Zwischen uralter Kultur und kahlem Materialismus bewegt sich heute China in einem Feld, das für den Europäer nicht leicht zugänglich ist.
Wer viel wagt, der viel gewinnt
Das ‹neue China›, xīn zhōnggúo, ist dem Reformer Deng Xiaoping verdankt. Seine Landsleute aus der Provinz Sichuan fühlen sich deshalb zu großem Stolz veranlasst, als hätten sie die Idee selbst mitgeboren. Da mag sogar etwas dran sein. Traditionell ist diese Provinz eine wichtige Kornkammer des Riesenreiches. Heute aber hat die Hauptstadt Chengdu landesweit die größte Millionärsdichte und liefert mit der nächstgelegenen sogenannten regierungsunmittelbaren Stadt Chongqing die attraktivsten Wirtschaftskennzahlen. Das ‹neue China› entsteht aus einem Sog des im Westen vorgelebten Wohlstands, der eine atemberaubende Energie und Ideenfülle freisetzt. Die steinreichen jungen ‹tuháo› – wörtlich: ‹lokale Tyrannen› – lassen andere für sich springen und verbringen ihre Zeit mit Luxusproblemen zwischen Tokio und New York. Bemitleidet werden sie höchstens von Westlern, bewundert von ihren Altersgenossen in China.
Auf den Schultern eines circa 120 Millionen starken Heeres von Wanderarbeitern, für deren Melde- und Versicherungsstatus erst vor zwei Jahren begonnen wurde, eine Lösung zu suchen, wird der ursprünglich autarke Agrarstaat clusterweise zu einer Industrienation mit internationalen Verflechtungen umgekrempelt. Immobilienspekulanten, Verkehrsplaner und Millionen von Einzelunternehmern haben den Leitfaden Deng Xiaopings beherzigt, dass es gleich sei, ob eine Katze schwarz oder weiß sei, solange sie Mäuse fange. Systemgemäß wurde eine gigantische Völkerwanderung in die Städte initiiert. Bis zum Ende der jetzigen Regierung unter Xi Jinping 2022 sollte rund 70 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Man hat das geschafft ohne die Entstehung großflächiger Slums; dennoch kracht es in den Städten: Die Preise steigen, der Verkehr ist erdrückend, die Luftwerte skandalös, chronische Krankheiten nehmen zu, de facto sinkt also die Lebensqualität. Doch wer viel wagt, der viel gewinnt. Es ist bewundernswert, mit wie viel Unbefangenheit und Lernbereitschaft alles Neue ausprobiert wird.
Verlorene Identität?
Dabei sieht es aus, als wäre eine spezifisch ‹chinesische Identität› verloren gegangen. In den Umwälzungen des 20. Jahrhunderts wurden die Attribute der einstigen Hochkultur verschmäht. Heute kennen sie nur noch wenige. Die meisten traditionell chinesischen Kulturattribute findet man im Ausland, wozu diesbezüglich auch Taiwan, Hongkong und Singapur gehören, zum Beispiel hat schon Stuttgart da mehr zu bieten als Chengdu. In Chinas Schulen wird davon opportun gelehrt, was dem Ganzen dient. Dies orientiert sich an den vielen ‹Familien des Landes› – was ‹Staat› auf Chinesisch wörtlich bedeutet. Deshalb wird der Preis, die eigene, mit der Scholle verbundene Identität zu verlieren, wie schlechtes Wetter hingenommen. In einer Mischung aus Fatalismus, orientalischer Gelassenheit und ungebändigter Lebensfreude bildet sich – zumindest äußerlich – eine neue Identität an den freiheitlichen Erfahrungen mit Porsche, Gucci und den Spielwelten elektronischer Produkte.
Was Mao Zedong als ‹neuen Menschen› schaffen wollte, hat sich tragisch verselbstständigt: Dieser ‹neue Mensch› hat das (Ge-)Wissen seiner Kultur vergessen. Er wirkt, wenn er nicht sein öffentliches Gesicht hervorkehrt, ungehobelt und egoistisch. Er traut fast niemandem und sobald er es sich leisten kann, wandert er aus. Was Rudolf Steiner 1924 den Lehrern der ersten Waldorfschule gegenüber als Merkmal Chinas als einer «Kultur, die kein Ende hat»¹ beschrieb, scheint heute nicht mehr gültig zu sein. Die wenigen, selbst in der chinesischen Waldorfbewegung, die nicht korrumpiert sind und sich aus Liebe der Sache widmen, sind weise genug, sich mit bewundernswerter Einsicht in dieses Dilemma unauffällig zu verhalten. Die meisten aber kümmern sich in erster Linie um die ‹Mäuse›, auch wenn sie, freundlich lächelnd vor dem Gast, über alles sprechen außer über dies.
Reisen sie ins Ausland, werden sie natürlich mit Unbehagen betrachtet, weil man nicht weiß, woran man bei ihnen ist. Von offizieller Seite wird versucht, das durch diverse Erziehungsprogramme zu beeinflussen: Wer zum Beispiel eine chinesische Telefonnummer für seinen Aufenthalt in Deutschland freischaltet, erhält von der chinesischen Botschaft in Berlin eine Kurznachricht: «Verhalten Sie sich zivilisiert, halten Sie sich an gesetzliche Vorschriften und an die Verkehrsregeln, stehlen Sie nicht.» Wie sich ein ganzes Volk derart ändern kann, ist nicht leicht nachvollziehbar. Die Vorbilder liegen aber auch hier im Westen.
