Das Menschlichste im Menschen hegen und pflegen

Es sind nun schon zehn Jahre vergangen, seit ich mich dazu entschieden habe, eine philosophische Anthropologie, das heißt ein Verständnis der grundlegenden Situation des Menschen herauszuarbeiten und die Weiterentwicklungen dieser Studien in Form von Essays zu veröffentlichen.


Josep Maria Esquirol

So erschien zuerst ‹La resistència íntima› (2015; in dt. Übers. ‹Der intime Widerstand›, 2021), dann ‹La penúltima bondat› (2018) und ‹Humà, més humà› (2021; dt. Übers. erscheint 2024). Während ich diese Zeilen schreibe, arbeite ich bereits intensiv an einem Band, der 2024 erscheinen wird. Glücklicherweise werden diese Arbeiten übersetzt und erscheinen so auch in Italienisch, Portugiesisch, Englisch und Deutsch.

Was nun folgt, ist eine recht schematische, den genannten Werken entnommene Skizze, die vor allem für eine mündliche Darstellung gedacht ist.

Ich fasse die Situation des Erziehens so zusammen: Es gibt das Zuhause, da es das Ausgesetztsein gibt. Und der Zustand des Ausgesetztseins erfordert Zuflucht. Es gibt Schule, da es Welt gibt. Und die Welt fordert Achtsamkeit. Es gibt das Zuhause und es gibt die Schule, da durch Zuflucht und Achtsamkeit jeder Einzelne seinen Weg gehen und reifen kann, um Früchte zu tragen. Was für Früchte? Früchte, die noch mehr Zuhause, noch mehr Welt bedeuten.

Stets ist das Wertvolle bedroht. Und gegenwärtig zielt diese Bedrohung sowohl auf den ‹Ort der Erziehung› als auch auf den ‹Sinn des Menschlichen› ab. Die Art der Bedrohung variiert im Laufe der Geschichte. Der auffallendste Bestandteil der derzeitigen Bedrohung geht von der Vereinheitlichung aus. Die Welt von heute ist nicht den Unterscheidungen zugewandt. Sie fördert lieber den homogenen Raum als ‹Orte›. Ein Zuhause ist ein Ort, wie auch ein Theater, ein Tempel … und auch eine Schule ist ein Ort.

Damit ein Ort entsteht, bedarf es nicht einfach nur einer materiellen Abgrenzung; wesentlich ist der Sinn von dem, was dort geschieht, was sich dort ereignet. Es muss etwas geschehen, was sich im Sinn von dem, was draußen geschieht, unterscheidet. Und nicht nur das: Es ist Widerstand nötig, um diesen Sinn gegen die vereinheitlichenden Kräfte zu verteidigen, die ihn verwischen. Gegenwärtig sind diese Kräfte von dreifacher Art: die wirtschaftlich-konsumorientierte Ideologie, die auf Resultate, Produktion und die Kolonisierung der Sprache ausgerichtet ist; der Idealismus der Technologisierung (eine gänzlich neue Art von Dualismus); und die Beschleunigung (deren Umkehrung nicht die Langsamkeit, sondern das Zeithaben ist).

Die dagegen Widerstand leistende Enklave der Erziehung nenne ich ‹Altertopie› (Foucault sprach von Heterotopie, was nicht die gleiche, jedoch eine ähnliche Bedeutung hat). Die ‹Altertopie› schließt die ‹Alterchronie› schon mit ein.

Nun ist jedoch, wie ich sagte, das Menschliche bedroht. In diesem Fall durch Unverständnis. Und durch Ideologien wie die des Transhumanismus und seine demagogische Flucht in die Zukunft. Hier besteht der Widerstand darin, unsere wesentliche und beinahe einzige Verantwortung hervorzuheben: das Menschliche des Menschen zu hegen und zu pflegen, zu bewirken, dass der Mensch noch menschlicher wird. Nicht darin, über das Menschliche hinauszugehen, sondern darin, das Menschliche des Menschen noch zu vertiefen: zu erreichen, dass der Mensch noch menschlicher wird.

