Vor hundert Jahren, am 25. Dezember 1918, wurde Muhammad Anwar as-Sadat geboren. Erinnerung an den ägyptischen Staatsmann und sein Engagement für den Frieden, ein Engagement, das im Innersten der eigenen Seele seinen Ursprung hat.
Er wuchs in einer traditionell geprägten Dorfgemeinschaft im Nildelta auf. Nach der Logik ‹Der Feind meines Feindes ist mein Freund› gehörten die Sympathien der oppositionellen Ägypter in der Zeit des Weltkrieges den Achsenmächten Deutschland und Italien. Denn sie kämpften gegen Großbritanien, die Besatzermacht Großbritannien. Sadat, der eine militärische Laufbahn begonnen hatte, suchte Verbindung zur Moslem-Bruderschaft und verstrickte sich schließlich in terroristische Aktivitäten. Sadat saß infolgedessen bis 1946 im Gefängnis. In langen Monaten der Einzelhaft begann er eine gründliche Selbstreflexion, die ihn zu einer mystischen Selbst- und Gotteserfahrung führte – und ihm Perspektiven der Freiheit ermöglichte, wie sie prägend für das 20. Jahrhundert sind. Das Kapitel in seiner Autobiografie, das sich dieser Zeit widmet, beginnt mit dem Satz: «Zwei Orte in der Welt machen es einem Menschen unmöglich, vor sich selbst davonzulaufen: das Schlachtfeld und die Gefängniszelle.» In dem, was er in Zelle 54 erwarb, dieser Möglichkeit, Abstand von sich selbst und von seinen Denk- und Verhaltensmustern zu gewinnen, erkennt man ein Charakteristikum des modernen Menschen; es tritt die Bewusstseinsseelenqualität als ‹Abstandsseele› auf: «Der Mensch wird, je weiter wir der Zukunft entgegenschreiten, immer selbständiger, immer individueller werden wollen. Der Glaube an äußere Autoritäten wird immer mehr und mehr ersetzt werden durch die Autorität der eigenen Seele. Das ist ein notwendiger Gang der Entwickelung.» Wie angemessen auch hierbei die Rede vom Schlachtfeld (s. o.) ist, mag man daran ermessen, dass für manche im Islam die Perspektive gilt, wonach der größere Dschihad (hier zu übersetzen mit ‹heilige Anstrengung›) derjenige ist, der in der eigenen Seele auszukämpfen ist.
Mit dem ersten Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser (1918–1970) verband Sadat seit den Tagen der Gefangenschaft eine Freundschaft. Als Nasser starb, folgte ihm Vizepräsident Sadat im Amt. Unterdessen befand sich Ägypten als Nachbar im Zentrum des Konflikts mit dem neuen Staat Israel, hatte nach 1948 und 1956 im Sechstageskrieg von 1967 eine schwere Niederlage erlitten, in deren Folge die Sinai-Halbinsel besetzt wurde und am Suez-Kanal israelische Truppen standen. So wurde Israel zum Feindbild, gegen das sich Sadat schon vor seiner Präsidentschaft wandte. Er bemühte sich zunächst erfolglos um eine Annäherung an Israel. So kam es zum Jom-Kippur-Krieg 1973, in dessen Verlauf Ägypten einige Teile der Sinai-Halbinsel zurückgewinnen und militärisch an Selbstbewusstsein gewinnen konnte.
Vier Jahre später startete Sadat seine Friedensinitiative, die die arabische Welt gegen ihn aufbrachte; am 10. November 1977 sagte er vor dem ägyptischen Parlament: «Ich erkläre hier mit vollem Ernst, dass ich bereit bin, ans Ende der Welt zu gehen – und die Israelis werden überrascht sein, dies zu hören –, sogar in ihr Haus, in die Knesset selbst, um mit ihnen zu diskutieren, wenn ich damit den Tod eines einzigen ägyptischen Soldaten verhindern kann.» Wenige Wochen darauf machte sich Sadat tatsächlich auf den Weg nach Israel. Seine Frau Jehan, die heute noch lebt, fürchtete, ihn dabei durch einen Anschlag zu verlieren. «Ich traue meinen Augen nicht: Anwar schüttelt erst Ephraim Katzir, dem israelischen Präsidenten, die Hand und dann Premierminister Menachem Begin […]. Anwar geht auf sie zu und reicht ihnen lachend die Hand. […] Wenn Kriege absurd sind, dann treibt diese Friedensszene ihre Absurdität auf die Spitze.»
Die Friedensinitiative, wurde von Israel aufgegriffen, es folgten die schwierigen Verhandlungen, moderiert von Jimmy Cater, die schließlich in das Camp-David-Abkommen von 1978 mündeten. Sadat und Begin wurden daraufhin mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Der amerikanische Autor Stephen R. Covey erkennt in diesem Vorgehen Sadats die Möglichkeit, ‹sein Skript zu ändern›: «Das [alte, d. h. den Hass auf Israel nährende] Skript war sehr unabhängig und nationalistisch und weckte bei den Menschen tiefe Emotionen. Aber es war auch sehr töricht, und Sadat erkannte das. Es ignorierte die gefährliche, hochgradig interdependente Wirklichkeit. Also schrieb er ein neues Skript.» Wo immer wir, sei es in der Familie oder in Kollegien, längere Zeit mit denselben Menschen, mit festen Rollen, mit ihren und den gemeinsamen Verhaltensmustern zu tun haben, bewegen wir uns, oft unbewusst, im Rahmen solcher Skripte; nie kann eine neue gemeinsame Entwicklung beginnen, wenn nicht jemand die Übersicht und den Mut hat, das Skript zu ändern, was konkret bedeutet: das eigene Verhalten in der wechselseitigen Auseinandersetzung zu ändern. Sadats Weg endete abrupt durch den Mordanschlag islamistischer Verschwörer bei den Feierlichkeiten zum Jahrestag des Krieges von 1973 am 6. Oktober 1981, als Sadat auf der Ehrentribüne im Beisein seiner Frau erschossen wurde. Die Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden endeten im Kugelhagel. Die Friedensqualität, die in seiner inneren Entwicklung und Initiative liegt, ist von den Kugeln nicht zu vernichten. Sie ist in der Welt wirksam, sooft sich Menschen ihrer entsinnen und sie ausbilden wollen.
Auf dem Foto: Anwar Sadat, Präsident Ägyptens von 1970–81