Das Orakel von Delphi

Die so widersprüchliche Welt zu verstehen, ruft das Bewusstsein auf, einen Sprung zu machen, wie damals, als wir vor 3000 Jahren die Obhut der Götter hinter uns ließen, um Persönlichkeit und Freiheit zu finden. Delphi war die große Schule auf dem Weg zum Ich. Heute sind wir selbst unsere Lehrer und Lehrerinnen. Es lohnt sich, Delphi zu verstehen. Vermutlich ist es kein Zufall, dass sich der Maler Philip Nelson gerade jetzt diesem Heiligtum des Denkens widmet.


In der griechischen Kultur sind sechs bzw. sieben Orte besonders prägend. Es geht dabei um die Zeit von 800 v. Chr. bis zum Jahr 0. Da ist zum einen das Herz, der Nabel, der Mittelpunkt der Welt: Delphi, ‹Delphoi› im Altgriechischen, weil es das Wort nur im Plural gibt, aber im Neugriechischen verschwinden diese Umlaute. Itazismus nennt man diese Verkürzung. Delphi liegt in einer der großartigsten Landschaften, die die Welt zu bieten hat. Da liegt das gewaltige Tal des Flusses Pleistos, der die Randgebirge des Golfs von Korinth durchfurcht, und wie ein Kreuz, als hätten die Götter mit einem Beil eine zweite Schlucht geschlagen, die Kastalische Quelle. Wo sich diese beiden Schluchten kreuzen, steht der Tempel des Sonnengottes Apollon. In der Urzeit war dort ein anderes Heiligtum der großen Mutter Gaia, der Mutter Erde. Das ist ein Spiegel der Tatsache, dass Griechenland in der Frühzeit von matriarchalen Kulturen bewohnt war. Erst später wurde, wie in so vielen griechischen Heiligtümern, Apollon an diese Stelle gesetzt. Auch in der Frühzeit war es allerdings schon ein Orakel-Heiligtum. Dort konnte man also die Zukunft erfahren. Dadurch, dass Apollon dieses Orakel in Besitz nahm, veränderte sich das gesamte Orakelwesen.

Eine Insel wie ein Auge

Hinter dem Apollon-Tempel erhebt sich jäh ansteigend das Gebirge der Phädriaden. Ihr Name bedeutet auf Deutsch ‹die Lodernden›. Dahinter erstreckt sich eine Hochebene, an die sich dann der über 2000 Meter hohe Parnass anschließt. Auf diesem Gebirge lebten schon in ältesten Zeiten Göttinnen, die Musen. Deshalb nannte man ihn auch gern den Dichterhügel, denn die Musen sind es, die die großen Sänger und Dichter inspirierten. Das ist die mythische Landschaft, in der sich ursprünglich das Heiligtum der Gaia befand. Gaia hatte als Kind den Drachen Python (deutsch: der Verwesende oder der Vermodernde). Er war von solcher Größe, dass er die gesamte kastalische Schlucht ausfüllte. In den Wassern der Quelle war er seelisch zu Hause. Es ist ein alter Mythos, dass Drachen und Schlangen in Gewässern zu Hause sind. Zu den unangenehmen Eigenschaften des Python gehört, dass er einen giftigen Atem hat, der die ganze Landschaft von Delphi verpestet. Apollon ist zu dieser Zeit noch nicht geboren. Zeus, sein Vater, der den Beinamen ‹der Vielbesamer› trägt, hatte sich mit der Urgöttin Leto eingelassen. So ist Leto mit Zwillingen schwanger. In ihrem Leib wachsen zwei Götterkinder heran: Artemis und Apollon. Hera erfährt von dem Seitensprung und verbietet allen Festlandländern, die gebärende Leto aufzunehmen. So hofft Hera zu verhindern, dass die Frucht dieser Liebesbeziehung geboren wird. Nun gibt es östlich von Delphi eine ganze Reihe von Inseln, die Kykladen genannt werden, weil sie sich kreisförmig gruppieren (‹kyklos› = Kreis). Unter der Wasseroberfläche schwimmt eine Insel. Sie schwebt zwischen Meeresgrund und Oberfläche, so wie das menschliche Gehirn im Gehirnwasser schwebt. Zeus befiehlt dieser Insel nun, zu erscheinen. Für sie gilt das Verbot der Hera nicht, weil sie noch nicht festes Land war, als das Verbot ausgesprochen wurde. Das kleine, karge Eiland erscheint aus den Fluten der Ägäis und bekommt deshalb den Namen Delos, ‹die Erscheinende›. Hier landet die schwangere Leto. Auf der Insel liegt im Norden ein kreisrunder See mit Süßwasser. Der Fluss Inachos vom südlichen Berg speist diesen See. Mitten im See gibt es eine winzige Insel, auf der eine Palme wächst. Wie ein Auge erscheint diese Insel. Die Landschaft erinnert an die ägyptische Landschaft um den Tempel der Hathor in Dendera und es gibt die Sage, der Fluss auf Delos falle und steige mit dem Pegelstand des Nils. So drückt der Mythos eine Beziehung aus. Leto landet also auf der neu erschienenen Insel, begibt sich dort auf die Insel mit der Palme und gebiert Apollon. Sie tut dies, wie es im Altertum üblich war, nicht im Liegen, sondern im Knien, indem sie sich an der Palme festhält. Heraus springt, schon in goldener Rüstung, schon mit Sprache begabt, schon mit einem silbernen Bogen mit goldener Sehne bewaffnet, Apollon. Seine Schwester Artemis wird zuvor im Süden der Insel geboren. Leto bringt sie in einer Grotte auf dem Berg zur Welt.

