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Das Unsichtbare und das Denkbare

Die Coronakrise zeigt Widersprüche: Das Übersinnliche wird verneint, doch überall die Rede vom unsichtbaren Virus. «Verbotspartei» hören die grünen Parteien, angesichts von Impflicht und Ausgangssperre. Und das Wort ‹Corona›: hier die virale Bedrohung und oben der unsichtbare Kranz der Sonnenkorona, ihr geistiges Licht – das, wer es ergreift, ebenso im besten Sinne ansteckend wirkt.


1 Die Wissenschaft operiert zu großen Teilen derzeit vor allem mittels des Faktors Unwissenheit. Als unwissenschaftlich gilt sie deshalb nicht; umso mehr fällt dies auf. Es wird auf ‹mögliche› Tode hingewiesen – wenn die Infizierten-Zahlen weiter steigen –, auf ‹mögliche› Folgen aufgrund der ‹möglichen› Wirkungsweise der bis heute noch zu wenig erforschten Virenart.

Die Spekulation oder Hochrechnung, das Argumentieren in einer Grauzone, ist hier also, aus der Natur der Sache heraus, die vorherrschende Methode. Immer wieder wird betont, dass das alles Neuland sei für Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, eben für die ganze Gesellschaft. Aus diesem Unbekannten und Unsichtbaren heraus – bzw. mit diesem – werden zugleich sehr konkrete und weitreichende Maßnahmen begründet, die uns derzeit massiv in unserem Leben betreffen. Kommuniziert werden sie mit einem stark appellativen Gestus: Man werde, so sagte der deutsche Kanzleramtsminister am 21. März in einem ‹Spiegel›-Interview, das Verhalten der Bevölkerung sehr genau beobachten. Der erzieherische Ton, der hier durchklingt, wird längst von vielen Bürgern im Alltag übernommen: als aggressive Moralisierung untereinander. Es häufen sich Szenen, in denen verunsicherte Blicke, Kritik, Argwohn oder Wut wegen eines nicht eingehaltenen Sicherheitsabstands oder offene Empörung über Gruppen das soziale Miteinander prägen.

Eltern kennen es, dass man zunächst zornig gegenüber seinem Kind agiert, wenn es sich leichtfertig in große Gefahr begibt, zumal eine, vor der man schon einmal gewarnt hat. In diesem Zorn steckt – in Wahrheit – zum einen die tiefe Sorge, dass das Kind zu Schaden kommt. Aber es steckt darin immer auch, zumindest bei nicht ganz so gravierenden Unvorsichtigkeiten, der Ärger, dass das Kind uns zu etwas nötigt: zu Angst und Panik und zu jenem harten Eingreifen, das man vom eigenen Selbstbild her eigentlich nicht will. Das Kind ist dann im Grunde selbst daran schuld, dass es eine Ohrfeige bekommt; es war nur eine Ohrfeige aus Angst.

So kursierten in der Debatte um eine Ausgangssperre schnell Statements, wo Menschen ihre Mitbürger an die gemeinsame Verantwortung erinnerten und ihnen prophylaktisch die Schuld dafür gaben, wenn die Einschränkungen massiver werden würden.

Das mächtige Unsichtbare macht – weil wir uns ohnmächtig fühlen – sichtbar, wie es mit der Moral und dem Gemeinsinn des Nachbarn, der Freundin, der Kollegin oder des Bruders bestellt ist.

2 Während die wissenschaftliche Erforschung des Geistigen, wie sie Rudolf Steiner entwickelt hat, sich stets mit dem Einwand konfrontiert sieht, sie sei unwissenschaftlich, weil ihr Gegenstand nicht mit herkömmlichen oder schon bestehenden bzw. ausgebildeten Mitteln nachgewiesen, man möchte sagen: getestet werden könne, und während Steiner außerdem immer wieder als von ‹Anhängern› blind bejahte Autorität denunziert wird, akzeptieren wir in der gegenwärtigen Lage nicht nur relativ gehorsam die Autorität von Regierungen, die sich ihrerseits auf die Autorität der sie beratenden Wissenschaftler berufen. Darüber hinaus akzeptieren wir plötzlich die Macht von etwas, das als geistige Möglichkeit, als Symptom im Wortsinn in der Luft liegt, die Macht des Windes, der das Virus dorthin weht, wo er will, und der uns ansteckt und eine Krankheit zum Tode übertragen kann.

Solche Widersprüche durchzogen auch jüngere politische Beschlüsse. Der Aufstieg der Grünen wurde zuletzt mit keinem Vorwurf hartnäckiger bekämpft als mit dem, eine ‹Verbotspartei› zu sein. Dann aber wurde von den gleichen Verantwortlichen eine Masernimpfpflicht eingeführt, die nichts anderes besagt als: Es ist verboten, sich nicht impfen zu lassen.

Im grün-ökologischen, ganzheitlich denkenden Milieu hat die Bewegung Fridays for future zurecht viele Sympathien gewonnen. Allerdings lässt sich eine Ablehnung geistig-spiritueller Gesichtspunkte unter führenden Mitgliedern dieser Bewegung beobachten. Das hat die Diskussion über die Homöopathie bei den Grünen gezeigt, im Laufe derer die junge Leipziger Ärztin Paula Piechotta laut FAZ im November 2019 apodiktisch äußerte: «Wir Grüne müssen uns klar gegen Verschwörungstheorien, Esoterik und Wissenschaftsfeindlichkeit aussprechen – sonst können wir nicht länger andere als Klimaleugner kritisieren.»

