In der Rudolf-Steiner-Gedenkstätte im Heimatmuseum in Brunn am Gebirge fiel mir bei meinem Besuch im Mai 2018 unter anderen Ausstellungsstücken ein Exemplar von ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› mit einer Widmung auf: «Fräulein Helene Richter. Zur freundlichen Erinnerung an die Weimarer Tage 6.–11. Mai 1891. Der Verf.» Das weckte meine Neugier. Wer war «Fräulein Richter», mit der Rudolf Steiner mehrere Tage in Weimar zusammen verbrachte?
Helene Richter wurde am 4. August 1861 in Wien geboren – im selben Jahr wie Rudolf Steiner. Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Elise (1865–1943) wuchs sie in einer großbürgerlich-jüdischen Familie auf; ihr Vater Maximilian war Chefarzt der K.-K. Priv. Südbahngesellschaft – also derselben Eisenbahngesellschaft, bei der Rudolf Steiners Vater angestellt war.
Während Helene sich als Autodidaktin vor allem in die englische Literatur einlebte, 1886 mit Studien zu Percy Bysshe Shelley begann und später eine ‹Geschichte der englischen Romantik› (Halle a. d. Saale 1911) schrieb, legte ihre Schwester – trotz einer Rheuma-Erkrankung, die sie seit ihrem 20. Lebensjahr stark einschränkte – als erste Frau in Österreich 1896 die Matura ab und studierte Romanistik. 1901 beendete Elise Richter das Studium, 1905 habilitierte sie als erste Frau an der Universität Wien, und 1921 wurde sie zur Außerordentlichen Professorin ernannt. Sie untersuchte physiologische und psychologische Grundlagen der Sprache – ihr Büchlein ‹Fremdwortkunde› (Leipzig 1919) findet sich in Rudolf Steiners Bibliothek.
Engeren Kontakt hatte er jedoch mit Helene Richter, wie beider Briefwechsel bezeugt. Offenbar lernte Rudolf Steiner die Schwestern Richter anlässlich der Theaterfestwoche in Weimar vom 3. bis 9. Mai 1891 kennen, die zur Hundertjahrfeier von Goethes Übernahme der Intendanz des Weimarer Theaters veranstaltet wurde. Es war für ihn, wie er Helene Richter am 19. Juni 1891 schreibt, «die schönste [Woche], die ich bisher in Weimar zugebracht habe» (GA 38, S. 100). Am Ende dieser Festwoche schenkte er ihr seine ‹Erkenntnistheorie› mit der oben erwähnten Widmung.
Sie schreibt ihm daraufhin am 13. Juni 1891 aus St. Petersburg: «Ihre Broschüre hat mich sehr angeregt und mir viel Neues gesagt, über das ich noch einmal mit Ihnen zu sprechen hoffe.» Zugleich fragt sie nach ihrem Shelley-Manuskript, in das, wie Rudolf Steiner schreibt, «Sie mir ja doch nur widerwillig Einblick […] gestattet haben», das er ihr «förmlich abgerungen» hatte (29.8.1891, GA 39, S. 9). Doch statt innerhalb der versprochenen vier Tage erhielt sie ihr Manuskript erst Ende August zurück … Schon am 13. Juni 1891 schreibt sie ihm humoristisch: «Entschwindet einem in dem träumrisch der Vergangenheit zugekehrten Weimar so sehr jeder Maaß der Zeit, oder haben Sie es vielleicht in einer jener dämmrigen Stunden nach der Künstlerkneipe verloren, um sich, wenn einmal alte Schätze des Archivs erschöpft sein sollten, einen interessanten Fund zu sichern?» (1) Doch Rudolf Steiner versichert im Brief vom 19. Juni 1891, er sei «seit Ihrer Abreise überhaupt nicht in der ‹Künstlerkneipe› gewesen» (GA 39, S. 99), da ihn nach der Festwoche eine Abspannung ergriffen habe. In dieser Stimmung habe er aber ihre Arbeit, die ihm «ganz außerordentlich viel Freude macht», nicht lesen wollen. Helene Richter fragt am 19. Juli sowie am 20. August erneut nach: «Ich hoffe, Sie werden mich nicht wieder vergeblich bitten lassen, mir meine kleine Arbeit zurückzuschicken.» Doch da sie auf Reisen war, die Briefe zum Teil verspätet ankamen und Rudolf Steiner gar nicht wusste, wohin er die Arbeit senden sollte, musste sie sich bis Ende August gedulden. Dann war der Text wieder in ihren Händen – «verunziert durch meine Randbemerkungen» (19.6.1891, GA 39, S. 99), so Rudolf Steiner: «Im Einzelnen habe ich mir erlaubt, kleine Bemerkungen auf die unbeschriebenen Seiten Ihres Heftes zu machen.» (29.8.1891, GA 39, S. 108) Er lobt die Arbeit Helene Richters außerordentlich und rät ihr, sie druckreif zu machen (2); nur möchte er sie etwas von ihrer Verehrung von Emil Du Bois-Reymond abbringen. Er schließt seine Analyse mit den Worten: «Wir brauchen in der deutschen Literatur solche Essays, wie der Ihrige seiner ganzen Anlage nach ist, denn das, was wir an dieser Kost bekommen, das sind meist Arbeiten, die viel, sehr viel Gelehrsamkeit und gar keine Gedanken enthalten. Wahrhaftig entzückt hat mich an Ihrer Abhandlung der Schluss, der Ihre Ansichten über Kunst und Dichtung enthält. Ich habe mir erlaubt, Ihnen an der betreffenden Stelle meinen auf diese Frage bezüglichen Aufsatz über die Grundgedanken einer neuen Ästhetik einzulegen [Goethe als Vater einer neuen Ästhetik], und es würde mir eine besondere Befriedigung gewähren, wenn Sie sich auch mit den anderen von mir in Bezug auf die Kunst geäußerten Ideen einverstanden erklärten, was ja nach dem, was Sie am Schluss Ihrer Arbeit sagen, notwendig der Fall sein muss.» (29.8.1891, GA 39, S. 108 f.)