Philip Nelson «Du sagst, die Pythia habe ihre Orakelsprüche nur bei Vollmond gegeben. Ich wusste das nicht, aber interessanterweise habe ich in diesem Bild ihre Haare mit einem Silberglanz gemalt; jetzt weiß ich, warum.»

Den Drachen niedertanzen

Was sagt Apollon, kaum dass er dem mütterlichen Leib entsprungen ist? Er spricht die geflügelten Worte: «Ich werde den Menschen, den Sterblichen, den untrüglichen Willen meines Vaters künden.» Das bedeutet: Ich werde Orakelgott, ich sage den Menschen, was sie von der Zukunft erfahren dürfen. Dann geht er direkt nach Delphi, denn er hat erfahren, dass dort ein Drache haust. Mit Drachen kennt sich der junge Gott aus, denn seine Mutter hatte nicht nur unter dem Verbot gelitten, nirgends gebären zu dürfen, sondern Hera hatte ihr auch einen feuerspeienden Drachen hinterhergeschickt, der sie über alle Länder verfolgte. Es ist ein Bild, das in der Apokalypse erscheint: die Jungfrau, gejagt von einem Drachen. Das Brüllen und Fauchen des Drachens hatte Apollon schon im Muterleib gehört und aus dieser Erfahrung wächst der Entschluss, Orakelgott zu werden. Er geht zu der Schlucht der Kastalischen Quelle und lockt den Drachen durch Beschimpfungen und Beleidigungen heraus. Als der Drache herauskommt, tanzt Apollon um ihn herum und mit jedem Tanzschritt schickt er ihm einen goldenen Pfeil, bis neun von diesen Pfeilen im Drachen stecken und dieser entkräftet in die Kastalische Schlucht heruntersinkt und mit dem Wasser in den Tiefen der Erde verschwindet und dort verwest. Die Griechen sprechen hier nicht von einem Sieg, sondern sie sagen, Apollon habe den Drachen niedergetanzt, indem er die Pfeile mit singender Sehne schoss. Weil der Drache in den Tiefen nun verwest, heißt er entsprechend ‹der Vermodernde›, und deshalb steigt der modrige Rauch aus den Spalten auf. Wenn die Sibyllen, diese eigenartigen Menschen, den Rauch einatmen, dann werden sie zukunftswissend, aber auf besondere Weise, denn sie werden wahnsinnig, rasend. Deshalb bändigt Apollon die Sibyllenwesen, indem er einen speziellen Tempel errichten lässt. Zuerst begibt er sich auf den Parnass und schaut auf das Meer. Von dort sieht er ein Schiff mit kretischen Kaufleuten. Er verwandelt sich in einen Raben und fliegt auf das Meer, um als Delfin zum Schiff zu gelangen. Daraufhin führt er die Kaufleute nach Delphi, damit sie dort einen Tempel bauen. Zuerst sollen sie alle Erdspalten, aus denen Rauch hervorkommt, schließen, bis auf einen, über dem ein Tempel errichtet wird. Diesen Brauch hat es offensichtlich tatsächlich bis in die Römerzeit gegeben, denn es wird immer wieder von Reisenden berichtet, die auf ihrem Schiff den Rauch über dem Tempel schon von Weitem aufsteigen sahen. Deshalb besaß der Tempel auch ein offenes Dach.

