Joe Biden wird neuer Präsident der USA. Doch das Land ist tief gespalten. Eine Wiederannäherung und Verhinderung weiterer Gewaltausbrüche wird nur durch jeden Einzelnen gelingen.
Am 3. November, während der Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten, packe ich mein Auto und fahre quer durchs Land. Wenn Sie noch nie quer durch Amerika gefahren sind, lassen Sie mich Ihnen sagen, es ist ein großes Land. Der Mittlere Westen scheint ewig zu dauern. Ich fahre an endlosen Traktoranhängern und von der Ernte übrig gebliebenen Getreidestoppelfeldern vorbei. Stundenlang ändert sich nichts. Dann plötzlich erhebt sich ein riesiger Vogelschwarm von den menschenleeren Feldern und schwingt seinen vielflügeligen Körper über die Autobahn – ich gerate für einen Moment in Panik, als die Lastwagen auf ihn zurasen –, dann teilt sich der Schwarm und kehrt auf jeder Seite in Sicherheit zurück.
Während ich fahre, höre ich Radio und versuche zu verfolgen, was bei der Wahl passiert. Irgendwann fragt ein Nachrichtensprecher einen Politiker: «Unabhängig davon, wer gewinnt, wie können wir erwarten, dass in einem so gespaltenen Land jemals wieder etwas erreicht wird?» Der Politiker antwortet, dass Zusammenarbeit keine Hirnforschung sei, und listet dann eine Reihe ehemaliger Politiker auf, die ‹quer über die Schneise hinweg› arbeiten konnten. Aber während er sich seinen Weg durch diese Reihe vergangener Kollegialität schlängelt, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine Worte nur leere Luft sind.
Scheiternde Beziehungen
Wie könnten wir wieder anfangen, zusammenzuarbeiten? Seit so vielen Jahren wird uns immer wieder gesagt, dass die andere Seite gefährlich ist, eine Bedrohung für alles, woran wir glauben, eine Bedrohung für unsere Kinder. Wenn wir einmal Samen solcher Hysterie und solchen Hasses aufgenommen und wenn wir sie selbst verbreitet haben, wie können wir dann wieder einfach miteinander auskommen? Wir haben uns so sehr von der Wut und dem Sturm mitreißen lassen, dass wir nicht einfach dazu zurückkehren können, wieder Nachbarn zu sein.
Schon einige Zeit befinden sich die Menschen in den USA in der Phase einer gescheiterten Beziehung, in der man es nicht ertragen kann, einander nur sprechen zu hören. Als die Präsidentschaftskandidaten im Herbst dieses Jahres zusammenkamen, um zu debattieren, war der erste Versuch, sich zu unterbrechen, den anderen zu übertönen. Der zweite Versuch fand gar nicht erst statt; stattdessen sprachen die Kandidaten an verschiedenen Orten und zur genau gleichen Zeit (übertönten sich also wieder). Die dritte Debatte brachte sie zwar wieder in den gleichen Raum zurück, aber jetzt waren ihre Mikrofone abwechselnd stumm geschaltet, sodass sie gezwungen waren, sich gegenseitig das Wort zu gewähren. Sicher, Trump ist daran am meisten schuld – er schneidet Biden immer wieder das Wort ab –, aber die Linke trägt auch ihren Teil an Zensur und Stummschaltung bei.
Der Nullpunkt
Es könnte sein, dass wir Amerikaner an dem Punkt einer gescheiterten Beziehung sind, an dem die Auseinandersetzungen so hitzig werden, dass wir anfangen wollen, Dinge kaputt zu machen. Trump wurde gewählt, um Dinge kaputt zu machen. Seit vier Jahren wird er «ein Stier im Porzellanladen» genannt. Er hat den Willen seines Volkes erfüllt; er war dessen Riese. Er hat den Status quo und den selbstgefälligen Anstand der Elite zerschlagen.
Trump wurde gewählt, um Dinge kaputt zu machen. Er hat den Willen seines Volkes erfüllt; er war dessen Riese.
Aber die Rechte zerstört nicht allein. Es gibt auch eine Wut in der Linken, die allmählich auszubrechen beginnt. Wie kann man einem Mann mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck zusehen, wie er auf dem Hals eines anderen Mannes kniet, während dieser nach seiner Mutter schreit und dann stirbt – und nicht wütend sein?
Es ist von einem Bürgerkrieg die Rede gewesen. Menschen auf beiden Seiten kaufen Waffen. Meine Lokalzeitung berichtete, dass ein Mann in einer Nachbarstadt dabei erwischt wurde, wie er selbst gemachten Sprengstoff herstellte, und dass sich solche Vorfälle häufen.
Ist dies der Abstieg in die Barbarei, von dem Rudolf Steiner gesagt hat, dass er passieren könnte? Vielleicht ist das zu dramatisch, obwohl die Dinge in diese Richtung zu gehen scheinen. Falls wir dort ankommen, denke ich, sind wir alle schuld. Wer kann sagen, dass er seine Vorurteile überwunden hat? Wer kann sagen, dass er gelernt hat, den anderen zu sehen, dass er echtes Interesse gefunden hat? Wer kann sagen, dass er gelernt hat, zu wärmen, was kalt in ihm war, und zu kühlen, was heiß war?
Suche nach dem Neuen
Eine Rückkehr zur Normalität, zum Status quo, wird nicht viel lösen. Joe Biden, unser neuer Präsident der Mitte, kandidierte in den letzten 32 Jahren für dieses Amt. Er hat das Land in dieser Zeit nicht inspiriert, und nach allem, was man hört, hat er sich nicht verändert. Warum also sollte er jetzt irgendjemanden inspirieren? Seine Rede von der Vereinigung ‹aller Amerikaner› bietet im Moment einen erfrischenden Wohlklang, aber während ich weiterfahre, höre ich einem seiner eigenen Anhänger im Radio zu, der meint, dass es sich nur um «politische Standardrhetorik handelt; es ist ein kleiner Witz, ein simples Klischee».
Jahrelang haben wir tatenlos zugesehen, wie beide Seiten Gift in den Brunnen geschüttet haben. Was wir jetzt brauchen, ist lebendiges Wasser. Der Ursprung dieser Quelle kann nur in jedem von uns gefunden werden. Rudolf Steiner beschrieb, dass wir nur in Friedenszeiten neue Ideen aufbauen können; im Krieg gibt es dafür keine Chance. Der Frieden hält weiter an – zumindest gibt es noch keine Kämpfe auf der Straße –, aber wie lange noch?
Werden die Menschen die geduldige Arbeit aufnehmen und versuchen, das Geschehen zu verfolgen und neue Gedanken darüber zu entwickeln? Und haben wir den Wunsch, sogar bei unseren Feinden nach etwas Neuem zu suchen?