Das geübte Auge

2020 veröffentlichte der IL-Verlag Basel das großformatige Buch ‹Kunstgeschichte. Ein kreativer Weg der Bilderbetrachtung› des Künstlers und Kunstpädagogen Luzius Zaeslin (1951–2019), das 2017 bereits in portugiesischer Sprache in São Paulo erschienen war.


Zaeslin, der in Basel Kunstgeschichte und Archäologie studiert hatte, aber auch ein kunstgewerbliches Diplom besaß, arbeitete über viele Jahre als Zeichen- und Mallehrer in Argentinien und Brasilien und war als Dozent am pädagogischen Seminar in São Paulo tätig. Unzählige Schüler, Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen erhielten durch ihn wegweisende und -eröffnende Anregungen. Er vermochte sie nicht nur zur praktischen Kunst und eigenschöpferischen Tätigkeit zu führen, sondern auch ihren Blick für die Kunst auszubilden – an seinem eigenen Blick und seiner Art, Kunstwerke zu betrachten, Kunstwerke und Kunstschaffende, deren Lebensintentionen er sensibel, tiefgründig und gekonnt studierte. Er malte mit den Schülern im Freien und ging mit ihnen auch immer wieder in Museen. Er lehrte sie dort sehen, ohne ästhetische Vorurteile, aber in der Ausbildung einer ästhetischen Urteilskraft. Er war ein freier Geist mit einem außergewöhnlich weiten Horizont. Trotz seiner Beheimatung in der künstlerischen Moderne des 20. Jahrhunderts hatte er ein tiefes Verständnis für die großen Entwicklungslinien der Kunst- und Bewusstseinsgeschichte, für Jahrtausende menschheitlich-kultureller Entwicklung. Er wurde von seinen Schülerinnen in seiner Originalität geliebt, erweckte ihr Interesse und ihre Freude, ihre genaue Weltwahrnehmung.

Als Luzius Zaeslin schwer erkrankte, baten ihn seine Studierenden und Freunde um ein Buch, in dem er seine Kunst- und Kunstdidaktik-Erfahrungen schriftlich niederlegen sollte, zur Ein- und Hinführung künftiger Generationen von Waldorflehrerinnen und -schülern. Was er in seinen letzten Lebensjahren daraufhin schuf, ist heute ein schrift- und bildgewordenes Vermächtnis dessen, was ihm in der methodischen wie persönlichen Annäherung an Kunstwerke so wichtig war. Gegen die Tendenz zur «überreizten Agitation auf dem Kultursektor» wollte er die verloren gegangene «ruhige Betrachtung in Muße und im Verstehenwollen von Werken» setzen bzw. als Kunst der Kunstbetrachtung in neuer Weise ausbilden. Für Zaeslin ging es darum, von den Kunstwerken zu lernen und über sie zu meditieren, auf einem Weg der schöpferischen, Beobachtung und Aneignung. Die 116 Bilder von Guariento di Arpo bis Wassily Kandinsky, anhand derer er methodische Wege der Annäherung und des Verständnisses beschrieb, ließ Luzius Zaeslin zwar im Anhang seiner Monografie reproduzieren (‹Werkübersicht›). Im Hauptteil aber kopierte er sie mit eigener Hand. Ihm war es um das tätige, eigenaktive Nachschaffen zu tun, um die Hand, die uns hilft, «uns daran zu erinnern, was das Auge trotz aller Aufmerksamkeit nicht vollständig wahrgenommen hat». Sie, die Hand des Menschen, wird zum «Helfer des Auges». Über die miteinander verschränkte Aktivität von Wahrnehmung und Bewegung weiß die moderne Sinnesphysiologie seit den grundlegenden anthropologischen Arbeiten Viktor von Weizsäckers viel zu sagen1 – und Friedrich Edelhäuser hat in seiner Habilitationsschrift an der Universität Witten-Herdecke zuletzt Wichtiges dazu beigetragen2. Zaeslin aber legte diese Zusammenhänge in besonderer Weise dar.

