Interview mit Eduardo Torres, dem Verantwortlichen für die Eurythmie in der ‹Faust›-Inszenierung am Goetheanum. Die Fragen stellte Wolfgang Held.
Wie begegnen sich Schauspiel und Eurythmie auf der Bühne?
«Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt», so spricht Faust in der Nacht im Studierzimmer. Das ist zentrales Motiv in der Bildung eines Organismus. Natürlich erscheint im Schauspiel auch Ätherisch-Geistiges und in der Eurythmie auch Physisch-Seelisches. Die Abtrennung und das Festhalten an Kategorien sind gar nicht sinnvoll, aber es besteht doch eine Verschiedenartigkeit. Allerdings ist es wie bei einem lebendigen, beseelten Organismus. Wie im richtigen Leben bereichern sich die verschiedenen Aspekte gegenseitig. Die Art des Arbeitens bei Schauspiel und Eurythmie ist recht verschieden. So unterscheiden sich zum Beispiel die Tempi oder die Form des wiederholenden Übens. Für konkrete Probenarbeit verlangt das ein hohes Maß an gegenseitigem Respekt und ein gegenseitiges Verstehenwollen.
Die eurythmischen Gebärden sind so vielfach gebraucht – wie werden sie neu?
Der schauspielerische Ausdruck lebt in den Urbildern, die Darstellenden müssen lachen oder weinen, lieben oder hassen, töten oder gebären. Sie individualisieren sich durch die Persönlichkeit des Künstlers oder der Künstlerin. Das ist bei der Eurythmie nicht anders. Allerdings orientieren sich die Bewegungen und Gebärden an Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen und sind dadurch, genau wie die Laute unserer Sprache, nur begrenzt frei. In unserem Alphabet gibt es je nach Zählart um die 30 Buchstaben, die aber im Zusammenhang immer anders klingen. Eine Birke als lebendiger Organismus kann nur wie eine Birke wachsen und wird so auch immer erkennbar sein, auch wenn sie im Tal anders wächst als in höheren Lagen. Und doch gibt es eine so ungeheure Vielfalt, die manchmal vielleicht nicht direkt ins Auge springt, sondern erst beim genaueren Hinschauen auffällt.
Vom Erdgeist bis zum Erzengel – wie stellt man geistige Wesen dar?
Bereits in der Sprache stehen wir vor der Schwierigkeit, wie wir geistige Wesen, geistige Realitäten, so beschreiben, dass sie nicht banal wie materielle Wesen erscheinen. Wir wissen, dass Gott kein alter Mann mit Bart ist, und doch versuchen wir, uns ein Bild zu machen. Mithilfe der Eurythmie können wir auf künstlerische Art verschiedene Wesen bewegt, also im Prozess sichtbar machen. Der Erdgeist erscheint zum Beispiel als gewaltiges wogendes Geschehen. Er spricht zwar als einzelnes Wesen, ist aber ein Zusammenwirken vieler Kräfte, die deswegen auch durch mehrere Eurythmistinnen dargestellt werden. Die Bewegung offenbart auch beim Menschen viel von seinem Wesen, die ‹edle Haltung› offenbart eine edle Persönlichkeit. So wird ein Engelwesen noch in stärkerem Maße seine ‹Aufrichtigkeit› zeigen und ein egoistisch-triebhaftes Wesen seine horizontale, den irdischen Kräften sich hingebende Haltung. Krumm und gerade sind entsprechende Formelemente. Zur eurythmischen Rollengestaltung solcher Wesen hat Rudolf Steiner viele Anregungen gegeben, deren Essenz wir verstehen müssen, damit wir sie lebendig weiterentwickeln können.
Wie entstehen die Choreografien?
Außer der Ariel-Szene sind alle Formen von mir entwickelt oder aus gemeinschaftlicher Arbeit hervorgegangen. Eine Choreografie bringt immer eine Gesetzmäßigkeit zur Erscheinung, die Gesetzmäßigkeiten des Raumes und dessen Wirkung auf die Zuschauerinnen und Zuschauer. Damit arbeitet ja auch das Schauspiel. Dann spielen Dynamiken eine Rolle, zusammenziehend, ausdehnend, stauend oder verfliegend haben jeweils eine andere Wirkung, ebenso wie die Polarität von strahligen, geraden Richtungen oder von runden verschlungenen Wegen. Aber die eigentliche Choreografie entsteht unter Berücksichtigung der Gesetze im Zusammenhang mit der Stimmung, den Künstlern und Künstlerinnen, dem Inhalt. Vervollständigt wird die choreografische Gestaltung einer Szene durch die Kostüme, die Beleuchtung und das Bühnenbild.
Was unterscheidet dramatische Eurythmie von Laut- und Toneurythmie?