Bestehender Imperialismus?
Das wirtschaftliche Engagement Chinas wird weltweit mit gemischten Gefühlen gesehen, man spricht zum Beispiel in Afrika vom ‹chinesischen Imperialismus›. Ein Blick auf die Geschichte des Imperialismus macht deutlich, dass sich inzwischen durch die neuen Technologien zwar dessen Methoden verändert haben, die Prinzipien aber den Seefahrtnationen Europas in nichts nachstehen. Deren Maxime hatte China im 19. Jahrhundert selbst zu spüren bekommen: Die starken ‹Familien des Landes› waren für den Westen lange nicht einnehmbar gewesen, das gelang erst durch ein Trojanisches Pferd: den Opiumhandel des Britischen Imperiums. Die Verpachtung Hongkongs an Großbritannien für 99 Jahre war eine tiefe Schmach für Chinas Regierungsclans, auch wenn diese am Ende der Qing-Dynastie (1644–1911) schon von dekadenten Elementen durchzogen waren. Gegen die militärische Übermacht konnte die kaiserliche Regierung damals nicht ankommen. Heute ist dieser Punkt erreicht. So sind die Veränderungen des vergangenen Jahrhunderts auch durch die bedingungslose Suche motiviert, einen Weg zur Selbstbehauptung gegenüber dem Westen zu finden. Heutzutage ist der Parameter der materialistische Wohlstand. Das spirituelle atlantische Erbe Chinas ist dafür nicht maßgebend. Chinas Wirtschaftsboom ist Wirkung, nicht Ursache!
Bei einem so großen Land ist nichts naheliegender, als dabei alles zu präsentieren, was mit Größe und Masse zu tun hat. Der Westen hat das zunächst belächelt als ‹Masse statt Klasse›. Für den einzelnen chinesischen Entrepreneur ist aber eine ‹klasse› Qualität nicht entscheidend, sondern nur die Masse der ‹Mäuse›. Insofern der Westen ihm bei der Erreichung dieses Zieles behilflich sein kann, wird diesem als willkommener Gast ein opportuner Platz zugewiesen. Warum hat sich der Westen mit seinen Idealen darauf eingelassen? Eigentlich sind viele Komplikationen in der heutigen Konstellation hausgemacht. Rudolf Steiner konstatierte prägnant, dass es für den Westen nicht ausreichen wird, den Osten beherrschen zu wollen, um aus einer «Weltenruhe» heraus «zu seinen wirtschaftlichen Zielen zu gelangen».2
Eine Dialogsprache finden
Inzwischen aber ist China nicht mehr so lukrativ: «China wird teurer. Wir müssen kämpfen», fasste es ein deutscher Unternehmer 2014 gegenüber einem Vertreter der deutschen Regierung zusammen. Mit Peter Scholl-Latour³ gesprochen, gibt es vielfältige Gesellschaftsmodelle, die nicht der Vorstellung des Westens entsprechen, denen jedoch in einem Land wie China eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden kann, die erfolgreich sind und sich behaupten. In dieser Umwälzung wird als Teil alles Neuen auch die Waldorfpädagogik mit Begeisterung ausprobiert, die mit ihren praktisch ausgerichteten Lehrinhalten für viele sehr einleuchtend ist. Wie eine individuelle Vertiefung durch die Anthroposophie aus der Arbeit an der Waldorfpädagogik und den anderen Berufsfeldern entsteht, muss mit dem Ostasien eigenen langen Atem betrachtet werden, den der Stratege Sunzi zur Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (770–476 v. Chr.) als Weg der Gelassenheit und der Umwege bezeichnete. Es ist ein ganz anderer Weg als der, den die Anthroposophie in Mitteleuropa genommen hat.
Viele verbinden derzeit ihre Begeisterung noch wie automatisch mit dem genannten nationalen Geltungsbedürfnis, sodass zum Beispiel die Wesensgliederkunde der Waldorfpädagogik noch nicht erarbeitet ist, aber schon Elemente der chinesischen Kultur die Vorschläge Rudolf Steiners im Lehrplan ersetzen sollen. Es wird darauf ankommen, ob sich unter den westlichen Waldorf-Touristen in China genügend erfahrene, selbstlose Experten finden, wahre Profis ohne die überschwängliche Sympathie, zu der vor allem Leute in der zweiten Lebenshälfte ohne Chinesischkenntnisse neigen, denen überall der Hof gemacht wird und die dies gern geschehen lassen. Es geht darum, eine Dialogsprache zu finden, bei der der Chinese beziehungsweise der Westler im Menschen zurücktritt und es nur darauf ankommt, die Gesetzmäßigkeiten des werdenden Menschen zu erkennen. Vielleicht finden sich dann Wege, um das spirituelle Vermächtnis der Anthroposophie als eines für die ganze Menschheit zu erkennen und es als neuen Impuls aus der aktuellen kulturellen Ödnis Chinas hervorgehen zu lassen, entgegen dem alten Stil, dass Westliches nach geraumer Zeit aus Prinzip sinisiert und vierkommerzialisiert wird.
(1) Rudolf Steiner, GA 300c, Lehrerkonferenz vom 29.4.1924 (2) Rudolf Steiner, GA 36, 6. November 1921 (3) Peter Scholl-Latour, ‹Die Welt aus den Fugen› • Autor Astrid Schröter ist Sinologin und lebt in China.