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Das Sehen vor und nach dem Kunstwerk

Der Erfolg von Hilma af Klint ist verständlich: Plötzlich wird entdeckt, dass abstrakte Kunst nicht von Kandinsky erfunden wurde, sondern Jahre früher, und zwar von einer Frau. Dazu sind ihre Werke ästhetisch besonders ansprechend und originell. Doch worum ging es ihr eigentlich? Hinter diesen äußeren Merkmalen befinden sich Ansätze eines neuen Verständnisses der Ästhetik, der Rudolf Steiner und Marcel Duchamp auch nachgegangen sind, und ein systematischer Forschungsversuch geistiger Welten.


2013 widmete das Moderna Museet in Stockholm Hilma af Klint eine umfassende Retrospektive ‹Hilma af Klint: A Pioneer of Abstraction›. Die Ausstellung wurde zur bestbesuchten in der Geschichte des Museums und die Künstlerin wurde weltbekannt. Am 12. Oktober 2018 wurde im New Yorker Guggenheim-Museum die Ausstellung ‹Hilma af Klint: Paintings for the Future› eröffnet, und als die Schau am 23. April dieses Jahres zu Ende ging, war in New York wie vorher in Stockholm klar, dass es sich um die meistbesuchte Ausstellung aller Zeiten des Museums handelte. Zweifellos war die Ausstellung im Guggenheim ein Höhepunkt der bisherigen gut dreißigjährigen Ausstellungsgeschichte ihrer Werke. Der spiralförmige Rundbau von Frank Lloyd Wright bildet eine treffende architektonische Hülle für Hilma af Klints Werk. (1) Wir wissen, dass die Künstlerin von einem Tempel für die Präsentation ihres Werkes träumte, ein Wunsch, der mit den Ideen der Gründungsdirektorin der Solomon R. Guggenheim Foundation, Hilla von Rebay, korrespondiert, denn Hilla von Rebay, mit der Theosophie und mit dem Gedankengut Rudolf Steiners vertraut, stellte sich für das künftige Museum einen ‹Tempel für den Geist› vor, in dem gegenstandslose Kunst als ‹Religion der Zukunft› gezeigt werden sollte. Vielleicht, so wird vermutet, geht die berühmte Spiralform – übrigens ein immer wiederkehrendes Motiv in Hilma af Klints Werk – auf Rebay zurück.

Kunstgeschichte neu bedenken?

Was sind die Gründe für dieses intensive Interesse? Sicher bietet ihre Geschichte Stoff für eine sensationelle Story, nämlich die der Entdeckung eines vor 70 Jahren entstandenen ‹geheimen› Werkes mit Arbeiten, welche die etablierte Kunstgeschichte herausfordern, ihre scheinbar stabile Erzählung neu zu bedenken. Letzteres griff das Moderna Museet auf, als es af Klint zur Wegbereiterin der abstrakten Kunst erkor. Und tatsächlich war es vor allem dieser Gesichtspunkt, der seither für Gesprächsstoff und Debatten sorgte. Auch wenn af Klint sich nicht als Pionierin der Abstraktion verstand, noch in Kontakt bzw. Austausch mit bekannten Namen wie Mondrian und Kandinsky stand, noch weniger diese mit ihr. Aber es war ein sehr guter Aufhänger und funktionierte wie perfektes Branding. Dass die international bekannte Modemarke Acne Studio im Sommer 2014 eine Hilma-af-Klint-Kollektion auflegte, geschah ganz natürlich. Aber das hat vielleicht auch andere Gründe, die mehr mit der Annäherung von Mode und zeitgenössischer Kunst in den letzten Jahren zusammenhängen. Auf jeden Fall griff der Entwerfer der Acne-Kollektion, Jonny Johansson, die These ‹Pionierin der Abstraktion› auf. In der Presseerklärung auf der Webseite von Acne Studio erfahren wir, was ihn motiviert hat: «The colours and the depth and beauty of Hilma af Klint’s universe will strike anyone who spends time with her art. Her story as a forgotten artist, who is suddenly being considered as one of the pioneers within abstract art, is dazzling.»