Diese Einteilung in Schubladen ist gar nicht so wichtig. Natürlich unterscheiden sich die verschiedenen Künste, aber das Wesentlichste ist, dass etwas sichtbar wird, was sonst so nicht erscheinen würde. Gute Porträtfotografen oder -fotografinnen sind bemüht, dass nicht nur der Leib korrekt abgebildet wird, sondern dass etwas vom innersten Wesen des Menschen durchscheint. Wenn ich mich also um die eurythmische Umsetzung eines dramatischen Textes bemühe, soll diese Dramatik erlebbar werden. Die Dramatik entsteht aus der Spannung von Polaritäten mit dem Ziel, eine Geschichte zu erzählen. Die Seele bewegt dann den Körper auf eine bestimmte Weise, zum Beispiel was den Charakter, die Körperspannung betrifft, aber auch die Gestaltung der Zeit, die sich in verschiedenen Tempi offenbart. Im Schauspiel wird die Emotion in Sprache, Gestik und Mimik umgesetzt, in der Eurythmie muss diese in eine Bewegung gegossen werden, die nicht pantomimisch oder gestikulierend ist – das ist auch nach 100 Jahren noch ungewöhnlich und ungewohnt.
Die Schauspieler und Schauspielerinnen sind als Einzelne tätig, die Eurythmisten und Eurythmistinnen als Gruppe. Was heißt das?
Gerade in unserer ‹Faust›-Inszenierung gibt es eurythmisch ja prägende solistische Rollen. So zum Beispiel Mephisto, der für diese Inszenierung neu auch eurythmisch gestaltet wird, dann den ‹bösen Geist›, Nereus, Proteus, Manto, Erichto und die Sorge. Selbst die Erzengel im Prolog sprechen nicht nur als Gruppe, sondern stehen für sich. Die Einzelrollen sprechen als geistige Individualität, nicht persönlich, menschlich, sondern als Wesen. Wenn Menschen in Gruppen auftreten, verblasst das Individuelle etwas, es erscheint die Gruppe und es offenbart sich eine bestimmte Seite des Menschenwesens – leider wird dabei häufig nicht das Edelste des Menschen sichtbar. In der Eurythmie geht es um dasselbe: Das Wesen soll erscheinen – das Wesentliche der Hexen allgemein, der Charakter der Wasserwesen, etwas Übergeordnetes.
Muss man Eurythmie kennen, um sie künstlerisch zu verstehen?
Muss man Musiker sein, um Musik zu verstehen? Muss man Kunst studiert haben, um moderne Kunst zu verstehen? Ich denke nicht. Jedes Wissen hilft, das Bewusstsein für Wahrgenommenes zu erweitern. Kunst kann selbstverständlich auch verstanden werden, aber in erster Linie entsteht eine Resonanz mit der Seele und nicht mit dem Intellekt. Die Seele reagiert immer mit Sympathie und Antipathie, deswegen geht es auch nicht darum, dass dem Publikum alles gefallen muss. Die Eurythmie bietet allerdings noch eine andere Ebene an, die viel mehr mit dem großen Begriff des Atems zu tun hat. Das ist dann vielleicht nicht immer emotional aufregend, aber kann dazu verhelfen, dass eine Darstellung, ähnlich wie ein Konzert, uns auch bis in die Körperlichkeit berührt. Das Besondere an der Eurythmie ist ja auch, dass sie Gewordenes wieder in den Prozess, also das gesprochene Wort und die Musik in den Bewegungsprozess, in die Sichtbarkeit, in die Mitvollziehbarkeit bringt.
Was sind die magischen Momente in den Proben?
Für mich sind es oft kleine, stille, äußerlich unscheinbare Momente, in denen plötzlich alle im Raum spüren, dass wir ganz nah dran sind, dass ‹es stimmt›! Und dann aber auch die Momente, wo es uns nach langer, intensiver Arbeit gelingt, dass eine Szene funktioniert und uns alle überzeugt.
Was sind Baustellen im ‹Faust›?
Die größte derzeitige Herausforderung ist natürlich die gegenwärtige Lage der Pandemie. In der ‹Faust›-Inszenierung haben wir seit der letzten Vorstellung einiges neu ergriffen. So haben wir zum Beispiel die Szene mit Euphorion so umgearbeitet, dass der Puppenspieler Stefan Libardi diese Rolle jetzt mit zwei Puppen gestaltet. Durch diese fortgesetzte Auseinandersetzung mit dem ‹Faust›-Text ist eine Vertiefung entstanden, durch die eine Erweiterung und Belebung der ganzen Arbeit erfolgte. Auch als Eurythmie-Theater-Gemeinschaft am Goetheanum sind wir weiter zusammengewachsen und wir sind überzeugt, dass das Publikum dies spüren wird.