Das Geschenk der Pandemie

Manche Länder schaffen gerade die Corona-Maßnahmen ab, andere halten den Status und wieder andere verstärken die Maßnahmen. Die Impfpflicht scheint der entscheidende Wendepunkt in Hinblick auf den Ausstieg aus der Pandemie zu werden, mit zweierlei Szenarien für die Zukunft. In welche ‹Post-Corona-Welt› wollen wir gehen? Louis Defèche sprach mit Gerald Häfner von der Sektion für Sozialwissenschaften am Goetheanum über die derzeitige Situation in Deutschland.


Wie siehst du die Impfpflicht?

Wir hatten in Deutschland vor einem halben Jahr Bundestagswahl. Alle großen Parteien haben im Wahlkampf erklärt, mit ihnen werde es keine Impfpflicht geben. Das versprachen sie. Ich finde bemerkenswert, dass man so schnell sein Wort bricht. Das stärkt nicht das Vertrauen der Bevölkerung in Demokratie, Parlamente und Politik. Noch absurder ist natürlich, dass man die Impfpflicht zu einem Zeitpunkt plant, wo sich die Lage schon wieder völlig geändert hat. Das Virus mutiert ständig, was von Anfang an klar war. Im Moment sind Geimpfte genauso infektiös wie nicht Geimpfte, nur die Krankheitsverläufe sind etwas unterschiedlich. Das Virus durchbricht immer leichter die Immunabwehr des Menschen, man infiziert sich immer schneller, aber die Verläufe werden immer leichter. Jede Woche haben wir weniger Krankenhausbetten belegt, weniger Menschen, die behandelt werden müssen. Jede Woche haben wir weniger Todesfälle, viele haben sogar gar keine Symptome. Es gibt ganz wenige Menschen, die aufgrund von bestimmten Vorerkrankungen oder extremer Altersschwäche noch stark gefährdet sind. Die muss man schützen. Und es gilt, die Immunität der Menschen zu stärken. Das geht auch anders. Eine gesetzliche Impfpflicht für die gesamte Bevölkerung ist weder geboten noch sinnvoll.

Wie erklärst du, dass der Staat quasi autoritär handelt?

Es lebt eine Stimmung der Angst. Sie ist teils noch geschürt worden. Sie beruht auf einem extrem verengten und undifferenzierten Krankheitsverständnis, das nur auf das Virus starrt und als einzige (anfangs auch: finale) Lösung die Impfung sieht. Man zog in eine Art ‹Krieg› gegen das Virus (Emanuel Macron), denn man glaubte, gewinnen zu können. Andere, komplexere, differenziertere Sichtweisen konnten lange Zeit nicht durchdringen. So wurden Kinder und Erwachsene in den Lockdown geschickt und vielfach gerade das verboten, was Menschen hilft, stark zu werden gegen das Virus. Was punktuell richtig war, ist generell und langfristig gerade falsch. Denn das Virus wird nicht verschwinden. Wir müssen anfangen zu lernen, mit ihm zu leben.

Derzeit rollt das alte Denken weiter, weil es so auf Schienen gesetzt wurde, obwohl die Wirklichkeit sich ändert. Zwar sind die Inzidenzen hoch, aber die Erkrankungen gehen zurück und die Verläufe werden leichter. Das heißt: Wir beginnen, mit dem Virus zu leben. Aber Institutionen und Politik brauchen in manchen Ländern lange, um zu reagieren. Man ist wie gefangen im Gespinst der Gedanken von gestern. In Deutschland läuft jetzt die Debatte über eine Impfpflicht im Parlament. Das wirkt wie aus der Zeit gefallen. Aber es könnte auch eine Chance werden für eine individuelle und gemeinschaftliche Neubestimmung. Immerhin wurde die Abstimmung freigegeben. Das heißt, man betrachtet das nicht als eine parteipolitische Debatte, sondern als eine Gewissensfrage. Jede und jeder Abgeordnete muss also selbst nachdenken und entscheiden, wie sie oder er das sieht. Hilft ein Impfzwang oder nicht? Viele – auch Medien – werten das als Schwäche. Der Kanzler habe keine Autorität. Sie fordern ein Machtwort der Regierung. Das zeigt atavistische Denk- und Debattenformen.