Es gibt allerdings weitere und weitreichendere Gründe, die für das anhaltende Interesse von Hilma af Klint sprechen. Ihr Werk erlaubt noch eine ganze Reihe von weiteren Einstiegen. Ob Botanik oder wissenschaftliche Illustration von Pflanzen, ob Verwendung von Diagrammen, ob Kunstgeschichte aus feministischer Perspektive, ob Okkultismus mit seinen Verbindungen zur Theosophie und Anthroposophie, ob automatisches Schreiben 30 Jahre vor den Surrealisten, ob Ornamentik und der Einsatz von Schrift in der Malerei – der möglichen Zugänge sind viele.

 


Hilma af Klint, Nr. 77 aus der ‹Parsifal›-Serie, 1916, Hilma af Klint Foundation

Hilma af Klint, Nr. 77 aus der ‹Parsifal›-Serie, 1916, Hilma af Klint Foundation

 

Geistige Schulung

Grundsätzlich gilt aber, dass Hilma af Klint eine sehr gute Malerin war. Letztendlich hängt die Erfolgsgeschichte der letzten Jahre damit zusammen. Ihr Werk, das leicht in eine Nische verschoben werden könnte, überraschte immer wieder ästhetisch und öffnete sich dadurch eine breite Rezeption. Die zukünftige Erforschung wird zeigen, wie die Malerin selbst zu zeitgenössischen modernistischen Strömungen stand. Sie scheint sich darum wenig bis gar nicht gekümmert, sondern ihre ganze Kraft auf die innere Arbeit und auf die Vermittlung der Botschaften aus den höheren Welten gelenkt zu haben. Dieser Aspekt wurde bisher eher oberflächlich, schematisch und redundant behandelt. Die Inhalte und ihre präzise Auslegung standen bisher nicht im Vordergrund. Dies ist nicht verwunderlich, da die Kunstgeschichte die Symbolik und Ikonografie ihrer Bilder zum großen Teil nicht kennt. Der ästhetische Eindruck wirkt offensichtlich stärker als das Bedürfnis, genau zu verstehen, was es mit dem Buchstaben ‹W› auf sich hat oder von was die floralen und geometrischen Formen erzählen. Ihre Bilder überzeugen schlicht durch sich selbst, in Form, Farbe und durch die Art ihrer Ausführung.

Ihre Bilder sind auffallend selbstsicher und locker gezeichnet und gemalt. Die Art, wie sie den Stift oder den Pinsel führte, ist alles andere als pedantisch. Sie ist deswegen noch lange nicht naiv. Ihre akademische Bildung macht sich bemerkbar. Briony Fer hat in einem Text über die ‹Parsifal›-Serie von 1916 treffend formuliert: «She was getting it down on the page, laying on the colour, not roughly but in an improvisational manner suited to her task. This, of course, is precisely what makes them interesting as paintings and not simply as evidence of the supernatural. It is that miniature ‹bleed› on the watercolour that seems to almost evacuate at the centre of the circle, the pencil notations, the dating, the schematic pencil scaffolding of incredible delicacy and lightness, the gradations of colour, the chromatic complexity, the limpid veils of watercolour wash: all these are the features that draw us to Hilma af Klint’s work as aesthetic objects.» (2) In Fers überzeugender Analyse war es die Verbindung von Diagrammen eines visionären Prozesses mit der körpergebundenen Kontingenz, die letztendlich zu einem ästhetischen Werk führte, also der Kontakt zwischen dem schematischen Zeichen wie Kreis, Kubus, Spirale und den unbewussten Kräften des Körpers und dazu noch die zufälligen Effekte der jeweiligen und spezifischen Wirkungen der eingesetzten Materialien.