Mit der Zunge schauen

Über den Erdschlund lässt Apollon einen Dreifuß aufstellen, der in einer Schale endet. Darin sitzt die sibyllische Priesterin. Die Priesterin bestimmt auch ihre Nachfolgerin. Sie ordnet an, welches Mädchen in welchem Dorf geholt werden sollte. Für die betreffende Familie war es eine Ehre, ein Kind Apollons abgeben zu dürfen. Warum errichtet Apollon das Orakel gerade dort? Zeus hatte vor Urzeiten herausfinden wollen, wo die Mitte der Erde sei, und ließ dazu zwei Adler vom westlichen und vom östlichen Ende der Welt aufsteigen. Sie trafen sich über Delphi. Die ersten Jahrhunderte der griechischen Kultur sind durch und durch vom Orakel von Delphi geprägt. Kaum eine griechische Stadt oder Bürgerschaft fällte wesentliche Entscheide, ohne zuvor nach Delphi zu gehen und den Gott Apollon um Rat zu fragen. Wen soll ich heiraten? Soll ich in den Krieg ziehen? Welche Regierungsform sollen wir bilden? Solche Fragen waren es, die man dem Orakel stellte. Die heutige Geschichtswissenschaft geht deshalb davon aus, dass das Orakel von Delphi die griechische Geschichte leitete wie ein Lehrer seine Schüler und Schülerinnen. Apollon sprach die Orakel auf merkwürdige Weise, was den Altertumswissenschaftler Wolfgang Schadewaldt zu seinem Buchtitel führte: ‹Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee›. Alle Orakelstätten in Griechenland funktionierten so, dass man ein Menschenkind, von dem man glaubte, dass es den Willen der Götter kenne, um Rat fragte. So erhielt man eine Antwort, was man tun sollte. In Delphi war das anders, denn der Orakelprozess war kompliziert. Zunächst ordnete Apollon an, dass neben seinem Tempel, direkt am Abgrund der Pleistosschlucht, ein zweiter Tempel errichtet wurde, für seine Schwester Athena Pronaia (‹pro-naia› = vor dem Tempel). Athena war die Göttin der Verstandesklugheit, die Göttin, die die Klugen liebt, wie es bei Homer heißt. Zu diesem Tempel musste man zuerst pilgern, wenn man ein Orakel wünschte. Dann durfte man zu wenigen Zeiten im Jahr Apollon seine Fragen stellen. Am Anfang war das nur möglich, wenn Vollmond war und der Mond in der Nacht durch die Dachöffnung zu sehen war. Die Pythia, so hieß die delphische Sibylle, schaute in das Gesicht des Vollmondes, während sie in Trance den Willen Apollons durch unverständliches Schreien und Jaulen kundtat. Beschreibungen und Zitaten zufolge geschah dies wie ein tollwütiger, sich windender Hund, mit der Zunge die Luft schmeckend. An den Enden ihrer ungeschnittenen Haare hingen Bleikugeln, die sie schleuderte. Es gab die Überzeugung, dass Götter durch die Haare tasten könnten. Die Haare waren Sinnesorgane. Die Augen verdrehte die Sibylle, sodass das Weiße des Auges heraustrat. In der Elektra von Sophokles, in der Orestie von Aischylos ist nachzulesen, wie die Kassandra in ihren manischen Zuständen das Grauen vorausschaut. Auch hier sagt der Chor: «Was windest du dich wie ein Hund?» Bei diesen hellfühlenden Frauen arbeiten die Sinnesorgane anders. Die Zunge wendet sich nach außen, nicht nach innen, und die Augen nach innen, nicht nach außen. Die Sinne haben eine Nähe und Ferne zum Körper. Rudolf Steiner sagte, Sibyllen seien gewöhnliche, ein wenig ungewöhnliche Frauen, weil bei diesen Sibyllen, die es heute gar nicht mehr gäbe, zu bestimmten Zeiten der Astralleib auf dem Kopf stünde. Durch den Astralleib erfahren wir ein Bewusstsein von Innen und Außen. Deshalb ist er vor allem in den Sinnesorganen zu finden. Rudolf Steiners Äußerung bedeutet, dass, was die oberen Sinnen wie Auge und Ohr die Welt erfahren, in die unteren Sinne rutscht, sodass man mit der Zunge sieht, mit der Nase hört, ja auch mit den Haaren beginnt zu hören und zu sehen. Umgekehrt tastet die Sibylle mit dem Auge und riecht mit dem Ohr. Die Welterfahrung wird vollständig anders, wenn sich die Sinne auf diese Art umdrehen. Gleichzeitig fasst die Sibylle mit ihrer rechten Hand auf einen stilisierten goldenen Nabel, denn Delphi war der Nabel der Welt. Er markierte die Mitte der Welt. Die Sibylle atmete die Dämpfe ein, die aus der Erde aufstiegen. Und sie tat noch etwas. Apollon hatte sich in die Nymphe Daphne verliebt, die ihn abwies und sich lieber in einen Lorbeerbaum verwandelte. Daphne heißt deshalb Lorbeer und ist der heilige Baum Apollons. Ein solcher Lorbeerbaum wuchs in der Mitte des Tempels und von diesem Baum legte sich die Sibylle ein Blatt auf die Zunge, was die Aussprache natürlich erschwerte. Bevor die Sibylle in dieser Position war, ging sie zur Kastalischen Quelle, um darin zu baden und das Wasser zu trinken. Wenn all diese Bedingungen erfüllt waren, konnte die Pythia hellsehen. Darum hieß die Kastalische Quelle ‹hydor lalein›, das redende Wasser. Die Pythia trat in ein anderes Verhältnis zu den Elementen ein. Die Luft ist nicht durchsichtig für das Licht, sondern wird tastbar durch die Zunge. Für die Griechen waren die Sibyllen eine eigene Gattung von Menschen, die zeitweise den Göttern näher ist. Sie wählten die Sibyllen für diesen Gottesdienst aus und gleichzeitig verachteten sie sie. Man verehrte nur die Tatsache, dass die Götter diese Menschen zu ihrem Instrument wählten. Die Anwesenheit des Gottes in der Sibylle war ehrfurchterweckend, die Sibylle selbst aber galt als verachtungswürdiger Menschenzustand. Denn so wie sich die Sibylle gebärdete, war sie das Gegenteil von allem, was durch den delphischen Tempel veranlagt werden sollte: der selbstbewusste, selbst urteilende Mensch, der durch den Vernunftpol seiner Persönlichkeit das Ruder seines Lebensschiffes selbst in die Hand nimmt. Die Sibyllen waren einem Götterwillen ausgeliefert, ‹fast wie ein Tier›, wie es oft beschrieben wird. Es ist ein Beispiel der Widersprüchlichkeit der griechischen Kultur, ein Spiegel der zwei kultischen Ströme des Griechischen. Die Sibylle ist ein Nachklang der vorindogermanischen mütterlichen Götterwelt und wurde in den apollinischen Himmelskult hineinkanalisiert.

