Hartmut Rosa, einer der einflussreichsten Soziologen der Gegenwart, hat ein anregendes Büchlein geschrieben, das sich in vielerlei Hinsicht als diskussionswürdig und anschlussfähig erweist.
Basierend auf einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang 2022 und mit einem Vorwort von Gregor Gysi versehen, führt diese Schrift zu einem Verständnis der zentralen Entdeckung von Hartmut Rosa, dem Phänomen der Resonanz. Resonanz wird in vier Momenten oder Elementen entwickelt: Anrufung, Selbstwirksamkeit, Transformation und Unverfügbarkeit.
Anrufung meint, etwas begegnet mir und berührt mich. Das kann ein Mensch, eine Situation oder auch die Natur sein. «Etwas ruft mich an, bringt mich zum Auf-hören, und deshalb muss dieses Etwas, kann es nicht einfach das sein, was ich schon immer gedacht habe.»1 Aufregend doppeldeutig ist dieses Auf-hören bei Rosa. Aufhören mit dem gewohnheitsmäßigen Dahintrotten der Aufmerksamkeit, aufhören auch mit dem zerstörerischen Höher-weiter-schneller unserer Leistungsgesellschaft – um dann aufzuhören, das heißt nach oben zu hören, anderen Dimensionen zu lauschen.
Auf dieses erste Resonanzmoment folgt die Selbstwirksamkeit. «Das, was ich tue, tritt mit diesem Anderen in eine Art von Verbindung. Verbundenheit ist ein wichtiges Moment, und die Grundform von Resonanz heißt für mich Hören und Antworten.» Ich reagiere auf das, was mich berührt hat; ich füge aber auch etwas Eigenes hinzu, «und genau da fühlen wir uns lebendig.» Ein eminent kreativer Prozess wird hier beschrieben. Jeder Kunstschaffende kennt diese Erfahrung.
Das führt zur Beobachtung eines dritten Resonanzphänomens, der Transformation. Da, «wo ich wirklich aufhöre und mich dem, was mich erreicht, verbinde, verwandle ich mich.» Die Resonanz des Hörens und Antwortens verwandelt mich, führt zu einer Selbsttransformation. Damit verwandelt sich auch die Welt, denn ich und das Phänomen sind ja Teil des ganzen Weltgeschehens. Der ganze Vorgang ist unverfügbar. Man kann Resonanz nicht erzwingen, nicht kontrollieren und auch nicht kaufen. Es gibt hier ein Moment von Gnade. Spätestens hier wird deutlich, warum Rosa den Sinngehalt der Religion für das gesellschaftliche Leben so authentisch und lebendig darstellen kann. Sein Konzept beschreibt stimmig die Essenz religiöser Bemühung, die ja die Anbindung an Höheres in Gebet und Kultus sucht. Diese Selbstvergewisserung des Religiösen kommt von einem Wissenschaftler, der an der kritischen Theorie Adornos geschult ist und einen zunächst ganz ‹diesseitigen› Ansatz verfolgt.
Beim Lesen drängte sich mir geradezu auf, dass Rosas vier Resonanzelemente mit den vier Schritten der christlichen Messe in Verbindung gebracht werden können: Die Anrufung entspricht der Evangelien-Lesung (Gottes Wort spricht zu uns), die Selbstwirksamkeit hat mit dem Opfer zu tun (wir müssen etwas opfern, um uns dem Göttlichen zu nähern), die Transformation spricht die Wandlung direkt an und die Unverfügbarkeit der Resonanz entspricht der Kommunion im Kultus. Hier waltet die Gnade Christi, urbildlich gesehen beim Abendmahl mit den zwölf Jüngern.
Derselbe Ansatz ist auch zu finden in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners, zum Beispiel in der ‹Philosophie der Freiheit›. Dort heißen die vier Elemente ganz nüchtern und sachlich: Wahrnehmung – ich nehme das Gegebene auf; Begriff – ich tue denkend etwas dazu; Erkenntnis – in der Synthese von Wahrnehmung und Begriff entsteht etwas Neues, was Konsequenzen hat für Ich und Welt. Und schließlich könnte man die freie Tat (die moralische Intuition) als Kommunion des Menschen mit dem Weltgeschehen begreifen. Rudolf Steiner formulierte in diesem Sinne schon in seinem Frühwerk: «Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.»2
Hartmut Rosa macht deutlich, dass eine Gesellschaft, die nicht aufhören kann, in ein dreifaches Aggressionsverhalten hineingerät: Aggression gegen sich selbst (zum Beispiel Depression und Burnout), Aggression gegen andere Menschen (ein Phänomen, durch das freie Diskurs- und Lebensräume infrage gestellt sind), und schließlich Aggression gegen die Natur (wovon Umweltprobleme und -katastrophen künden). In diesem Kontext sieht Rosa die Religion, die die Menschen das Aufhören, Transformation und das Erleben von Gnade lehrt, als ein unverzichtbares Element moderner Gesellschaften und Demokratien. «Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie diese Form der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt.» Sein Anliegen ist aus meiner Sicht jedoch weiter gefasst als Kirche und christliche Religion, auch in allen Künsten sowie spirituellen Entwicklungswegen, ja in allen Weltreligionen sowie in der anthroposophischen Geisteswissenschaft liegen starke Potenziale für Resonanz. Insofern ließe sich die Stoßrichtung seines Essays auch formulieren mit den Worten: Demokratie braucht Spiritualität.
Buch Hartmut Rosa Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis Kösel, München 2022.