Ein anderes ist das Auseinanderdriften, ja die extreme Polarisierung unserer Gesellschaft. Das macht mir große Sorgen. Wir müssen lernen, einander zuzuhören und aufeinander zuzugehen. Wenn jetzt per Gesetz eine Impfpflicht statuiert wird, halte ich es aber für weltfremd, zu glauben, dass alle, die sich bisher dagegen entschieden haben, begeistert ihre Meinung ändern und zum Arzt gehen. Die Impfpflicht wird die Gräben in der Bevölkerung nicht schließen, im Gegenteil. Die Spaltung wird sich weiter zuspitzen. Viele Menschen werden noch empörter sein.

Ich möchte auch als Arzt nicht gezwungen werden, einem Patienten eine Spritze zu geben, die er in Wirklichkeit fürchtet und nicht will. Es macht mir Angst, was hier gedacht wird. Zumal nicht klar ist, wo es aufhört. Wie viele Spritzen braucht man? Wie oft? Wer entscheidet darüber? Insofern wäre ich froh, wenn man ein bisschen mehr auf die Entwicklung schauen und von ihr lernen würde – auf die Zahlen, auf die Verläufe oder auch auf andere Länder, die längst die Maßnahmen zurücknehmen – und runterkäme von diesem Popanz ‹Impfpflicht›.

Selbst wenn die Pandemie weiterlaufen würde – es ist schon eine besondere ‹Ethik›, Menschen zu einer Therapie zu zwingen. Wollen wir das politisch?

Möglich ist viel. Aber ist es richtig? Ich halte die Impfpflicht weder für nötig noch für sinnvoll oder legitim. Mein Verständnis der Kompetenzen des Staates endet weit davor. Er muss die Würde und die Freiheit des Menschen wie auch die Unverletzlichkeit des Körpers achten. Blicken wir zurück: Da gab es die zwangsweise Sterilisierung behinderter Menschen. Man versuchte, deren Nachwuchs zu verhindern. Das geht zurück auf die Nazizeit. Da hieß das «Verhütung erbkranken Nachwuchses» und steht im Zusammenhang mit der Vorstellung von «lebensunwertem Leben». Bei Menschen, denen man nicht zutraute, das selbst zu entscheiden, entschied der Staat, dass sie unfruchtbar gemacht werden. Das haben wir aufgehoben und gesagt, dass der Staat so etwas nicht entscheiden darf. Mehr noch: Kein medizinischer Eingriff darf mehr ohne Zustimmung der betroffenen Person erfolgen.

In den Debatten lebt zurzeit auch die Frage nach der Transparenz der Verträge zwischen der Europäischen Union und den Impfstoffherstellern. Hast du einen Blick darauf?

Das ist ein anderes dunkles Kapitel dieser Pandemie. Wobei ich an dieser Stelle sagen möchte, dass es auch helle Kapitel gibt. Die große Solidaritätsbereitschaft, der unbedingte Einsatz für jedes Menschenleben, die rasche Entwicklung von Impfstoffen zum Schutz für gefährdete Menschen, das alles ist ja absolut beeindruckend! Die Art jedoch, wie diese Impfstoffe heute vermarktet und beschafft werden, finde ich schlicht amoralisch. Das gilt auch für die Gewinne, die damit erzielt werden. Da wurden einige Personen, Firmen, Anleger und Fonds in ganz kurzer Zeit aufgrund der weltweiten Not unermesslich reich. Gleichzeitig fielen 180 Millionen Menschen zusätzlich in Armut. Und es gibt Länder, in denen die Menschen überhaupt keine Chance haben, an den Impfstoff zu kommen. Wenn es wirklich darum ginge, alle Menschen zu schützen, könnte man ihn für einen weit geringeren Preis anbieten. Und zwar allen gleich. Das passiert aber nicht. Die reichen Länder haben sich in exklusiven Verträgen mit exorbitanten Summen den Impfstoff gesichert – und das auch noch in obszönen Mengen. So wurden alleine von Deutschland 660 Millionen Dosen Impfstoff gekauft. Damit könnte man jeden Deutschen achtmal impfen. Teilt man die Auffassung, dass allen die Impfung zur Verfügung stehen sollte, ist solches Horten von Impfstoffen wenig sinnvoll.

