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«Das Unvergesslichste waren seine Augen …» Felix Heinemann und Rudolf Steiner

Es gibt nicht viele Menschen, die Rudolf Steiner vor der Jahrhundertwende kennengelernt haben und ihm dann auf dem Weg in die Anthroposophie gefolgt sind. Felix Heinemann (1863–1935) ist einer von ihnen.


Heinemann wurde in eine Hamburger Kaufmannsfamilie hineingeboren und ließ sich zum Verlagsbuchhändler ausbilden. Zusammen mit Otto Neumann-Hofer (1857–1941) übernahm er 1896 vom Cotta-Verlag die damals populäre Zeitschrift ‹Romanwelt›, die ihn neben seinem Verlagshaus Vita vollauf beschäftigte. «Es ist daher begreiflich», schrieb er später in seinen Erinnerungen über «Rudolf Steiner und das ‹Magazin für Literatur›», «dass ich nur mit halbem Ohr zuhörte, als mir Otto Neumann-Hofer eines Tages unvermittelt die Frage stellte, ob wir das ‹Magazin für Literatur› übernehmen wollten.» (1) Heinemann fragte: «Wie viel jährlichen Zuschuss müsste ich dafür bereitstellen?» Und: «Können Sie mir garantieren, dass mir persönlich keine Mehrarbeit erwächst, wenn wir das Blatt übernehmen, und versprechen Sie mir, dass der Verkehr mit dem Herausgeber – übrigens, wer ist das? –, der Redaktion, den Autoren, der Druckerei und den Lieferanten ausschließlich Ihre Aufgabe sein soll?» Als Herausgeber nannte Otto Neumann-Hofer «einen ‹gewissen Dr. Rudolf Steiner›. Er sei einer der bedeutendsten Köpfe und einer der größten Wisser unter der neuen Generation. Seine Vielseitigkeit sei ebenso bewundernswert wie seine Gründlichkeit. Die redaktionelle Leitung des Blattes könne ihm unbedenklich und unbeschränkt überlassen bleiben. Auch würde ich mit ihm persönlich keine Zeit zu verlieren brauchen, er sei Nachtarbeiter, ich Tagmensch, wir würden uns kaum begegnen. Nur möchte ich meine gewohnte Ordnungsliebe nicht zu sehr mitsprechen lassen, denn Dr. Steiner habe seine eignen Ansichten darüber.»

Felix Heinemann war beruhigt über diese Auskunft – und bedauerte später: «Man soll Rudolf Steiner in seinen wichtigsten Entwicklungsjahren so nahe gewesen sein, ohne Kenntnis von seiner künftigen Weltbedeutung zu haben, ohne die Zeit und die Gelegenheit, als einer der ersten seiner Schüler den Zukunftsweg in seiner Gefolg­schaft zu beschreiten! […] Ein Menschenalter ging darüber hin, ehe es mir gelang – und gegen welche Hindernisse! –, meinen Weg zu Rudolf Steiner zurückzufinden.»

Weltlicher Eremit

Zunächst aber behielt Neumann-Hofer «leider recht: Rudolf Steiner ‹kostete mich wenig Zeit›.» Doch «als ausschlaggebender Leiter des Verlages» musste Heinemann den Herausgeber einmal persönlich kennenlernen: «Eines Mittags – meine frühen Morgenstunden kamen für Rudolf Steiner nicht in Betracht – führte Otto Neumann-Hofer ihn bei mir ein. […] Welchen Eindruck Rudolf Steiner trotz alledem auf mich machte, geht schon daraus hervor, dass ich sein Bild von damals noch heute malen könnte. Paradox ausgedrückt war es das eines weltlichen Eremiten. Das Unvergesslichste waren seine Augen, ungewöhnlich große, tiefschwarze, über die Gegenwart hinaus in eine uns rätselhafte, ihm gewissermaßen leidvoll bekannte Ferne schauend, und mehr als die Augen, der Blick und die Art, zu blicken. Die Menschen sprechen so oft vom Auge und werden sich des Unterschieds zwischen Auge und Blick nicht bewusst. Die scharfen, müden Striche, die Steiners Augen in den letzten Dornacher Jahren umrandeten, waren damals noch nicht vorhanden. Eine große Kraft strahlte von ihnen aus, eine durchgeistigte Willenskraft, damals schon vollendet herausgearbeitet, aber durch das straffere Gewebe des jüngeren Kopfes weniger leicht zu erfassen als in der feinlinierten Mannigfaltigkeit, die wir von der Schreinerei her kennen. […] Es ergab sich ganz selbstverständlich, dass Rudolf Steiner seiner Persönlichkeit gemäß lebte und wirkte. Die Redaktionsräume und ihre Hilfsmittel benutzte er nicht. Er war ‹Heimarbeiter› […] und seine Manuskripte wanderten in selbstherrlicher Freiheit von ihm direkt in die Druckerei.»