Dass Gott spricht, verdankt man einer Menschenart, die man zugleich verachtet. Es ist ein Lebenswiderspruch. Er lässt sich nicht auflösen, lenkt vielmehr den Blick darauf, dass solche Widersprüche erst in einer höheren Einheit sich fassen lassen. Hegel hat es in den Satz gefügt: «Wer die Widersprüche aufhebt, der hebt das Leben auf.»

Nelson «Dieses Bild ist in sehr kurzer Zeit entstanden. Es war eines der stärksten Erlebnisse, das ich beim Fertigstellen eines Werkes je hatte: eine Sibylle in Erwartung ihrer Prophezeiung.»

Denken ist heilig

Dann trat der oder die Fragende in den Tempel, eine ganz besondere Situation für einen Griechen, denn er trat in die Wohnung des Gottes. Das gab es nur in Delphi. Man durfte sonst nur hineinsehen. Kurz vor dem Erdspalt, wo auch das Wasser der Quelle durch einen kunstvollen Kanal geleitet wurde, hing ein purpurfarbener Vorhang, sodass der Fragesteller die auf dem Dreifuß sitzende Seherin nicht sah, sondern nur die furchtbare Stimme der Pythia hörte. Zwölf Priester des Apollons, die in die Mysterien von Eleusis eingeweiht waren, standen hinter dem Vorhang. Sie übersetzten in kurzer Zeit die ausgestoßenen Laute in menschliche Sprache, in Hexameter. So kam der Fragesteller zu seiner Antwort, die es aber in sich hatte. Heraklit drückt es so aus: Der Gott von Delphi sagt nicht Ja oder Nein, sondern er deutet an. Denn alle Orakelsprüche der Pythia von Delphi waren, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, Rätsel, und zwar bewusst mehrdeutige. Das berühmteste Orakel: Kroisos, ein König aus der heutigen Türkei, möchte Krieg führen gegen die Meder, die späteren Perser. Sein Land wird durch den Fluss Halys begrenzt. So lässt er das Orakel fragen, ob er Krieg führen soll. In einem langen Hexameter antwortet die Pythia mit der entscheidenden Stelle: «Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.» Das interpretiert Kroisos so, dass er siegen wird. Er marschiert über den Fluss und verliert sein Reich, bis auf wenige Grenzfestungen. Von dort schickt er einen Brief nach Delphi: «Du, Apollon, bist ein trügerischer Gott!» Daraufhin schreibt die Pythia in Apollons Auftrag: «Lerne, klüger zu fragen!» Kroisos: «Was soll dieses Spiel?» Apollon: «Lerne, zu fragen!» Wolfgang Schadewaldt spricht von der menschheitspädagogischen Genialität der Priester von Delphi.

