Rufe nach Begegnung und nach Quarantäne, nach Rückkehr zur Normalität und nach Geduld – alle haben recht.
Der Soziolge Armin Nassehi beschrieb am 1. April im Fernsehinterview (1) zum Umgang mit der Coronakrise eine Vielfalt der Stimmen, die sich gegenseitig sogar widersprächen. Das sei für moderne Gesellschaften typisch und zeige sich nun in der Krise im Brennglas: Die Virologen und Epidemiologinnen plädieren für Kontaktsperren, streng und lange, die Ökonomen plädieren für schnellste Rückkehr in die Produktion, die Verfassungsrechtlerinnen sorgen sich um die Übergriffe der Politik. Und was sollten die Politikerinnen und Politiker tun, fragte die Moderatorin Caren Miosga: «Alle Stimmen hören und sie zusammenbringen.» Was also in der Seele geschieht, dass die Kräfte in gegensätzliche Richtung streben, das geschieht in der Gesellschaft nicht anders. So wird das Gemeinschaftsleben zum Bild der Seele, zur großen Seele. Vor 20 Jahren brachte der Psychologe Friedemann Schultz von Thun sein Kommunikationsmodell heraus, in dem er von einem ‹inneren Team› sprach, das in der Seele einen Diskurs führe. Seine Beschreibungen erinnern an Rudolf Steiners Hinweis, dass im 20. Jahrhundert, was man will, denkt und fühlt, auseinanderfallen würde. So werde die Integrationskraft des Ich auf die Probe gestellt. In der Persönlichkeit ist es das Ich, das dieses innere Team zusammenhält. Was moderiert oder führt die große Seele der Gesellschaft? Früher fiel die Antwort leicht, denn die Gesellschaften hatten die Architektur einer Pyramide. «Die Pyramide hat sich umgedreht!», war vor 30 Jahren ein Wort in Vorträgen von Jörgen Smit. In der einzelnen Seele gäbe es keine Spitze mehr, keine Solostimme, keine größte Begabung, sondern man müsse fortwährend schauen, was die Gesellschaft verlange, welche Nöte bestünden, und danach sein Engagement ausrichten. So, wie es nicht mehr die eine Hauptstimme, die größte Begabung in der Seele, gebe, so gelte es auch in der Gesellschaft, jeweils wechselnde Solisten gemeinschaftlich zu erkennen und ihnen für eine Zeit den Taktstock zu reichen.
Auf die Frage, wieso die Bürgerinnen und Bürger bei diesen Einschränkungen mitgingen, antworterte Nassehi: «Weil es nur vorübergehend ist.» Die zeitliche Begrenzung mache das Unmögliche möglich, dass eine moderne komplexe Gesellschaft sich solidarisch solchen Regeln unterwirft. Es wird also darauf ankommen, dass diejenigen, die jetzt am Pult stehen, hören, wann sie das Ruder wieder aus der Hand geben sollten.
Grafik: Fabian Roschka
(1) Tagesthemen/ARD, 1. April, 22.30 Uhr