Odyssee bis in die Schweiz

Über den Lebensweg Felix Heinemanns ist nicht viel bekannt – nur wenige Dokumente ließen sich zu seinem Werdegang auffinden. Er heiratete die italienische Gräfin Raffaela Paulucci delle Roncole.(2) Das Ehepaar wohnte in Berlin, wo ihnen zwei Kinder geboren wurden.(3) Dort trat Felix Heinemann 1901 in eine Freimaurerloge ein; später wurde er zum Hofrat ernannt. Er förderte die Theaterzeitschrift ‹Die Scene› und finanzierte den Ankauf der Pfeil- und Bogensammlung des Ethnologen Leo Frobenius (1873–1938) für das Hamburger Völkermuseum.

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Die Menschen sprechen so oft vom Auge und werden sich des Unterschieds zwischen Auge und Blick nicht bewusst. …

— Felix Heinemann

Später übte Heinemann eine diplomatisch-politische Tätigkeit aus, die ihn in den Kriegsjahren und auch noch danach vor allem immer wieder nach Italien reisen ließ.(4) Er selbst schreibt darüber nur: «Es dürfte vielleicht nicht viele Privatpersonen geben, die so tief und so leidvoll hinter die Kulissen dieses Weltgeschehens geblickt haben. Nach einer wahren Odyssee landete ich in der Schweiz.»

Am 12. März 1917 schrieb er erstmals wieder an Rudolf Steiner, noch aus Berlin; am 14. August 1920 – inzwischen in Luzern lebend – hakte er nach: «Mein verehrter Herr Doktor, ein sehr alter Bekannter, der schon längst eine Wiederbegegnung mit Ihnen suchte, auch schrieb, aber von dem Vielbeanspruchten, also Entschuldigten, keine Antwort erhielt, meldet sich heute wieder bei Ihnen. Mit mehr Erfolg?» (5) Er vertiefte sich nun «konsequenter als früher in Steiner’sche Schriften und suchte persönliche Fühlung mit ihm».

Von Gleich zu Gleich

Doch wohl erst im Februar 1924 kam es zu dem von ihm erbetenen Gespräch in Dornach: «Keine Sprache ist imstande, den Ton wiederzugeben, mit dem Rudolf Steiner mich empfing. Es schien, als ob überhaupt keine Zeit zwischen jenen alten Berliner Tagen und dem Jetzt verstrichen wäre. Mit tiefer Dankbarkeit empfand ich die Aufnahme von Gleich zu Gleich, die er mir zuteil werden ließ, nahm sie aber auch als ein Geschenk entgegen, und hatte später oft Gelegenheit zu beobachten, dass Rudolf Steiner diese herzgewinnende Art überhaupt aus innerster Natur eigen war. Wenn auch die Anthroposophische Gesellschaft ausdrücklich unpolitisch ist, so hindert das nicht, dass Rudolf Steiner tiefste Einsicht in die Politik, ihre Mittel und Ziele besaß, und von der Warte geisteswissenschaftlicher Erkenntnis über dieses wichtige Lebensgebiet dachte.»

Nun setzte offenbar ein reger Austausch zwischen beiden ein, wie die vielen Briefe von Felix Heinemann aus den Jahren 1924 und 1925 und die zwei Gegenbriefe (6) bezeugen. Immer wieder besuchte Felix Heinemann Dornach, ging in die Vorträge Rudolf Steiners und es kam einige Male zu Gesprächen.

Zwischendurch hatte er wieder schwierige Aufträge in Rom zu erledigen: «Es ist mir eine schwere Entsagung, dass ich so lange in Dornach fehlen muss. Aber ich habe noch die Schlacht hier durchzukämpfen, gegen eine wirkliche Hölle. Vielleicht weiß ich in 8 Tagen, ob ich siege oder auf der Strecke bleibe. – Meine Gedanken sind früh und spät bei Ihnen u. Ihrem Werk.» (7)