Daher ist es ratsam, sich erneut radikal zu denken und Schlagworte und Sprachhülsen zu vermeiden. Das Menschlichste des Menschen zu pflegen, setzt eine ‹Definition› des Menschen voraus. Aber ist eine solche Definition überhaupt möglich? Und wenn ja, welche Definition wäre haltbar? Das Tiefste lässt sich nicht definieren. Aber eine ‹Annäherung› ist wohl möglich. Sich also eher nähern als definieren. Oder definieren, indem man sich nähert. Es handelt sich dabei um eine vergleichsweise bescheidene (und keineswegs dogmatische oder anmaßende) Form des Definierens.

Wer ist der Mensch? Jemand. Der einen Namen verdient. Der einen Namen erhält. Der sich hier befindet, nirgendwo herkommt, selbst Anfang ist. Der sieht, dass er kann, dass er fähig ist und sein technisches Können exponentiell gesteigert hat. Ist die Macht der innerste Kern des Menschen?

Menschen können

Der Mensch hebt sich nicht durch seine physische Kraft hervor, vielmehr durch seinen Einfallsreichtum, dem Vervielfältiger seiner Kraft. Seine ‹technische› Kapazität macht es ihm möglich, von einem Sich Anpassen an die Situation zu einem beinahe vollständigen Verwandeln der Situation überzugehen; er schafft eine Welt über der Welt. Von der ursprünglichen Instrumentalisierung eines Knochens oder eines Steins bis zur Konstruktion der hochentwickeltsten technologischen Systeme der Gegenwart hat man ein und denselben Kurs verfolgt; und all das geschah mit einem Wimpernschlag. Man versteht also, dass in philosophischen, anthropologischen und historischen Diskursen der Begriff ‹Können›, als Substantiv ‹das Können›, aber vor allem als Verb ‹können›, am gebräuchlichsten war und auch weiterhin noch ist, um uns selbst zu charakterisieren.

Zweifellos ist es Nietzsche, der der Lebenskraft des Menschen als Fähigkeit am meisten Aufmerksamkeit geschenkt hat. In einem seiner zahlreichen Momente der Inspiration definiert er den Menschen als ein zum Versprechen fähiges Tier (vgl. ‹Genealogie der Moral›, zu Beginn des zweiten Teils) und gibt dann die geniale Definition: Das Versprechenkönnen ist das ‹Gedächtnis des Willens›. Sehen wir einmal genau hin: Dieses Gedächtnis des Willens ist ein Vermögen bzw. eine Macht (‹poder›), die der Mensch über das Unbezwingbarste ausübt, nämlich die Zukunft. Das Versprechen entpuppt sich demnach als die Absicht, sich selbst und die Zukunft zu beherrschen; als die Absicht, immer das zu wollen, was man in diesem gegenwärtigen Moment will und sagt.

Ein kleiner Einschub: Es ist evident, dass wir mit dem Begriff des Versprechens nicht nur auf das Bezug nehmen, was ausdrücklich diese Form hat. Ein Versprechen kann implizit in der Art und Weise des Sprechens, Handelns, gegenwärtig zu sein, mitschwingen. Es ist meine Geste, die sich auf die Unsicherheit der Zukunft projiziert. Es ist jede Geste, die bedeutet: «Was auch passieren mag, ich werde da sein.»