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Was geschieht mit unserer Sprache, wenn sie nur noch aus Schlagworten besteht?

Auch hier fällt auf: Die Anthroposophie wird immer wieder mit der fragwürdigen Gewohnheit der feuilletonistischen Öffentlichkeit konfrontiert, dass hermeneutische Grundregeln, die sonst bei jedem Diskurs eingefordert werden, im Umgang mit Rudolf Steiner nicht eingehalten werden. Als Stichworte seien hier Nüchternheit oder sauberes Zitieren genannt –, werden im Umgang mit esoterischen Perspektiven oder dezidiert anthroposophischen Ansätzen gängigste Wissenschaftskriterien außer Kraft gesetzt. Also: Da gibt es ein Phänomen, z. B. das Phänomen ‹Rudolf Steiner›, ‹Waldorfschule› oder ‹Wirkung von Globuli›, und ich setze mich, indem ich mich zunächst gründlich orientiere und informiere, in aller Seelenruhe und Unbefangenheit mit ihm auseinander. Viele diesbezügliche Artikel sind hingegen von vorneherein tendenziös, die wenigsten sind abwägend, das Urteil offenhaltend oder begrifflich differenziert. Selbst das Wohlwollen ist toxisch, wenn etwa anlässlich Waldorf100 der sichtbare Erfolg in der Praxis gelobt, die ‹Theorie› eines darin wirkenden Geistigen, also Unsichtbaren, das durch die Forschungen Steiners ins Bewusstsein trat, dagegen wie ein Störfaktor oder ein zählebiges Virus dargestellt wird, das man als aufgeklärte Anthroposophen bekämpfen und endlich überwinden müsse.

Diese Doppelmoral und Ungenauigkeit, ein Messen mit zweierlei Maß, ist auch in der sogenannten Coronakrise zu beobachten.

Denn wer darf eigentlich was als eine Falschmeldung, als Fake News bezeichnen? Von welcher Stelle aus urteilen wir, wenn wir etwas als Verschwörungstheorie abtun oder auch wenn wir eine solche mit allzu missionarischem Eifer aufstellen? Was geschieht mit unserer Sprache, wenn sie nur noch aus Schlagworten besteht? Was geschieht mit unserer Empfindungs- und unserer intuitiven Fähigkeit, wenn auf Affekten, Suggestionen und Emotionen Argumentationen aufgebaut und mit ihnen rechtlich fragwürdige Einschränkungen unserer Freiheit begründet werden?

3 Deshalb drängt es sich durchaus auf, nach der spirituellen Signatur und der Sprache der Symptomatologie zu fragen. Das fängt bereits beim Namen des Virus an, der die Symbolik der Sonnenkorona in sich trägt und als ‹Kranz› oder Krone das innere Königtum des geistigen Menschen aufscheinen lässt. Dieses Königtum ist aber ein zunächst unsichtbares und übersinnliches. Es muss ergriffen werden und sich als Bild, als Ideal, als Streben im Denken und Leben ausbreiten. Indem es denkbar wird, wird es auch lebbar und sichtbar und – ohne es zynisch oder frivol zu meinen – sozial ‹ansteckend›. Wenn Menschen sich als wache, eigenständige Individualitäten begegnen, so ist das ermutigend und inspirierend auch für alle anderen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, an äußere Autoritäten anzulehnen gewohnt sind. Ein weiterer Aspekt: Wie selbstverständlich und vertrauensvoll gehen wir mit dem Untersinnlichen, dem unsichtbaren Geist in der Maschine um, wie affektbesetzt geradezu ist unsere Beziehung zum eigenen Endgerät, immer wollen wir ‹verbunden› bleiben und Kontakt halten – und wie panisch sorgen wir uns nun, wir könnten ungewollt, durch Ansteckung, verbunden werden oder in Kontakt geraten mit einem Mitmenschen, einem Fremdkörper, gar einem fremden Geist, einer fremden Meinung, die uns infiziert, und ein gemeinsames Schicksal teilen.

Gewiss darf man es sich nicht zu leicht machen und zu reflexhaft dabei vorgehen, die gegenwärtige Entwicklung zu bewerten und sich ein Urteil zu bilden über die hier wirkenden Ursachen, Folgen und Interessen. Man würde – nur anders – jene Dynamik reproduzieren, die durch die unentwegt verbreiteten dramatischen Bilder und vor allem Zahlen in der Seele entsteht.

Es ist eine Frage des Herzens, die Oberfläche der Symptomatik nicht zu bagatellisieren, denn dies verletzt Betroffene seelisch. Gleichzeitig verlangt die eigene Souveränität, die Tiefenströmungen nicht zu scheuen und Fragen nach einem spirituell-okkulten Hintergrund nicht als moralisch und intellektuell unangemessen abzuwehren. «Geisteswissenschaft macht uns nicht zu Medizinern», sagte Rudolf Steiner am 10. Oktober 1916 in Zürich (GA 168), «aber Geisteswissenschaft befähigt uns, dasjenige, was durch den Mediziner in das öffentliche Leben eintritt, zu beurteilen, wenn wir nur richtig in die Geisteswissenschaft hineindringen. Wird das einmal verstanden werden, was ich jetzt mit diesen Worten meine, dann wird man viel, viel von den heilsamen Kräften des fünften nachatlantischen Zeitraums verstehen.»


Zeichnung Andreas Laudert von Sofia Lismont

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