Zwischen Dornach und der Welt

Ab September 1924 denkt er ernsthaft darüber nach, nach Dornach zu ziehen, um Rudolf Steiner voll und ganz als Mitarbeiter zur Verfügung zu stehen. Was Rudolf Steiner sich seinerseits von ihm erhoffte, geht aus seinem Brief vom 31. Dezember 1924 hervor: (8) «Das ganze Gefüge der Goetheanum-Verwaltung muss nun einmal so bleiben, wie es jetzt ist. Denn man kann nur das machen, wozu man Menschen hat. Insbesondere muss die finanzielle Verwaltung ganz dieselbe Gestalt behalten, d. h. durch mich allein besorgt werden. Anders könnte ich nicht arbeiten. – Aber gerade deshalb würde ich es mit Freuden begrüßen, wenn Sie, mein lieber Herr Heinemann, Ihre Umsicht und Arbeitsart der Sache widmen könnten. Wir brauchen für die nächste Zeit, damit der Bau nicht stockt, viel finanziellen Zufluss. Den erhält man nur, wenn jemand, der Weltmann ist, die Beziehung zwischen der Anthroposophie und der Welt vermittelt. Ganz sachlich, auf das Verständnis der Menschen rechnend. Das könnten Sie. Gerade dann, wenn Sie in der Hauptsache in Dornach sind. Dann ergeben sich für weiter die breitesten Betätigungsmöglichkeiten.» Am 15. Februar 1925 schreibt Rudolf Steiner, dass Heinemanns Brief in ihm so viele Fragen anrege, «dass es mir in diesem Augenblicke unmöglich ist, Ihnen zu schreiben, was ich Ihnen zu schreiben habe. Meine Gesundheit ist noch ganz labil; und ich muss die Augenblicke aussuchen, in denen ich es riskieren darf, mehr zu tun, als was gegenwärtig das Technische des Baues und das Notdürftigste der Verwaltung von mir fordern. […] Sind Sie mir deshalb nicht böse, wenn ich Ihre Briefe erst in den nächsten Tagen beantworte. Es geschieht dann gewiss. […] – Mit herzlichen, auch in alter Erinnerung wurzelnden Grüßen ganz Ihr Rudolf Steiner». Felix Heinemann versichert ihm am 12. März: «Soweit ich Herr über die Umstände wurde u. bleibe, halte ich mich immer bereit, die Arbeit zu versuchen, die Sie von mir wünschen u. zu der Sie mich befähigt glauben sollten.» Und Heinemanns letztem Brief am 25. März 1925 kann man entnehmen, dass Günther Wachsmuth ihm geschrieben hatte, dass Rudolf Steiner ihn sprechen wolle, «aber abwarten» müsse, wann er «es einrichten» könne. Dazu kam es dann nicht mehr.

Ein mögliches Zuspät

Wenn man weiß, wie wenige Menschen Rudolf Steiner auf dem Krankenlager empfangen hat, kann man ahnen, wie wichtig ihm der Kontakt mit Felix Heinemann war – und man fragt sich, über was er wohl mit ihm sprechen wollte. Offensichtlich erhoffte er sich wichtige Impulse von diesem Mann, der viel Welterfahrung und den Willen mitbrachte, sich ganz für die Sache der Anthroposophie einzusetzen. Felix Heinemann lässt den Grundtenor der stattgefundenen Gespräche anklingen: «Und da Rudolf Steiner sich überzeugte oder wusste, dass mich praktische und theoretische Erfahrungen zur Erfassung seiner Anschauungen gereift hatten, so eröffnete er mir umfassende, von tiefer Sorge erfüllte Einblicke, deren Grundton in die Befürchtung eines möglichen Zuspät ausklang und über die sich vielleicht einmal an anderer Stelle sprechen lässt.» (9)

Am 1. März 1927 zog Felix Heinemann nach Arlesheim, wo er am 23. Mai 1935 verstarb.


(1) Alle folgenden Zitate – soweit nicht anders ausgewiesen – aus: Felix Heinemann-Paolucci, «Rudolf Steiner und das ‹Magazin für Literatur›», in: Das Goetheanum, Jg. 1927, S. 283 ff.
(2) Harry Graf Kessler, der das Ehepaar Heinemann am 28. März 1918 im Zug von Bern nach Luzern kennenlernte, charakterisiert sie als «nette, amüsante Italienerin» (Das Tagebuch 1880–1937, Stuttgart 2004, S. 337).
(3) Von diesen beiden Kindern (Margaretha 1903, und Kurt Gernot, 1905) konnten Geburtsurkunden aufgefunden werden; es ist aber möglich, dass noch weitere Kinder geboren wurden.
(4) Siehe dazu die Zeitschrift La Vita italiana: rassegna di politica interna, estera, coloniale e di emigrazione, Jg. 1917.
(5) Alle hier zitierten Briefe befinden sich im Rudolf-Steiner- Archiv, das auch das Copyright darauf hat.
(6) Felix Heinemann schreibt von einer «Anzahl seiner Briefe», die sein «größter Schatz» seien. Vermutlich waren dies mehr als die zwei erhaltenen Briefe.
(7) Leider fehlen offensichtlich gerade die Briefe von Heinemann, auf die Rudolf Steiner in seinen Antwortbriefen Bezug nimmt.
(8) Das hat Felix Heinemann wohl nicht mehr getan – es ist nichts davon bekannt, er hat sich darüber nicht mehr an anderer Stelle geäußert.

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