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Sie scheint sich wenig bis gar nicht um modernistische Strömungen gekümmert, sondern ihre ganze Kraft auf die innere Arbeit und auf die Vermittlung der Botschaften aus den höheren Welten gelenkt zu haben.

Ein bisher kaum behandelter Einstieg bzw. Zugang zu af Klints Œeuvre eröffnet sich mit der Frage: Was heißt es für Hilma af Klints Werk, dass sie sich Zeit ihres Lebens einer geregelten geistigen Schulung unterzog? (3) Im Unterschied zu Zeitgenossen wie Kandinsky und anderen Künstlern ihrer Generation, die sich ebenso mit Spiritualität befassten, handelte es sich für sie nicht um eine Durchgangsstufe, sondern um eine lebenslange und systematische Auseinandersetzung. (4) Und im Unterschied zum russischen Schriftsteller Andrej Belyj, der seine geistigen Übungen phasenweise visuell dokumentiert hat, stand die bildende Kunst seit ihrer Studienzeit ab 1882 mit dem Eintritt in die Königliche Akademie in Stockholm bis zu ihrem Tod 1944 im Mittelpunkt ihrer beruflichen Tätigkeit. Für Hilma af Klint ging es in erster Linie um ihre geistige Praxis, und dann um die Kunst. Das ist nicht wertend gemeint, könnte aber helfen, die Differenz zur künstlerischen Avantgarde ihrer Zeit zu erklären.

Obwohl Hilma af Klint von Anfang ihrer Entdeckung in der Öffentlichkeit an, das heißt 1986 in der viel beachteten Ausstellung ‹The Spiritual in Art – Abstract Painting 1890–1985› im Los Angeles County Museum of Art, eindeutig in die Tradition der Spiritualität und des Okkultismus eingereiht wurde und wenn auch in der Literatur immer wieder Titel wie ‹The Art of Seeing the Invisible› und ‹Seeing is believing› (5) oder ‹Painting the Unseen› (6) verwendet werden, so wird doch nur ganz selten expliziert, was es mit ‹Geist› und ‹Sehen› auf sich hat. Ich meine damit nicht die Inhalte und die Deutung ihrer Bilder, die sie verschiedentlich selbst nicht verstand, wobei sich dies wohl auf die Bilder bezog, die sie unter dem ‹Diktat› ihrer geistigen Führer ausgeführt hatte. Briony Fer schlussfolgert im oben zitierten Artikel reduktionistisch: «Not the messages of ‹The Master›, not messages springing forth from a spirit world, not a supernatural imaginary; rather she absorbed an image world that was available to her, and from which she learnt new possibilities.» (7)

Möglich, ja. Aber vielleicht zu metaphysisch geurteilt. Natürlich finden sich visuelle Echos aus den Quellen, die auch Kandinsky, Kupka und Mondrian vorlagen, wie etwa Schriften von Annie Besant, Charles Leadbeater und Madame Blavatsky. Mich interessiert hier aber eine andere Perspektive. Nämlich primär die Bewusstseinsformen von Hilma af Klint und erst sekundär die Deutung und Auslegung ihrer Bilder.

 


Hilma af Klint, Notizbuch: Blumen, Moose, Flechten, 1919, Albert-Steffen-Stiftung

Hilma af Klint, Notizbuch: Blumen, Moose, Flechten, 1919, Albert-Steffen-Stiftung

 