Menschen antworten

Die verdiente Wirkung, die die Worte Nietzsches hinterlassen, sollte kein zu großes Hindernis dafür darstellen, uns einer signifikanten Abwesenheit bewusst zu werden. Wie ist es möglich, dass in einer eingehenden Analyse des Versprechens der andere, an den sich das Versprechen richtet, kaum zur Sprache kommt? Nietzsche setzt voraus, dass das Versprechen spontan aus dem nach Souveränität strebenden Ich heraus auftaucht. Aber handelt es sich hierbei nicht um einen entscheidenden Punkt, den man ganz anders begreifen müsste? Das menschliche Handeln ist vor allem ‹Antwort›. Radikaler, also grundlegender als das ‹Ich kann› ist das Ich, das antwortet, da ‹ihm etwas widerfährt›. Können ist nicht Spontaneität, sondern Antwort auf das, was uns ‹geschieht›. Versprechen ist zweifellos die Antwort auf eine Verletzung. Die Mutter ist dem Kind ein Versprechen und der eine Bruder ist es für den anderen, der Geliebte für die Geliebte … Ich kann für meinen Sohn ein Versprechen sein, denn mein Sohn ist mir primär und unermesslich auf eine ganz besondere Art und Weise widerfahren. Das Versprechen ist also Ausdruck meines Vermögens, allerdings noch viel mehr dessen, was mir geschieht. Mein Vermögen formt sich tatsächlich aus dem, was mir widerfährt.

Wer verspricht? Wer verzeiht? Wer erlebt das Unvergessliche? Gerade derjenige, der ‹getroffen›, ‹gerührt› ist. Dieser Ausdruck ist sehr bereichernd: als ob das, was am meisten bewegt, dem Tastsinn, der Berührung oder Begegnung, der Haut eigen ist. Nicht umsonst ist die Haut – zusammen mit dem Herzen – ein Symbol der Empfindlichkeit. Es stimmt, dass jeder Mensch ein anfangender Anfang ist, der beginnt. Aber er beginnt aus der Ergriffenheit heraus, aus der Betroffenheit heraus. Etwas ‹geschieht uns› – und ‹übersteigt uns› – und wir ‹antworten›: Das ist die grundlegende Struktur der Subjektivität.

Unmenschlichkeit ist stumm

Feinheit der Haut, Feinfühligkeit bzw. Tastsinn stehen also für Empfindsamkeit, Öffnung, Rezeptivität. So lautet die Litanei, die immer wiederholt werden sollte: Das Gegenteil der Aufnahmebereitschaft ist die Verschlossenheit, und die Verschlossenheit bedeutet Gleichgültigkeit. An Menschlichkeit zu wenig zu haben, zeigt sich in fehlender Feinfühligkeit, in Kälte und in Gleichgültigkeit. Zu wenig Menschlichkeit ist Prolog der Unmenschlichkeit. Die Schmälerung der Menschlichkeit kann mit einem gewissen ästhetischen Vergnügen vereinbar sein oder sogar mit vermeintlichen kulturellen Raffinessen. Irgendwann aber tritt der wesentliche Mangel solcher Raffinessen zutage: früher oder später kann sich die Kälte nicht verbergen.

Es gehört zur gleichen Litanei und sollte wie ein unerlässlicher Zusatz immer wiederholt werden, dass die Unmenschlichkeit stumm ist, denn die Worte, die sie unter Umständen begleiten können, sind keine Antwort – sind keine Worte. Wahrlich ist das Zuhören mit dem Tastsinn, der Feinfühligkeit vergleichbar. Auch das eintreffende Wort berührt. Zuhörenkönnen bedeutet, Berührung zuzulassen. Und wirklich sprechen können wir nur, wenn wir zugehört haben. Das kommende Wort tritt ein, sowohl durch das Gehör als auch dank der Durchlässigkeit der Haut. Das auf uns zukommende, uns berührende Wort bringt nicht zum Schweigen; es macht nicht stumm, ganz im Gegenteil, es macht verantwortlich; das heißt, es fragt nach Antwort. Das eintreffende Wort zwingt sich deinem Wort nicht auf: ‹Es gibt dir das deine›. Und Vorsicht, auch das Schweigen ist dem eigen, der antwortet.