Man versetze sich in das Bewusstsein eines Menschen im 8. Jahrhundert vor Christus. Delphi liegt nicht in einer lieblichen Landschaft, sondern im Gebirge. Da muss man wandern und es gibt Wölfe, Bären und sogar den persischen Berglöwen. Es gibt Räuber und verschiedene Stadtstaaten, die man durchqueren muss. Und je nachdem, welche Kriege gerade geführt werden, welche Spannungen herrschen, ist es so sicher, wie im Dreißigjährigen Krieg durch Europa zu wandern. Es ist ein Wagnis. Wenn der Grieche seinen Göttern begegnen will, dann versenkt er sich nicht in sein Inneres, wartet nicht eine heilige Zeit ab wie heute die Weihnachts- oder Osterzeit. Mit den Göttern kann ich nur sprechen, wenn ich mich auf den Weg mache, an den Ort, an dem die Götter sind, das sagte sich ein Grieche. Denn alles durchwalten die Götter, sagte Heraklit. Aber jeder in seiner Landschaft, jeder an seinem Ort. Um Apollon zu begegnen, muss man an einen apollinischen Ort gehen. ‹Religiöser Weg›, ‹Pfad der Erleuchtung›, ‹Schulungsweg›, all diese Beschreibungen sind ein ins Innere des Menschen projiziertes Bild dieser äußeren Wanderung zum heiligen Ort.

Später im Lauf der Geschichte häuften sich die Daten, an denen die Pythia weissagte. Man ging natürlich nur deshalb nach Delphi, weil man die Gewissheit spürte, dass dort ein Gott antwortet. Die Griechen lebten also in der Überzeugung, dass die Götter zwar nicht mehr unter den Menschen wandeln, sich aber auf geheimnisvolle Weise an ihren Orten verbergen. Doch einen Ort gibt es, wo Gott immer noch mit den Menschen spricht, und das ist Delphi. In Delphi ist die Stimme der Götter noch nicht verstummt. Man geht nach Delphi, wenn man eine Frage auf dem Herzen hat, die tatsächlich lebensentscheidend ist. Soll dieser oder jener den Thron erhalten? Soll unser Volk nach da oder nach dort ziehen? Man stelle sich eine solch quälende Lebenslage vor und es gäbe einen Ort, wo man tatsächlich eine Antwort erhält. Aber nun erhält man nicht die Antwort, die man ersehnt, sondern man bekommt auf die quälende Frage ein Rätsel. Was bedeutet das? In der Sprache der Griechen: Ich als Gott, der dein Schicksal kennt, will dich nicht leiten, sondern nur unterstützen. Indem ich dir ein Rätsel gebe, zwinge ich dich, die Lösung selber zu finden. Rätsel löst man durch Nachdenken. Die gewöhnliche Resignation auf ein Rätsel, das uns überfordert, kommt nicht infrage. Die Weisheit meines Lebens verbirgt sich in dem Rätsel, das ich durch Nachdenken lösen muss. Darum sagt der Altertumsforscher Karl Scheffold: Ein Volk von Selbstdenkern wollte der Gott von Delphi erziehen. Die Idee des Orakels von Delphi war es, so zu wirken, dass die Menschen dieses Kulturkreises das Göttliche nicht in der Form einer Offenbarung finden, sondern in der Form des Nachdenkens. «Die Griechen erlebten ihren höchsten und mächtigsten Gott in der Erfahrung des selbständigen Denkens.» Was durch die delphische Praxis über Jahrhunderte in die Seele von Tausenden von Menschen gesenkt wurde, ist ein Gefühl, das wie kaum ein anderes am Ausgangspunkt Europas steht: Das Denken ist heilig, Denken ist Beten, Erkennen ist Gottesdienst. Das ist die Botschaft von Delphi. Nach Delphi geht man auf äußeren schwierigen Pfaden, von Delphi weg geht man auf inneren schwierigen Wegen.