Sehendes sehen

Schauen wir den Entstehungskontext ihres Werkes an. Es ist die Zeit der Entdeckung des Unterbewussten, der Radioaktivität, der Quantenphysik, aber auch die Zeit der Erforschung des Nichtsinnlichen, des Okkulten und schließlich die Zeit der Entstehung der abstrakten Kunst. In all diesen Gebieten der Kunst und Wissenschaft werden Grenzen verschoben und neu definiert. Die Dunkelheit und das Unerklärliche wurden Teil einer neuen geistigen Geografie. Hilma af Klint ist da keine Ausnahmeerscheinung. Sie steht neben Forschern wie Marie und Pierre Curie, die auch an Séancen teilnahmen (8), und Sigmund Freud. Diese Wende bestätigt die Subjektivitätsphilosophie, die seit Kant in der Erkenntnistheorie und in der Ästhetik bestimmend wurde. Die Erscheinungen sind seitdem nicht mehr unabhängig vom Bewusstsein des Menschen zu denken. Jeder Bewusstseinsakt ist Teil der Wirklichkeit. Letztere wirkt auf uns ein und wir beteiligen uns an der Entstehung der ‹Außenwelt›, indem wir wahrnehmen und denken.

Das Interesse an Spiritualität und am Okkulten ist als Symptom für die Veränderung des Bewusstseins zu betrachten. Und dadurch verändern sich nicht nur die Formen der Kunst, wie etwa die Befreiung der Farbe, der Form und die Entstehung von Nichtreferenzialität, sondern auch die Rezeption der Kunst selbst verändert sich. Die Veränderung geht also in zwei Richtungen und sie ist reziprok. Die neuen Bilder provozieren ein anderes Sehen und das sich verändernde Sehen sucht nach neuen Bildern. Die Rezeption der Kunst ist nicht mehr zu trennen vom Kunstwerk, denn sie ist Teil seiner Erfüllung. Das ist der größere, bewusstseinsgeschichtliche Kontext, den wir zu beachten haben, wenn wir Hilma af Klint ‹verstehen› wollen. Und das ist zugleich das Umfeld, in dem die gegenstandslose bzw. nichtreferenzielle Kunst entwickelt wurde. Ihre Notwendigkeit könnte in der Formel zusammengefasst werden: Alles Mimetische ist eine Fälschung. Erst die Veränderung des Sehens als bildendes Sehen öffnet den Blick für die Wirklichkeit. Das abbildende Bewusstsein ist so lange naiv, wie es denkt, dass es Wirklichkeit erfasst. Im Grunde müssten wir es als ‹abstrakt› bezeichnen. Und das bewusst aufgefasste bildende Sehen als ‹konkret›.

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Alles Mimetische ist eine Fälschung. Erst die Veränderung des Sehens als bildendes Sehen öffnet den Blick für die Wirklichkeit.

Hilma af Klint hat sich keiner Avantgarde-Gruppe angeschlossen und sie hat sich auch nicht an der Diskussion über das Geistige in der Kunst und die Abstraktion beteiligt. Sie vollzog jedoch die Wende zu einem ‹sehenden Sehen›, um einen passenden Ausdruck von Max Imdahl zu verwenden. (9) Solange das Sehen an den Gegenstand gebunden bleibt, kommt das Bewusstsein nicht zu einer freien Entfaltung. Die Suche nach der ‹Bildautonomie›, nach der Befreiung von Form und Farbe ist nichts anderes als ein Ausdruck für die Befreiung des Sehens und ein zu sich kommendes Sehen. In diesem Sinn war af Klint mit ihrer Erforschung und Entwicklung des Bewusstseins auf der Höhe der Zeit, wenn nicht sogar ihrer Zeit einen Schritt voraus.

