Der Kern der Anthroposophischen Medizin ist, dass wir das Schicksal des Menschen in unserem Bewusstsein tragen, auch wenn wir nicht alles überschauen. Wie kann man im Körper dieses Schicksal in seinem Wirken sehen lernen? Die neue Co-Leiterin der Medizinischen Sektion Marion Debus sprach dazu auf der Medizinertagung.
Wir wissen, der Mensch kommt woher und geht wohin. Das beeinflusst unsere Gespräche mit den Patienten und Patientinnen. Die Kranken im Zeitenstrom zu erleben, ist zutiefst mit der Anthroposophischen Medizin verbunden. In der anthroposophischen Pflege hat man in einer Studie gesehen, wie das Zeiterleben von Krebspatientinnen und Depressiven ist. Erleben kranke Menschen, dass Vergangenheit und Zukunft miteinander in Beziehung stehen? Entwickeln Kranke daraus eine Perspektive für die Zukunft? Die Studie ist von der Pflege gemacht worden. Die Pflegenden erleben die Kranken im Zeitenverlauf viel stärker als Ärzte und Ärztinnen, die meist nur punktuell auftauchen. Die Studie zeigte: In dem Moment, wo unser Zeitenleib, also der Ätherleib, in Mitleidenschaft gezogen wird, erleben wir das Vergangene wie etwas Abgespaltenes. Ich kann keine Verbindung herstellen zu dem, wie ich jetzt bin. Und es gibt eine unbestimmte Zukunft, wo ich nicht weiß, wie ich da hinkommen soll. Das therapeutische Ziel ist immer auch, das Zeiterleben zu integrieren, was allerdings nur bei fünf bis zehn Prozent der Patientinnen und Patienten der Fall ist.
Schicksal im Ätherleib
Wie wirkt also das Schicksal, das sich in der biografischen Entfaltung zeigt? Wie hängt das mit dem Körperlichen zusammen? Wir erleben ein Schicksal, das von außen kommt, das aus dem Leib kommt, das etwas seelisch in uns macht. Wir erleben es, weil wir einen Leib haben. Der Ätherleib ist das Verbindungsglied zu dem, was im Außerzeitlichen und Außerräumlichen als Vorbereitung der Inkarnation von den Hierarchien für den Menschen ausgearbeitet wird, was wir gemeinsam mit den Hierarchien erleben. Das geht in den Ätherleib, der eine Verbindung zum Physischen aufbauen und die Impulse aus dem Kosmischen aufnehmen kann. Unmittelbar bevor wir in den Leib eintauchen – der Geistkeim ist uns schon entfallen –, haben wir eine Vorschau auf unser Leben, wo in groben Zügen erscheint, was unser Leben ausmachen wird. Dann taucht man in den Leib ein. In GA 212 schildert Rudolf Steiner, was für ein wunderbar kosmisches Gebilde der Ätherleib ist. Er trägt in sich die Sterne, Sonne und Mond, und auch einen Teil der Erde. Im ersten Jahrsiebt arbeiten sich diese Kräfte in den Leib hinein. Um den Zahnwechsel kommt in den Ätherleib eine neue Qualität hinein, gibt es eine Richtungsänderung. Die Kräfte des Ätherleibes strahlen nach innen. Wenn es auf die Pubertät zugeht, zieht sich dieses wunderbar kosmische Gebilde zu einem Zentrum zusammen, in der Herzgegend: ein wunderbarer Lebensquell, konzentriert aus den kosmischen Quellen. Wir schaffen uns unser Ätherherz. Ab der Pubertät werden in dieses Ätherherz alle Taten, die der Mensch vollbringt, eingeschrieben. Was wir tun im Leben, was wir als Schicksalskräfte bewirken, wird im Herzen bewahrt. Ab diesem Moment, wo das geschieht, wird es auch möglich, unser Schicksal bewusst zu ergreifen. Wir werden fähig für ein eigenes Schicksal, wenn wir die Ätherkräfte im Herzen haben. Dort kann sich das Schicksal einschreiben, das wir für unser Leben haben. Wir treten in ein urteilsfähiges Verhältnis zur Außenwelt. Rudolf Steiner spricht davon, wie das ätherische Herz ab diesem Zeitpunkt der Organismus der Karmabildung in uns ist.
Ein freier Teil
Es gibt also den kosmischen Teil des Ätherleibes, wo sich Sterne, Mond, Sonne eingeschrieben haben. Den teilen wir mit den Pflanzen. Aber es gibt auch einen freien mitgegebenen Teil des Ätherischen, der keine Verwendung hat – ein unbeschriebenes Blatt, das wir frei gestalten können. In dieser Doppelheit leben wir. Was in den ersten Lebensjahren durch die Erziehung gestaltet wird, noch ganz mit dem leibgebundenen Ätherischen verbunden ist und auch als Erbstrom aus der Vergangenheit kommt, gestaltet erst mal den Leib. Dann gibt es etwas, das noch keine Verwendung hat: eine Göttersubstanz, die der Mensch gestalten kann. Sie wird mit dem Denken in Verbindung gebracht. Sie emanzipiert sich immer mehr. Als kleines Kind prägen wir durch Nachahmung. Dann prägt die Autorität den Leib. Mit der Geburt des Ätherherzens gestalten wir selbst den Leib. Es wächst durch Weltinteresse. Wir füllen das Ätherherz mit Inhalt, indem wir uns der Welt zuwenden und unser Schicksal ergreifen. Auf diesem freien Teil beruht die Entwicklung des Menschen. Die von den Göttern bereitgestellte ätherische Substanz, die nicht von der Natur verbraucht wird, gestaltet der Mensch im Laufe seines Lebens in geistige Substanz um.
