zwischen den Dingen zu erfassen, und lebt die Beziehung als eine Art musikalisches Intervall.
In seinem direkten, spirituellen Aspekt nimmt dieses Bewusstsein die Realität als Musik wahr. Die Welt erscheint ihr als spielendes Gewebe, als ein zwischen den Wesen des Kosmos gewobenes Gespräch. Dies ist die Erfahrung, auf die Steiner als zur Sphäre des unteren Devachan gehörig hinweist. Aber diese spielende Wirklichkeit erscheint in ihrer irdischen Form als das menschliche Denken. Was in den höheren Sphären als eine Art Musik wahrgenommen wird, offenbart sich in seiner eher schattenhaften abstrakten Form als die Denkaktivität, die die Begriffe schafft (GA 9, S. 123). Hier gibt es einen Schlüssel. Wenden wir den denkenden Blick von den Begriffsprodukten, also vom Inhalt, auf die Denktätigkeit selbst, so erschließt sich uns das Denken als Bewegung. Die Aktivität des Denkens ähnelt dann dem musikalischen Spielen. Etwas zu verstehen bedeutet, es zu spielen, sich aktiv an den Beziehungen zu beteiligen, die es als solches begründen. Wie spielt das Denken? Es schafft Unterscheidungen aufgrund von Ähnlichkeit und Unterschied. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Logik selbst auf einer musikalischen Erfahrung basiert. Und die grundlegendste Unterscheidung, die das Denken für den Menschen schafft, ist die Unterscheidung zwischen Ich und Welt.
Pulsierende Bewegung
Nur ein denkendes Wesen kann zu sich selbst Ich sagen. Es grenzt sich vom Rest der Welt ab und schließt sich als autonome Einheit. Dieser sich über die Jahrtausende entwickelnde Prozess erreicht seinen erfahrungsmäßigen Höhepunkt in der Zeit der Bewusstseinsseele. Das von der Welt abgeschottete Selbst erfährt sich dieser Welt gegenüber als völlig Fremdes. Dies ist zwar die Quelle des klaren Selbstbewusstseins, aber auch des gesellschaftlichen Chaos unserer Zeit. Aber gerade dieselbe Tätigkeit, durch die zuerst die Trennung geschaffen wurde – das Denken –, hat die Fähigkeit, den Menschen zu einer erneuten Einheit zu führen. Nur der Schlüssel, der die Tür verschlossen hat, kann sie auch öffnen. Dazu muss das Denken selbst eine Art Transformation erfahren. Es muss in sich selbst das vereinigende, dynamische Element entdecken.
Die Schwierigkeit, ein derartiges Denken zu entwickeln, liegt im Begreifen der Wirklichkeit als Bewegung und nicht als eine Ansammlung von in sich geschlossenen Objekten. Das philosophische und wissenschaftliche Denken seit dem alten Griechenland hat das Analytische, Differenzierende betont, das sich auf die einzelnen Gegenstände und Begriffe konzentriert, und schuf dadurch eine Bewusstseinsklarheit. Doch kam diese Klarheit der ersten Stufe auf Kosten des Einheitserlebens. Die Frage, die sich uns durch den Schwellenübergang unserer Zeit stellt, ist, wie wir zu einer ganzheitlich-einheitlichen Erfahrung zurückkommen können, ohne die erlangte Bewusstseinsklarheit zu verlieren.
Um dies zu beantworten, müssen wir zum Ausgangspunkt der Denktätigkeit zurückkehren: Nur weil ich in meinem Denken die Welt umfasse, kann ich mich von ihr trennen. Der Akt der Trennung basiert auf der Einheit. In Wirklichkeit sind mein Ich und die Welt zwei Aspekte derselben allumfassenden Einheit. «Merke den Pendelschlag / Zwischen Mensch und Welt», schreibt Steiner in einem seiner Verse zur Meditation, «Und dir offenbart sich / Menschen-Welten-Wesen / Welten-Menschen-Wesen», und zielt auf eine bewegungsmusikalische Denkweise ab, die sich in unserer Zeit zu entwickeln beginnt.
Wie Georg Goelzer in seinem Buch ‹Der kristallene Strom› zeigt, offenbart sich diese pulsierende Bewegung in der Durchquerung der Schwellen von Zentrum und Umkreis als das Verwandlungssein, das die Welt zu einem Aspekt des Ich und die Aktivität des Ich zu einem Aspekt der Welt macht. Das ‹Dazwischen› offenbart sich somit als die eigentliche Mitte – es enthält die Pole in sich.
Die Anfänge einer solchen Denkweise sind auch bei Martin Buber zu erkennen, wenn er auf die Beziehung zwischen dem Selbst und dem anderen weist, als einem Raum, dessen Realität die Beziehung ist. Das ‹Dazwischen› ist für ihn die Realität der Ich-du-Beziehung. So wird das Denken selbst dialogisch und ins Soziale geführt.
Das musikalische Bewusstsein
Mit Blick auf die antike Welt steht Pythagoras vor uns als jemand, der den Kosmos als ein Beziehungsgefüge betrachtet hat. Eine der ihm zugeschriebenen Entdeckungen ist die Beziehung zwischen der Länge der Saite und der Tonhöhe. Zwei in ihren sonstigen Eigenschaften identische Saiten, eine Hälfte kürzer als die andere, erzeugen ein Intervall von einer Oktave. Pythagoras entdeckte die mathematischen Zusammenhänge, die der Musik zugrunde liegen. Die Saiten ahmen nach oder verkörpern die Zahlenbeziehungen, so wie es die Sterne in ihren Relativbewegungen zueinander tun. Es ist die Verkörperung des unsichtbaren Zahlenverhältnisses in der sichtbaren Materie. Nachahmung bedeutet, dass dasselbe auf verschiedenen Ebenen existiert, ohne dass seine Existenz geringer wird. Die Betonung liegt hier auf der Beziehung, und diese kann auch im Sinne von Musik gedacht werden: «Was Pythagoras die Sphärenmusik genannt hat, ist etwas, was der Geistesforscher wirklich erreichen kann. Er taucht unter in die Dinge und Wesen der geistigen Welt und hört, aber hört, indem er ausspricht. Ein sprechendes Hören, ein hörendes Sprechen im Untertauchen in das Wesen der Dinge ist das, was man erlebt. Die wahre Inspiration ist es, die sich also ergibt.» (R. Steiner, GA 153, S. 22)
Was ist dann die ‹wahre Inspiration›? Die Seele taucht in das Sein der Welt ein und hört durch Sprechen (oder Musizieren) die dort wirkenden Zusammenhänge. Diese Wahrnehmung in den Geistesphären ist zugleich Selbsttätigkeit. Zwischen dem Bildhaften und dem Intuitiven offenbart sich die Bewegung selbst als inspirierendes, musikalisches Element.
ich habe das Abonnement aber ich kann das Goetheanum nicht online lesen.