Im Jahr 1906 erschien die Schrift ‹Abstraktion und Einfühlung› von Wilhelm Worringer und damit eine der ersten theoretischen Begründungen einer ‹geistigen› Kunst. Worringers Abhandlung wurde von vielen Zeitgenossen gelesen und diskutiert. Sie wurde von der künstlerischen Avantgarde aufgegriffen und wirkte maßgeblich auf ihre Entwicklung ein. Franz Marc zum Beispiel stellte sie neben Kandinskys Programmschrift ‹Über das Geistige in der Kunst› (1911) als wegweisend heraus. (10) Es war eine Abrechnung mit der Kunstgeschichtsschreibung, die das ‹Können› (Gottfried Semper) und das ‹Mimetische› (für Worringer mit der aristotelischen Tradition verbunden) als Grundwerte betonten, und zugleich ein Versuch, die schöpferische Ausdruckskraft an sich zu würdigen. War die Kunstgeschichte bis dahin eine Geschichte des Könnens gewesen, sollte die neue Entwicklung in der Kunst eine Entwicklungsgeschichte der Kunst als eine Geschichte des Wollens werden. (11) «Die moderne Ästhetik» im Sinne Worringers, «die den entscheidenden Schritt vom ästhetischen Objektivismus zum ästhetischen Subjektivismus gemacht hat, d. h. die bei ihren Untersuchungen nicht mehr von der Form des ästhetischen Objektes, sondern vom Verhalten des betrachtenden Subjektes ausgeht» (12), weist in die entsprechende Richtung.

 


Hilma af Klint, Nr. 78 aus der ‹Parsifal›-Serie, 1916, Hilma af Klint Foundation

Hilma af Klint, Nr. 78 aus der ‹Parsifal›-Serie, 1916, Hilma af Klint Foundation

 

Wege zu einer neuen Ästhetik

Marcel Duchamp, der Worringer durch seine Kandinsky-Lektüre gekannt haben muss, hat die hier besprochene Wende als einer der Ersten in ihrer Radikalität begriffen und umgesetzt, so zum Beispiel in seinem Werk ‹Fresh Widow› von 1920. Duchamp ließ einen Schreiner eine Miniatur eines französischen Fensters herstellen und beklebte die Scheiben mit schwarzem Leder. Die Aussicht bzw. Durchsicht war dadurch versperrt. Die Leder, so Duchamp in einem Gespräch 1966, müssten «eigentlich jeden Morgen wie ein Paar Schuhe gewichst werden, damit sie blinken wie richtige Fensterscheiben». (13) Das auf Hochglanz polierte Leder wird zur Reflexionsfläche. Duchamp macht ein Fenster und macht seine Hauptfunktion rückgängig, indem er die Scheiben mit Leder verkleidet. Das Fenster erfährt durch die polierte Oberfläche eine Umkehrung und öffnet sich einer geistigen Welt. Es ist eine Absage von dem Sichtbaren oder – mit Duchamp gesprochen – von dem ‹Retinalen›, also von dem, was bloß für die Netzhaut sichtbar ist, was nur das Auge anspricht. Für Duchamp bedeutet diese Einschätzung und Kritik einer einseitigen Kunst des ‹L’art pour l’art› den Anfang einer völligen Neudefinition des Kunstwerkes. Er verschiebt das Gewicht von dem Werk auf den Akt der Rezeption als kreativen Akt an sich. Duchamp versteht es folgendermaßen: Das vom Künstler geschöpfte Kunstwerk ist in einem Rohzustand, ‹à l’état brut›, der vom Zuschauer ‹raffiniert› werden muss: «Der kreative Akt bekommt einen anderen Aspekt, wenn der Zuschauer das Phänomen der Transmutation erfährt; durch die Wandlung der leblosen Materie in ein Kunstwerk hat eine eigentliche Transsubstantiation stattgefunden, und die Rolle des Zuschauers ist es, das Gewicht des Werks auf der ästhetischen Waage zu bestimmen. Alles in allem wird der kreative Akt nicht vom Künstler allein vollzogen; der Zuschauer bringt das Werk in Kontakt mit der äußeren Welt, indem er dessen innere Qualifikationen entziffert und interpretiert und damit seinen Beitrag zum kreativen Akt hinzufügt. Dies wird noch deutlicher, wenn die Nachwelt ihr endgültiges Verdikt ausspricht und manchmal vergessene Künstler rehabilitiert.»14 Der Betrachter der Kunst mit dem Prozessualen der Kunstrezeption wird hier betont. Dies ist neu.