Sie schreibt am selben Tag zurück: «Ich bin Ihnen, geehrter Herr Doktor, zu aufrichtigem Dank verpflichtet für die mühsame und eingehende Durchsicht meiner Arbeit. Als den besten Ausdruck meiner Dankbarkeit nehmen Sie vorläufig die Versicherung, dass ich Ihre Winke alle beachte und mich fast ausnahmslos von der Richtigkeit Ihrer Einwendungen überzeugt habe […] Für die Übersendung Ihres interessanten Vortrages danke ich Ihnen noch ganz besonders.»
Von Rudolf Steiner sind keine weiteren Briefe an Helene Richter erhalten, doch muss er sie im Februar 1893 benachrichtigt haben, dass er in Wien am 20. Februar im «Wissenschaftlichen Club» einen Vortrag über «Einheitliche Naturanschauung und Erkenntnisgrenzen» halte, denn sie antwortet ihm am 27. Februar: «Die Einladung zu Ihrer Vorlesung, die mich als ein Zeichen der Erinnerung Ihrerseits so freute, habe ich leider nicht benützen können.» Denn ihre Schwester, mit der sie seit dem Tod der Eltern zusammenlebe, sei seit einem Dreivierteljahr leidend. Doch sie hätte ihn gerne auf einen Abend zu ihnen eingeladen – und sie drückt ihre Hoffnung aus, dass sich dafür ein nächstes Mal eine Gelegenheit finde.
In ihrem letzten erhaltenen Brief an Rudolf Steiner vom 2. Februar 1897 schreibt sie aber, dass er es «immer verschmäht» habe, «in Wien bei uns vorzusprechen». Dieses Mal sucht sie seinen Rat als Gelehrter: «Dass es in Goethe-Angelegenheiten geschieht, wird Sie, da wir uns ja im Zeichen des Dichters kennengelernt, nicht wundern. […] Ich möchte also zweierlei wissen, das den hiesigen Gelehrten unbekannt ist: Erstens, wo findet sich ‹Ich habe noch nie über das Denken nachgedacht›? Zweitens, ist Ihnen eine Erwähnung bekannt, dass Goethe Shelleys Übersetzung der Faustscenen zu Gesicht bekommen u. sich darüber geäußert hätte? Rossetti, ein sehr bedeutender Literarhistoriker u. Kritiker behauptet es, ohne jedoch seine Quelle zu nennen. […] Ich werde mich freuen, wieder einmal von Ihnen zu hören, auch abgesehen von der Belehrung, die ich von Ihnen erhoffe.» Ob ihr Rudolf Steiner darauf geantwortet hat, ist unbekannt.
Den Tagebüchern von Elise Richter kann man entnehmen, dass sie sich 1939 intensiv – halb fasziniert, halb zweifelnd – mit Schriften Rudolf Steiners auseinandergesetzt hat: Sie las ‹Reinkarnation und Karma›, seine «Sozialen Schriften» sowie ‹Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft›. Sie schrieb am 3. und 4. November 1939: «Steiner geistvoll u. fesselnd, aber woher weiß man das alles (Leben nach dem Tode, Astralleib etc.)?» «Steiner die Reinkarnation ganz fesselnd aber schließlich eine Phantasie wie eine andere.» (3)
1942 wurden beide Schwestern, die 1911 zum evangelischen Christentum konvertiert waren, zunächst gezwungen, in ein jüdisches Altersheim zu übersiedeln. (4) Von dort aus wurden sie am 9. Oktober 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo Helene wahrscheinlich am 8. November 1942, Elise am 21. Juni 1943 ermordet wurde.
(1) Alle Briefe von Helene Richter an Rudolf Steiner befinden sich im Rudolf-Steiner-Archiv Dornach.
(2) Das Buch erschien 1898 bei Felber in Weimar.
(3) Zitiert nach: Astrid Schweighöfer, Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen von Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900. Berlin/München/Boston 2015, S. 287.
(4) Ihre Bibliothek verkauften die Schwestern damals für wenig Geld an die Universität Köln. Inzwischen wird versucht, die Bibliothek zu restituieren. Siehe: www.richterbibliothek.ub.uni-koeln.de/portal/home.html?l=de
Titelbild: Elise Richter, 1907