Er war dabei nie in Gefahr, sich mit den Werken der von ihm betrachteten Künstler – oder gar mit diesen selbst – zu identifizieren, sondern verstand seine Kopie als methodische Annäherung, in größtem Respekt vor dem Bild, vor der realen und konkreten Begegnung mit einem einmaligen Werk. Er setzte die äußerliche wie innerliche ‹Nachschaffung› bewusst dem entgegen, was Walter Benjamin in seinem bahnbrechenden Aufsatz ‹Das Kunstwerk in der Zeit seiner technischen Reproduzierbarkeit› analysierte und als Entstellung der ‹Aura› des Werkes durch seine industrielle Massenreproduktion beschrieb. Zaeslin lehrte und zeigte seinen Schülern und Studentinnen die unmittelbare Begegnung mit dem Kunstwerk, die Schritte der Beobachtung und Selbstbeobachtung. Er zeigte ihnen auch, dass es möglich ist, die «Realität des Malprozesses» eines gewordenen Werkes bis zu einem gewissen Grade noch nachzuerleben, allerdings nicht in mystischer Weise, sondern durch sehr genaue und liebevolle Beobachtung – angefangen vom Malgrund über die Qualität der Farben, die Weise der Pinselführung und der Erfassung der künstlerischen Mittel und der Technik, die der Malende gebrauchte. Vor den Bildern, in den Museen und in seinem Lehrbuch unterwies Luzius Zaeslin seine Schüler darin, die Bildsprache des Kunstwerkes aktiv sehen und verstehen zu lernen, in der Wahrnehmung der Tiefenebenen, der Choreografie des Lichtes und seiner Bewegungen, der geometrischen Komposition und des Farbeinsatzes. Das ‹geübte Auge› von Luzius Zaeslin wird in dem Buch ‹Kunstgeschichte› überaus deutlich, trotz seiner durch und durch bescheidenen und zurückhaltenden Diktion. Seine Stilvergleiche der zwei Zeichnungen ‹Der Tod Mariens› von Dürer und von Rembrandt, seine Beobachtungen an Munchs ‹Der Schrei› in Öl und als Holzschnitt, seine Stilanalyse der ‹Tierschicksale› von Marc, der Kompositionslinien von Kandinsky oder seine Annäherung an die künstlerische Eigenart von Klee sind ebenso markant wie gekonnt – und Zeugnis seiner tiefen ‹Erfahrenheit› im Sinne von Paracelsus, eines Erfahrens der Weltwirklichkeit, die mit dem ‹Fahren›, dem Reisen und Unterwegssein zu tun hat, der inneren wie äußeren Bewegung. Klees Aussage, dass die Kunst nicht das Sichtbare wiedergebe, sondern dass sie sichtbar mache, wird in der Arbeit von Luzius Zaeslin auf ganz eigene Weise evident. Er konnte sehr viel, war selbst ein hochbegabter Künstler – in seinem Lehrbuch und seinem Lehrerleben aber ging es ihm nicht um seine Kunst, sondern um die der anderen, um die Annäherung an sie im Raum der Begegnung, des ‹Du› im Sinne Martin Bubers. Auch Bildwerke sind Wesen – und nicht von ungefähr zitierte Zaeslin John Berger mit den Worten: «Was gemalt wurde, überlebt im geschützten Raum des Bildes, im Raum des ‹Gesehen-worden-Seins›. Die wirkliche Heimat des Bildes ist dieser schützende Raum.»


Buchvernissage 24.10.2021 Scala Basel, 17 Uhr. Einleitung: Constanza Kaliks und Florian Osswald. Musik: Walter Feybli. Anmeldung über den Verlag (info@il-verlag.com)

Luzius Zaeslin, Kunstgeschichte. Ein kreativer Weg der Bilderbetrachtung, IL-Verlag GmbH, 2020

Grafik: Fabian Roschka

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Footnotes

  1. Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, 1940
  2. Friedrich Edelhäuser, Wie bewegt sich der Mensch? Zur Funktion des Nervensystems beim Wahrnehmen und Bewegen. Witten, Herdecke 2016.

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