An Menschlichkeit zu wenig zu haben, zeigt sich in fehlender Feinfühligkeit, in Kälte und Gleichgültigkeit. Zu wenig Menschlichkeit ist Prolog der Unmenschlichkeit.

Der Mensch wird durch die Modalität des Empfindens charakterisiert, das derart intensiv ist, dass eine Art Beugung entsteht. Stellen wir uns das Fühlen wie eine nach oben wachsende Funktion vor, so kann man sich vorstellen, dass sie in einem gewissen Moment eine solche Höhe erreicht, dass sie sich nach unten beugt und faltet. Die Linie der Einfühlsamkeit hat sich gefaltet, verdoppelt, und lässt dabei einen kleinen Spalt dazwischen. Und so führt die quantitative Darstellung zu einer qualitativen: durch die Ausdehnung, die beide Linien umschreiben, und den kleinen Zwischenraum, der dazwischen entsteht. Wir können dies analog zum Bild der Stimmbänder verstehen, welche eigentlich nicht Bänder, sondern vielmehr nebeneinandergelegte Falten sind und die so das Wunder der Stimme möglich machen. Das Gleiche geschieht beim Empfinden. Die Beugung des Fühlens heißt, das Fühlen zu fühlen. Die Beugung des Fühlens bedeutet nicht nur ein stärkeres Betroffensein, sondern auch eine Art Betroffensein vom Betroffensein selbst; und tiefe Betroffenheit, die das Herz berührt. Die Weitung des Empfindens geht von der Haut zum Herzen und vom Herzen zur Haut. Die Beugung der Empfindung ruft eine Weitung hervor, die zulässt, dass die Dinge, die uns widerfahren, bis ins Herz gehen (obwohl es sich eigentlich so verhält, dass uns Dinge widerfahren, weil sie uns bis ins Herz gehen). Nicht zufällig sind Haut und Herz die Symbole des Betroffenseins. Von der Haut zum Herzen.

Das gefaltete, verdoppelte Fühlen – die Empfindsamkeit – wird ‹geistig›, durch das, was sie fähig ist zu empfinden. Sowohl von der Schönheit und der Güte als auch vom Leid und vom Tod des anderen wird man ‹getroffen›. Die Faltung, oder die doppelte Linie des Fühlens, äußert sich nicht in einer Steigerung (die Sehschärfe eines Falken, das Gehör eines Wales und der Geruchsinn eines Hundes sind viel ausgeprägter als die des Menschen), sondern in mehr Verwundbarkeit und der vermehrten Fähigkeit, anzunehmen und verletzt zu werden. Das Herz ist das Symbol der Empfindsamkeit und gerade deshalb die Quintessenz des Menschlichen. Es vereint und verdichtet Ergriffensein, Betroffensein und Güte, und daher kommen auch die einander verwandten Ausdrücke: ‹mit ganzer Seele› oder ‹von ganzem Herzen›. Empfindsamkeit und Weisheit. Menschen, die vom Herzen her handeln, sind weise Menschen, und die deutlichste Erinnerung ist die herzliche, die beherzigte, die, die im Herzen getragen wird.

Wenn in dieser Empfindsamkeit/Öffnung/Durchlässigkeit schon ein wesentlicher Aspekt des Menschlichen besteht, dann ist ein weiterer durch das Betroffensein bzw. durch die sich ereignenden grundlegenden Erschütterungen gegeben. Ich spreche von Betroffensein, von Erschütterung oder von grundlegender Verletzung. Und ich glaube, dass es davon vier untereinander verbundene Arten gibt: das Betroffensein durch das Leben selbst, das durch den Tod, das durch das Du und das durch die Welt. Von vier unendlichen Verletzungen zu sprechen ist nicht so geschickt und reizvoll, wie es wäre, nur eine hervorzuheben und beispielsweise zu sagen, der Mensch sei das ‹Sein zum Tode›, da die Erschütterung durch die Endlichkeit die hauptsächliche Verletzung darstelle. Jedoch glaube ich, dass man der Tendenz, alles auf eine einzige Verletzung zu reduzieren, widerstehen sollte. Die Vorsokratiker suchten das Ursprungselement aller Dinge, und nun könnte man das definierende Element der menschlichen Existenz suchen. Was aber, wenn es nicht eine einzige Sache ist, die unser Dasein bestimmt? Und wenn Leben, Tod, Du und Welt als gleichermaßen grundlegende Elemente für die Bildung unserer Wesensart angesehen werden könnten?