Es ist bekannt, dass Rudolf Steiner eine entscheidende Rolle für Hilma af Klints Entwicklung spielte. Steiner hat nämlich, wie Duchamp, die Rezeption der Kunst als notwendiges Gegenstück zum Kunstwerk als Objekt gesehen. In seinem Vortrag ‹Goethe als Vater einer neuen Ästhetik›, gehalten im Wiener Goethe-Verein 1888 und als Autoreferat publiziert, entwickelte er eine Kritik an der idealistischen Kunstauffassung, wie sie beispielsweise in Schellings Philosophie zum Ausdruck kommt. Für Schelling sei das Kunstwerk nicht an sich durch das, was es ist, schön, sondern dadurch, dass es die Idee der Schönheit abbilde. Der Inhalt der Kunst sei derselbe wie jener der Wissenschaft. Die Kunst sei somit nicht mehr als die objektiv gewordene Wissenschaft. (15) Dagegen formuliert Steiner: «Nicht auf ein Verkörpern eines Übersinnlichen, sondern um ein Umgestalten des Sinnlich-Tatsächlichen» kommt es in der Kunst an, denn «das Wirkliche soll nicht zum Ausdrucksmittel herabsinken: nein, es soll in seiner vollen Selbständigkeit bestehen bleiben; nur soll es eine neue Gestalt bekommen […].» (16) Mit dem Umgestalten der Materie sei aber das Kunstwerk nicht fertig. Vielmehr ist damit erst die Vorlage für den zweiten Akt, für die kreative Rezeption gegeben. Steiner erläutert dies mit der etwas skurrilen Analogie eines Gugelhupftopfes. Genauso wie es uns um den Verzehr des Kuchens geht und nicht um die Kuchenform, den Gugelhupftopf, geht es in der ‹neuen Kunst› um die Erfahrung an der Kunst und nicht um das Kunstwerk als Objekt. Er fasst zusammen: «Bei den alten Künsten kam es immer darauf an, was draußen im Raume ist. Bei der neuen Kunst kommt es nicht darauf an, was im Raume draußen ist. Was draußen ist, das ist der Topf, und das, worauf es ankommt, das kann man eigentlich gar nicht machen, sondern das ist darinnen.» (17)

 


Hilma af Klint, 1901

Hilma af Klint, 1901

 

Künstlerin und zugleich Wissenschaftlerin

Was heißt es, Hilma af Klint in den Kontext der skizzierten rezeptionsästhetischen Wende zu stellen und darin zu betrachten? Ich meine, dass es einen neuen Blick öffnet und Fragen aktiviert, die uns näher an ihr Wesen führen könnten. Auch wenn sie sich auf die oben erwähnten erfolgreichen Ausstellungen sehr gefreut hätte, wäre sie sicher leicht oder mächtig enttäuscht, wenn sie nicht dazu führten, dass es zu einer Veränderung der Gesinnung und zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Themen ihrer Werke kommt, sondern zu einer bloßen Faszination über ihre Person und zu einem bloßen Genuss ihrer rätselhaften und schönen Bilder.

Vergessen wir nicht, wie sie ihre Tage verbrachte, zurückgezogen in einem sich ständig vertiefenden und erweiternden Studium und in der Meditation. Asketisch und herb erscheint sie auf den wenigen überlieferten Fotografien. Streng, ernst, aber stets sachlich ist der Ton in den Notizbüchern. Historisch gesehen ist der Prozess der Ablösung und im gewissen Sinne Freigabe ihres Werkes als vielfältige, nicht abschließende Möglichkeit richtig. Ich denke jedoch, dass wir dabei nicht die angeführte Möglichkeit vergessen sollten. Entsprechend zu ihrer Lebensführung kann nämlich leicht festgestellt werden, dass sie stets streng und methodisch gearbeitet hat. Ihr Werk gliedert sich in thematische Gruppen und Serien. Beginn und Abschluss einer Serie sind eindeutig. Die Werkgruppen, Serien und ihre einzelnen Bilder tragen Titel.

