Das Leben lebt vom Tode – Ein Plädoyer für eine Sterbekultur

Wir haben unbemerkt unsere Kultur in eine Ecke getrieben. In die Ecke der Gesundheit, der Lebensverlängerung, der Lebensrettung, des ewigen irdischen Lebens, des zwanghaften Am-Leben-Festhaltens. Unsere Kultur bekämpft den Tod – mit allen Mitteln der Kunst.


Der Tod hat gerade dadurch unser Bewusstsein okkupiert, dass wir unser Leben retten wollen. Weil wir den Tod nicht akzeptieren, nicht tolerieren wollen, nicht anschauen wollen, tun wir alles dafür, ihn aus unserem Leben herauszudrängen.

Anstatt des Todes angesichtig und eingedenk zu werden, wird der Blick in Richtung Tod zu einem Schreckgespenst, das uns ins Leben zurückwirft und an das wir uns – so verschreckt – umso fester klammern.

Wir meinen mit all unserem medizinischen Fortschritt, mit all unserer christlichen Ethik das Leben retten zu wollen, ja zu müssen – in Wahrheit aber schrecken wir vor dem Tode zurück. Genauer gesagt: Wir schrecken vor einem Gespenst des Todes zurück, das uns den wahrhaften Blick auf den Tod versperrt.

Der Tod schenkt Lebensatem

Wir klammern uns ans Leben, weil wir Angst vor einem Zerrbild des Todes haben. Wir wollen den Tod aussparen und laden ihn gerade dadurch noch mehr ein – denn das Leben bedarf des Todes, um atmen zu können. Das Leben ist auf den Tod angewiesen. Leben beruht auf Erneuerung. Die ist aber nur möglich, wenn das Altgewordene auch gehen darf. Der offene Blick sieht in der Welt des Todes die geistige Welt. Das Verdrängen des Todes geht einher mit dem Verdrängen der Welt, aus der alles Leben und aller Sinn hervorgeht. Ein Leben ohne Tod führt in die Erstarrung. Auch seelisch: Die Vision eines Lebens ohne Tod beruht auf Angst. Angst führt Krampf und Kälte mit sich.

Der Würgeengel

Genau an diesem Punkt befinden wir uns mit der aktuellen, panisch-pandemischen Weltlage: Das eigentlich Menschlich-Seelische – sein Lächeln – wird zur mumifizierten Maske; das Leben droht allenthalben in die Erstarrung zu geraten – im Kulturellen, im Wirtschaftlichen, im Sozialen; der Zwang soll unsere Situation norm(alis)ieren.

Das angstmachende Gespenst, das den wahren Blick auf den Tod verstellt, zwingt ein Zerrbild des Todes in das Leben des Menschen und offenbart sich mehr und mehr als Würgeengel.

Das Leben würde leben können, weil es den wahren Tod wieder an seiner Seite haben darf; und die Gesellschaft würde Erneuerung erhalten, indem der Tod wieder stattfinden darf.

Würdige Todesethik

Auf den Tod zu blicken, ist eine Mutprobe geworden. Aber ruhig besonnen gehört er doch nur selbstverständlich zum Leben. Der Tod ist ein Lebenswandler, ein Entwicklungsschritt im Leben der menschlichen Individualität – ein großer Entwicklungsschritt, ein Lebensförderer, ein, nein: das Lebenselixier.

Eine Bejahung des Todes wäre eine Ethik, die uns aus der Ecke, in die wir uns hineingedrängt haben, wieder befreien würde. Eine Bejahung, die schlicht Kultur werden sollte. Wir brauchen keine Ethik der Lebensverlängerung, sondern eine Ethik des Todes, eine Ethik des Sterbens – eine Sterbekultur. Es sollte so normal sein, morgen die Reise in die Lebewelt nach dem Tode antreten zu wollen, wie wir uns abends ins Bett legen, um in die Welt der Nacht einzutauchen. Es muss zu unserem individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnis gehören, spätestens mit 80 Jahren den Tod zu bejahen: Es ist an der Zeit.

Gilda Bartel und Dirk Schultz, Pastellkreide, 2021

Wir würden uns damit einen mehrfachen Dienst erweisen: Das Leben würde leben können, weil es den wahren Tod wieder an seiner Seite haben darf; und die Gesellschaft würde Erneuerung erhalten, indem der Tod wieder stattfinden darf.

Derjenige, der den Schritt ins Todesland antreten will, würde in einer Geste der Freiheit, der Würde und der Selbstlosigkeit die Schwelle überschreiten (nicht mehr in Angst und im Egoismus, doch noch unbedingt weiter leben zu wollen).

Der Gesellschaft stünde eine Perspektive zur Verfügung, aus der Zwangsjacke der Pandemie mit einer reifen, bewussten und freien Haltung und Handlungsweise wieder herauszukommen. Nicht mehr ein Leben durch Zwang, sondern ein Sterben aus Einsicht.

An einer solchen Perspektive einer bewussten Sterbekultur müsste gearbeitet werden. Sie sollte uns nicht mehr fremd anmuten, sondern eine schlichte Selbstverständlichkeit sein. Unsere Schwellensituation erfragt von uns, Bewusstsein und Verantwortung für den Tod in unsere Hand zu nehmen – nicht durch Normen, Gesetze oder Vorschriften aufgezwängt, sondern als menschliches Lebens- und Kulturgut. Es müsste freier und bewusster Konsens sein, dass es zu unserem Dasein gehört, nach spätestens 80 Lebensjahren wieder den Start in ein neues Dasein antreten zu wollen; nicht als Vorschrift, sondern als ein menschliches, individuelles und uns würdiges Lebensgefühl.

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