Das Ergriffensein durch das Leben ist das Vergnügen, die Freude, die Klarheit und die Wärme, die uns begleiten, der Genuss der Dinge, das Spiel und der spielerische Überschwang, das Denken. Das Ergriffensein durch den Tod ist ein Schatten, der sich über alles legt, was wir erleben; er bewirkt, dass wir uns in Bezug auf den Horizont der Endlichkeit, der zu Ende gehenden Zeit, in Situation befinden; er bewirkt, dass wir Dinge feiern, beschützen, umsorgen, überleben … und führt zum Kult an unseren Toten, verbindet uns mit ihrem (unterirdischen oder himmlischen) Reich.

Das Ergriffensein durch das Du ist das Einanderbegleiten, die Liebe, das, was wir gerade in Bezug auf unsere Toten sagten – denn die unendlichen Erschütterungen überschneiden sich teilweise –, die Verantwortung, die Fürsorge, die Leidenschaft, das Begehren, die Familie, die Liebe zu den eigenen Kindern … Das Bemühen um die Gemeinschaft, um Gerechtigkeit und Recht …

Die Ergriffenheit durch die Welt führt zur Betrachtung, zur Theorie, zum Studium, zur Wissenschaft, zur Poesie, jedoch auch zur Arbeit, zur Kunst, zur Erschaffung einer Welt über einer Welt …

Das Leben eines jeden ist eine Dramatik aus diesen grundlegenden Gefühlen (Freude, Angst, Liebe, Verwunderung) und den Handlungen, die diese begleiten.

Nun gut, wenn das Menschlichste des Menschen die Empfindsamkeit-Durchlässigkeit ist, dann liegt das Unmenschlichste in der Verschlossenheit, der Kälte oder der Gleichgültigkeit.

Die beste mir bekannte Definition der Kultur habe ich einer literarischen Erzählung entnommen. Es handelt sich um ‹Die unsichtbaren Städte› von Italo Calvino. Marco Polo richtet sich darin an den großen Khan, den Kaiser der Tataren, um ihm in einer Reihe von Berichten die Städte zu beschreiben, die er auf seinen Expeditionen durch das Kaiserreich kennengelernt hat. Und diese ist die letzte Überlegung des Abenteurers:

«Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, was sein wird; gibt es eine, so ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir tagtäglich wohnen, die wir durch unser Zusammensein bilden. Zwei Arten gibt es, darunter nicht zu leiden. Die eine fällt vielen recht leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil davon werden, dass man sie nicht mehr erkennt. Die andere ist gewagt und erfordert dauernde Vorsicht und Aufmerksamkeit: suchen und zu erkennen wissen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben.»

Das ist es, das ist Kultur und Erziehung: das Gute fortwähren zu lassen und ihm Raum zu geben, das heißt, es wachsen zu lassen. Und gleichzeitig die Hölle zurückweichen zu lassen oder, was dasselbe ist, den Moment der Unmenschlichkeit zu verzögern. Aber was ist das Gute und was ist die höllische Bedrohung?

Der ‹Verfal›l des richtigen Weges und des guten Handelns zeigt sich hauptsächlich in der ‹Insensibilität›. Darin liegt das, was von allem am meisten beunruhigt, sowie die ergiebigste Quelle des Bösen. Die Insensibilität ist eine Trägheit, die sich um nichts beugt und keinerlei Mitleid für niemanden empfindet.