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Im Unterschied zu Zeitgenossen wie Kandinsky und anderen Künstlern ihrer Generation bedeutete geistige Schulung für sie nicht eine Durchgangsstufe, sondern eine lebenslange und systematische Auseinandersetzung.

Man kann den Eindruck bekommen, dass sie eher wie eine Wissenschaftlerin als eine Künstlerin arbeitete. Auf der anderen Seite war sie im eigentlichen Sinne ‹inspiriert›. Aber auch hier handelt es sich um einen ‹Auftrag›, um einen Auftrag für den Tempel, an dem sie von 1907 bis 1915 arbeitete. In dieser Arbeit war sie als Medium sowohl in der Ausführung wie auch inhaltlich fremden Kräften ausgeliefert. Ihr wurde gesagt, was sie zu tun hatte. 1916 begann eine neue Werkphase. Jetzt verstand sie sich nicht länger geführt von höheren Kräften. Die Arbeiten werden kalkulierter und erscheinen mitunter als Versuchsanordnungen für visuelle Experimente. Eine Reihe einfarbiger Quadrate aus der Serie ‹Parsifal› sticht heraus. Außer einem in Frakturschrift gemalten Raumadverbial, das eine der Raumesrichtungen angibt – spiegelbildlich, wenn ‹rückwärts›, und von oben nach unten, wenn ‹unten› geschrieben steht –, ist nur ein schnell aquarelliertes einfarbiges Quadrat zu sehen. Auf einem der Blätter steht auf der linken Seite eines Quadrates in gesättigtem Gelb ‹tåkaB› für ‹Bakåt›, was auf Schwedisch ‹rückwärts› heißt. In dieser Arbeit untersucht und differenziert sie die ‹physische Ebene› und in drei weiteren Serien, die betitelt sind mit ‹Das Ätherkonvolut›, ‹Das Konvolut der astralen Kräfte› und ‹Das Konvolut der Denkebene›, visualisiert sie Auffassungs- und Erlebnisformen des Bewusstseins, die sie in der Theosophie und in Steiners Anthroposophie studiert hatte. Hilma af Klints Verbildlichung ist aber, soviel ich weiß, in dieser Form ohne Vorlage und bezeugt ihren eigenständigen Zugang zum Thema.

Gibt es nicht eine Ähnlichkeit in ihrem Vorgehen mit den Verfahren des Minimalismus und der Konzeptkunst der 1960er-Jahre? Die angeführten Bilder aus der Serie ‹Parsifal› könnten als Instruktionen für die Betrachter angesehen werden, in entfernter Ähnlichkeit mit Yoko Onos ‹Instructional pieces›. Ihr Buch ‹Grapefruit. A book of Instruction and Drawings› erschien übrigens genau, als die Schutzfrist, die Hilma af Klint für ihr Werk selbst gesetzt hatte, abgelaufen war. Erst 20 Jahre nach ihrem Tod, also im Jahr 1964, sollte ihr Werk öffentlich gezeigt werden dürfen. Man stelle sich vor, ihre Quadrate in einer Ausstellung mit Werken von Yoko Ono und zum Beispiel Douglas Hueblers Werk, wo nichts als ein vertikaler Strich zu sehen ist mit der Anweisung: «The line above is rotating on its axis at a speed of one revolution a day» (1970). Die Entwertung des Kunstwerkes als Objekt zugunsten des Bewusstseinsakts selbst wäre für Hilma af Klint kein ganz fremder Gedanke gewesen.


Überarbeitete Fassung, zuerst erschienen in: Hilma af Klint, Emma Kunz, Between the Worlds, Kunstraum Bogenhausen, 2018.