Gesundende Kraft
Ein merkwürdiger Umschwung tritt in der zweiten Hälfte des Lebens ein. Je nachdem, wie lebendig der freie Teil geprägt wurde, desto gesundender kann er in bestimmten Krankheitssituationen wirken. Der Leib wird jetzt von innen ergriffen. Es findet eine neue Verleiblichung statt, durch diesen Teil, den wir im Ätherleib haben. Jorge Semprún berichtete, dass das Überleben im KZ hauptsächlich durch die Neugierde, durch das Interesse, das ich an der Welt habe, gesundend auf den Leib wirkt, sodass man vielleicht ein Konzentrationslager überlebt. Der Ätherleib wird immer mehr von geistigem Inhalt erfüllt, er wird in der zweiten Lebenshälfte ‹pausbackiger›, wie Steiner beschreibt. Er wird jung, erhält die ganzen Kräfte, von dem, was wir im Leben geleistet haben. Wenn wir über die Schwelle des Todes treten, haben wir im Lebenspanorama jenes, was der Ätherleib bereithält. Das wird die Grundlage für ein neues Leben. In der Lebensmitte kommen also die salutogenetischen Kräfte aus einer anderen Richtung. Wenn wir auf den Ätherleib als Träger der Schicksalskräfte geschaut haben, ist die Frage, in welchem Verhältnis das zur physischen Welt steht. Unsere physischen Kräfte bringen wir aus der Vergangenheit mit. Durch unseren freien ätherischen Teil strömt die Zukunft in uns ein. Wir haben den Schicksalsstrom der Vergangenheit, der aus der Zukunft heraus den Leib regeneriert und gestaltet.
Ätherwelt und Ätherleib
Öfter haben wir das Gefühl: Was uns zustößt, kommt von außen, hat nicht mit unseren inneren Bedingungen zu tun, und doch scheint es eng mit uns verbunden. Was hat das mit unserem Ätherleib zu tun? Steiner schildert, dass es in der Außenwelt nichts gibt, was nicht mit ätherischer Substanz durchsetzt ist, nicht mal in einer Steinwüste. In der Begegnung mit der Außenwelt haben wir immer Begegnungen mit der ätherischen Welt, die auch Kräfte unseres Schicksals trägt. 1918 erzählte er in Wien von sich selbst: «Sie werden gestatten, dass ich an Persönliches anknüpfe, […], denn die Geistesforschung ist an die Person gebunden. Ich will ihnen sagen, ich schaue zurück mit vollständiger Deutlichkeit auf denjenigen Augenblick in meinem Leben, es sind viele Jahre her, in dem ich zum ersten Mal schauen konnte die Tatsache, wie im Schauen der Wolke, des Himmels, kurz der Außenwelt Kräfte spielen, die nicht aus diesem Leben stammen, oder aus dem, was wir von Vater und Mutter überkommen haben, sondern solche Kräfte, von denen man sagen kann, sie stammen aus einem Leben in einer geistigen Welt, das unserem Erdenleben vorangegangen ist, bevor wir uns mit den von Vater und Mutter erzeugten Kräften verbanden. Bei diesem Seelenleben werden Kräfte wahrgenommen, die von früheren Leben sind.»
Wir haben also in uns Entwicklungsbedingungen, die uns mit der Zukunft in eine Beziehung setzen. Im Ätherleib ist in einer Zeitlichkeit alles gleichzeitig vorhanden. Wie verbindet sich das nun im Gewand der sinnlichen Welt, in dem darin wirkenden Ätherischen, das wir vielleicht selbst sind? Wo endet unser Ätherleib? In welcher Beziehung stehen wir zur Außenwelt? Bei vielen Ereignissen haben wir das Gefühl, dass es kein Zufall, sondern in hohem Maße schicksalsprägend ist. In der Sinnesempfindung, so beschreibt es Steiner, wo wir den Sonnenstrahl wahrnehmen, strömt ein Ätherisches ein, das mit unserem vergangenen Schicksal zu tun hat und hinuntergeht bis in unsere leiblich-ätherische Bildung. Auf der anderen Seite strömt es wieder aus. Ein ätherischer Strom geht durch uns durch. Dort gestaltet sich unser vergangenes und zukünftiges Schicksal. Wenn ich mit Patienten und Patientinnen mit schweren Krankheiten an diesen Zukunftsstrom anschließen möchte, kann ich sie zum Beispiel fragen: Schauen sie doch mal darauf, mit welchen Menschen sie durch die Krankheit in Berührung kommen, die sie sonst nie getroffen hätten. Wir greifen meist medikamentös in den leiblich-ätherischen Strom ein. Aber in was kann der Patient eintauchen, das etwas Neues in seinen Schicksalsstrom und die Kräfte in ein Gleichgewicht bringt? Diese Fragen zu bewegen, ist auch Aufgabe der Anthroposophischen Medizin.
Das Ich wiederum hat seinen ganz eigenen Weg im Leib. Es lebt ganz im Blut. Die Verbindung mit dem Blut ist auch in der Pubertät abgeschlossen. Mit allen Absichten und Ideen verbindet sich das Ich im Blutstrom mit dem Menschen. In dem Moment, wo sich der Zukunfts- und Vergangenheitsstrom begegnen, kommen moralisches Erarbeiten und physischer Leib zusammen. Um das 14. Lebensjahr hat unsere Immunität die Kompetenz erreicht, die wir für das Erwachsenenalter brauchen. Also in dem Moment, wo wir schicksalsfähig werden, durch unser ätherisches Herz, erreichen wir auch die Immunkompetenz, die wir für unser Erwachsensein brauchen.
Bild Während des Workshops: Creating Bridges between Osteopathy and Art as Prevention and Treatment of Autoimmune Diseases through a Fourfold View of the Human Being (ES/ES), Foto: Xue Li