Die vollkommene Unmenschlichkeit liegt weder in der Irrationalität noch im mangelnden Bewusstsein noch im Wahnsinn. Die vollkommene Unmenschlichkeit liegt in der Kälte, in der Insensibilität.

Das Herz ist die Beugung der Herzlichkeit, der Sanftmut, der Zartheit. Und da es das Gleiche bedeutet, ein hartes Herz zu haben wie keines zu haben, ist die vollkommene Unmenschlichkeit das Fehlen an Herz. Deshalb offenbart sich der höchste Grad an Menschlichkeit in gutherzigen Menschen. Leider gibt es auch Menschen, die sich auf den Sockel der vollkommenen Unmenschlichkeit erheben. Entweder weil sich in ihnen weder die Faltung noch die unendliche Verletzung wirklich aufgetan haben oder weil bestimmte soziale Umstände ihr Herz verhärtet haben oder es einfrieren ließen. Die Unmenschlichkeit ist fast genauso alt wie die Menschlichkeit, denn sie ist ihr unmittelbarer Verfall.

Die Altertopie der Erziehung ist ein Ort anderer Art, der in sich selbst Sinn hat, und dennoch auf einen Ort hin verweist, der ebenfalls anders ist; ein Ort, der schon stattfindet, der aber dennoch weit über seine Schwelle hinaus etwas hervorbringen kann. Der Ort hat etwas, das verbreitend wirkt. Die Altertopie der Erziehung ist die Gegend, von der aus der Pollen in alle vier Winde weitergetragen wird, um wo auch immer etwas keimen zu lassen. Ihr hauptsächlicher Sinn ist nicht – wie immer wieder betont werden sollte – der der Vermittlung. Und doch kann die Altertopie der Erziehung als Brücke dienen, zwischen Topos und Utopie. Der Klassenraum ist eine Altertopie, die die Utopie schon verwirklicht.

Das jedoch geschieht nur, solange hinter der Schwelle keine Spur von Gewalt vorhanden ist. Wie auch Adorno schon sagt, gibt es keinen höheren Sinn der Erziehung als den, die Nicht-Gleichgültigkeit zu kultivieren. Die Erziehung zur Emanzipation stimmt überein mit der Erziehung zur Empfindsamkeit, das heißt gegen jede Art von Gleichgültigkeit und Gefühlskälte.

Nicht zufällig sind Haut und Herz die Symbole des Betroffenseins. Von der Haut zum Herzen.

Man sollte das Erzieherische, den Ort der Erziehung, in einem sehr weiten Sinn verstehen und mit der Absicht einer grundlegenden Erneuerung. Ein Ort, an dem kritisches Bewusstsein und Empfindsamkeit gesät und gepflegt werden, die in Wirklichkeit zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Wenn man den Ort der Erziehung auf diese Weise begreift, dann gleicht dieses Verständnis natürlich wieder einmal dem Ansatz der hellenistischen Schulen, und zwar im Hinblick auf die Überschreitung der pädagogischen Enklave. Die Altertopie der Erziehung behält das ganze Leben lang ihren Sinn.

Man kann tatsächlich sagen, dass die Altertopie der Erziehung der Ort der Pflege der Seele ist, das heißt der Ort der Philosophie. Das bedeutet natürlich, dass die Philosophie sich weder auf das theoretische Studium einer Disziplin beschränkt noch auf eine Art psychologisierende Introspektion, sondern sich der Bildung und Pflege einer Art zu sein widmet, der besten Art und Weise, mit anderen und der Welt in Verbindung zu stehen.