Titelbild: Hilma af Klint,‹Nedåt›, aus der ‹Parsifal›-Serie, 1916, Hilma af Klint Foundation

(1) Hilma af Klints Neffe und Erbe Erik af Klint hat überliefert, dass Hilma af Klint sich das Gebäude aufgebaut aus Kreisen dachte. «Jede Serie sollte ihren eigenen Kreis bekommen und der Besucher würde von außen nach innen durch die verschiedenen Entwicklungsphasen geführt werden, um im Zentrum die Zukunft anzutreffen.» (Übers. von J. N.) In: Åke Fant, Hilma af Klint. Ockult målarinna och abstrakt pionjär, Stockholm 1989, S. 9.
(2) Briony Fer, Hilma af Klint. The Outsider Inside Herself, in: Hilma af Klint. Seeing is Believing, hrsg. von Kurt Almqvist et al., London 2017, S. 103 f.
(3) Dieser Aspekt wurde bisher von anthroposophischer Seite ernst genommen und anfänglich behandelt. Siehe Åke Fant, Anm. 1, und seinen Katalog­beitrag: Das Beispiel der Malerin Hilma af Klint, in: Das Geistige in der Kunst. Abstrakte Malerei 1890–1985, hrsg. von Maurice Tuchman et al., Stuttgart 1988, S. 154–163. Siehe auch Wolfgang Zumdicks Tagungsbeitrag: Finding the Inner Form. Pathways to Hilma af Klint’s Change From Outer to Inner Experience, in: Hilma af Klint. The Art of Seeing the Invisible, ed. by Kurt Almqvist et al., Stockholm 2015, S. 243–254. Åke Fant war der erste Kunsthistoriker, der sich mit Hilma af Klints Werk gediegen auseinandersetzte. Als schwedischer Muttersprachler aus anthroposophischem Hintergrund hatte er einen Deutungsvorteil. Er konnte den schriftlichen Nachlass lesen und er kannte sich aus in der Tradition der Theosophie und der Anthroposophie. Mein Eindruck ist, dass er bestimmte Aspekte treffsicherer und nachhaltiger gefasst hat als viele nach ihm. In den letzten Jahren hat die Forschung deutliche Fortschritte gemacht.
(4) Zum Beispiel Kandinsky vgl. Sixten Ringboms, Überwindung des Sichtbaren. Die Generation der abstrakten Pioniere, in: Das Geistige in der Kunst. Abstrakte Malerei 1890–1985, a. a. O., S. 136. Ringbom grenzt Kandinskys explizite Beschäftigung mit dem Okkulten auf die Jahre 1908 bis 1912 ein.
(5) Beide Titel von Symposien und Buchprojekte der Axel and Margaret Ax:son Johnson Foundation.
(6) Katalog­titel der gleichnamigen Ausstellung in Serpentine Galleries, London, 3. März bis 15. Mai 2016.
(7) Ebenda, S. 104.
(8) Jason Ā. Josephson-Storm, The Myth of Disenchantment. Magic, Modernity, and the Birth oft the Human Sciences. Chicago Press, Chicago 2017, S. 1
(9) Siehe Max Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Reflexion, Theorie, Methode, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt 1996.
(10) Zitiert aus der Einleitung von Claudia Öhlschläger, in: Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. München 2007, S. 24. (11) Ebenda, S. 77. Worringer bezieht sich auf Alois Riegl und seinen Begriff des ‹Kunstwollens›.
(12) Ebenda, S. 72.
(13) Isabelle Malz, Die Fenster von Marcel Duchamp. Zwischen ‹Präzisionsmalerei› und ‹Indifferenzschönheit›, in: Fresh Widow. Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp, hrsg. von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Stuttgart 2012, S. 88.
(14) Marcel Duchamp, Der kreative Akt, in: Der kreative Akt. Duchampagne brut. Edition Nautilus, Hamburg 1992, S. 11 f.
(15) Rudolf Steiner, Kunst und Kunsterkenntnis. Dornach 1985, S. 27.
(16) Ebenda, S. 29. 17 Rudolf Steiner, Vortrag vom 21. November 1914, in: Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt, Dornach 1993, S. 127 f.

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