Nelson «Die Säule hat sich auf dem Bild zuerst gezeigt. Es war eine Inkarnation. Dann kam der Feuervogel. Ich habe noch nie einen solchen Vogel gemalt! Er ist ins Bild geflogen. Die Figur schaut ihn an. Da ist Zukunft und Gegenwart.»

Drei Sätze über dem Tempel

So lautet die Antwort auf die Frage der Athener Bürgerschaft, wer der weiseste aller Menschen sei: Das ist Sokrates. Der Grieche, der wie kein anderer das selbständige Denken, das Leben selbst in die Hand zu nehmen gelehrt hat, wird von Delphi also als weisester Mensch bezeichnet. Sobald die Pythia den Tempel betreten hatte, wurde sie nicht mehr bei ihrem Namen angesprochen. Im Tempel hieß sie ‹Apollon›. Dieser ‹sichtbare Kehlkopf Gottes›, wie Plutarch die Pythia nennt, war das Wort Gottes, war Gott selbst. Darum konnte man zum Wort Gottes gehen, wenn man nach Delphi ging. Wenn Paulus dann 500 Jahre später auf dem Areopag in Athen zu den Griechen vom Logos predigt, dann spielt Paulus auf diese delphische Tradition an. Der Tempel von Delphi ist der einzige Tempel, den ein Mensch betreten durfte. Über dem Eingang im Osten standen drei Sätze: ‹E›, das heißt auf Alt-Alt-Griechisch ‹Du bist›, so spricht der Gott den Ankommenden an. Plutarch, der viele Jahre oberster Priester von Delphi war, schrieb dazu das Buch ‹Das E von Delphi›. Der Mensch geht hinein, als wäre er ein kleiner Gott. Was ist zuvor mit ihm geschehen? Er schritt, wie noch heute die Millionen Touristen und Touristinnen, den gewundenen Weg hinauf zum Tempel, links und rechts all die tausend Statuen, Vasen oder Schmuckteppiche, die von den Ratsuchenden als Dank dem Orakel geschenkt wurden. Es war das Vollkommenste, was die antike Kunst von Persien bis Spanien zu bieten hatte, in Delphi sah man es im Aufstieg. So getränkt mit dem Wissen und Können der ganzen alten Welt war man vorbereitet, die Frage zu stellen, die Antwort zu nehmen.

Links vom Eingang steht ‹meden agan› – ‹Nichts zu viel, alles im Maß›. Was rechts vom Eingang steht, darüber streiten sich die Gelehrten. Eine Variante der Überlieferungen lautet: ‹Hydor ariston› – ‹Das Beste ist das Wasser›. So wurde man empfangen, wenn man nach Delphi kam.

Nelson «Griechenland ist uns so viel näher als Ägypten, als Indien – aber diese Nähe ist verborgen. Von der Farbe Inkarnat war ich immer fasziniert, ohne jemals ein Bild mit dieser Farbe gemalt zu haben. Jetzt habe ich alle drei Leinwände zu den Bildern mit diesem Rosa. Englisch würde man sagen ‹pink›, aber es ist kein Pink.»

Textfassung des Vortrags auf DVD ‹Weltgeschichte im Lichte der Anthroposophie› Nr. 10, verschriftlicht von W. Held.

Philip Nelson über seine Bilder zum Orakel von Delphi

«Seit langer Zeit wollte ich eine Ausstellung mit nur figurativen Bildern und keinen abstrakten Werken zeigen. Nach der Ausstellung der Kulturepochen 2019 (siehe ‹Goetheanum› Nr. 39/40, 2019) konnte ich diesen lang gehegten Wunsch verwirklichen. Entstanden sind nahezu 100 Werke mit einer Emphasis auf das klassische Griechenland.» Bilder © Philip Nelson

Besichtigung Die Bilder sind im Atelierhaus von Philip Nelson in Dornach nach telefonischer Verabredung an Sonntagen im Oktober zu betrachten: Tel: +41 61 701 59 92 oder +41 793 52 68 82.

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