Die Altertopie der Erziehung ist die Kultivierung der Verantwortung im eigentlichen Wortsinn. Der Mensch ist der, der auf das antwortet, was ihn erreicht, ihn durchfährt. Antworten heißt, Verantwortung zu übernehmen und sich selbst hervorzubringen, indem man Verantwortung trägt. Nun bedeutet Verantwortung zu übernehmen nichts anderes als menschlicher zu werden. Vom Menschlichen zum noch Menschlicheren. Daher lautet mein Grundgedanke: ‹Menschlich, noch menschlicher›. Da man dank seiner Empfindsamkeit antwortet, heißt ‹menschlicher› mehr Empfindsamkeit und eine Antwort mit mehr Herzlichkeit. Genau darin liegt die größte Wahrheit, zu der wir fähig sind. Tatsächlich verstehen wir, anhand welcher Methode man sagen kann, wann und warum eine Erkenntnis wahr oder falsch ist. Aber was macht es aus, dass eine Art und Weise zu sein sich als wahr herausstellt? Was könnte die Wahrheit einer Wesensart bestätigen? Nun, die Verantwortung, wenn man sie wie folgt definiert: der Versuch, das Leben als eine entsprechende Antwort auf die Erschütterungen und die Bittgesuche unserer Situation zu leben.

Üblicherweise sagt man, dass man ‹ein geistiges Leben führt›, wenn man sich in ein Kloster zurückgezogen hat, wenn man den Ruf eines Weisen hat, oder Frieden und Güte ausstrahlt. Aber ich begreife es so, dass jeder in kleinerem oder größerem Ausmaß ein geistiges Leben hat – oder haben kann. Von meinem Ansatz her verstehe ich ‹geistiges Leben› als Ausdruck, mit dem man sich auf die Art und Weise beziehen kann, mit der geantwortet wird. Oder besser noch, darauf, ob es anstelle von Flucht, Banalität oder Gefühlskälte eine Antwort gibt und ob mit dieser Antwort Sorge getragen wird.

Was ist der Unterschied zwischen Lehrenden und Schwätzenden? Lehrende sind darin einbezogen, wenn etwas zum Vorschein kommt. Schwätzende sind eher an Verschleierung interessiert. In diesem Punkt gleichen sich Schwindlerinnen, Demagogen und totalitäre Anführer. Sie sind Teil der Verstellung, der Täuschung. Es ist nie einfach, zu unterscheiden. Eine Spur könnte sein: Die Demagogie hat keine Stärke, sie ist nur Oberfläche, reine Banalität. Wonach fordert der Text Sophokles’, ‹Das Nest der Nachtigall›? Das Erkennen der Tiefe oder der Zartheit und eine Art Verantwortung. Was fordert die faschistische Propaganda oder die konsumorientierte Werbung? Unüberlegt einer unpersönlichen Dynamik zu folgen.

Die Propaganda hat keine Stärke. Sie ist Dekoration.

Die Wahrheit des Zum-Vorschein-Kommens erfordert eine Art Verantwortung. Wer auf die Schönheit und die Wahrheit der Welt antwortet, ist er selbst.

Was fordert ein Sonnenuntergang? Betrachtet zu werden.

Was fordert ein gutes Gedicht? Noch einmal gelesen zu werden.

Was fordert ein mathematisches Theorem? Verstanden zu werden.

Was fordert eine populistische Rede? Unbedacht geglaubt und überschwänglich verherrlicht zu werden.

Eher wach als satt.

Das höchste Empfinden ist, wach zu sein, wachsam zu sein, achtsam.

Wachsam: Das ist das verdoppelte (gefaltete) Fühlen; die Beugung der Empfindsamkeit. Das ist die unglaubliche Schwelle des Menschlichen.

Deshalb darf Erziehung nicht darauf ausgerichtet sein, viele Theorien anzuhäufen, sondern wachsam zu bleiben, achtsam zu sein. Eine achtsame Wesensart auszubilden.

Stets ist das Wertvolle bedroht. Und gegenwärtig zielt diese Bedrohung sowohl auf den Ort der Erziehung als auch auf den Sinn des Menschlichen ab.


Fotos von Charlotte Fischer

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