Zugleich wurden die Impfstoffhersteller von Haftung freigestellt. Das Risiko im Falle von Schäden trägt der Kunde – hier also der Staat. So steht das in verschiedenen Dokumenten. Sicher aber ist nichts, denn die Verträge selbst werden weiterhin geheim gehalten. Die Europäische Kommission verhandelt gewaltige Verträge, wir als Bürgerinnen und Bürger bezahlen und tragen die Konsequenzen – aber weder die Öffentlichkeit noch das Europäische Parlament erfahren, was darin steht. Das finde ich besorgniserregend, zumal die Verträge zu einem Zeitpunkt gemacht wurden, als noch gar keine ausreichenden Erfahrungen hinsichtlich der mittel- und langfristigen Folgen vorlagen. Und demokratiepolitisch ist es gar nicht akzeptabel.

Wenn wir diese Pandemie, die politischen Maßnahmen und alles, was passiert ist, als Symptom einer zivilisatorischen Entwicklung anschauen, was sagt uns das? Gehen wir in eine technokratisch-hygienische Zivilisation? Oder lernen wir, was zu neuem Verständnis des Zusammenlebens führt?

Im Moment sind wir Zeugen von zu­neh­mendem Paternalismus, Autoritarismus, Kontrollwahn und einem Verlust an Mut zur Freiheit und Selbstbestimmung, was mir, verbunden mit den neuen technologischen und psychotechnischen Möglichkeiten, große Angst macht.

Aber: Beides ist möglich. Denn: Die Zukunft ist offen, allen Gerüchten, Strategien und Untergangsszenarien zum Trotz. Und sie liegt in unseren Händen.

Wir waren ja eigentlich schon weiter. Wir konnten erleben, wie immer mehr Menschen schon eine Art postmaterialistisches Denken entwickelt haben. Das ökologische Bewusstsein wuchs, auch im Zusammenhang mit der Klimafrage. Man spürte: Wenn wir weiter auf diesem Planeten zusammen leben wollen, müssen wir achtsamer werden, Rücksicht entwickeln, dürfen letztlich nicht mehr für uns beanspruchen, als wir zurückgeben. Dort standen wir, vor einer großen ökologischen, sozialen und Bewusstseinsfrage. Dann kam, wie ein Break oder Stopp, die Pandemie – und mit ihr die Angst. Angst aber macht eng, starr, unbeweglich. Seither starren alle gebannt auf dieses Virus. Viele glauben, man könne das nur mit Anordnungen, mit Einschränkungen, mit Bestimmungen, mit ‹technischen Mitteln› von oben lösen. Jeder Gedanke hat Konsequenzen. Zum Beispiel wenn wir in Deutschland die Impfpflicht einführen, müssen wir zeitgleich eine dementsprechende Erfassung aller Bürger und Bürgerinnen einführen, die es aus guten Gründen nicht gibt. Denn Informationen zu unserem Gesundheitsstatus in allgemeinen Registern widersprechen dem Datenschutz, dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Impfpflicht verlangt aber so ein Register. Und sie verlangt eine Regierung, die entsprechend agiert. Sie gebiert Vormundschaftlichkeit und Überwachung – in dem Sinne, dass der Staat bestimmt und kontrolliert, wer geimpft werden muss, wann er geimpft werden muss, womit er geimpft werden muss.

Das sind dann alles Konsequenzen. Im österreichischen Impfpflichtgesetz sind zum Beispiel mindestens drei Impfungen vorgeschrieben – doch der Gesundheitsminister kann weitere anordnen. Dann steht einer, steht die Regierung über allen Menschen und verfügt, wie wir uns medizinisch behandeln lassen müssen. Dabei ist das immer eine höchst individuelle Frage. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist ein gemeinsames Lernen, gerade aus dieser Zeit der Pandemie. Als Anthroposoph glaube ich, dass nichts, was mir oder uns widerfährt, ohne Sinn ist. Und es gilt, den Sinn zu erkennen. Eine Pandemie ist wie ein Krankheitsgeschehen der Menschheit. Sie richtet eine große Frage an uns Menschen. Was können wir daraus lernen? Was können wir mitnehmen? Corona wird über den Atem übertragen. Der Atem ist etwas, was wir teilen mit allen Wesen auf dieser Erde – und was uns mit allen verbindet. Wir sind alle gemeinsam in diesem Atemraum – wie wir auch sonst gemeinsam auf dieser Erde sind, abhängig von- und ganz und gar verantwortlich füreinander. So können wir anfangen zu lernen, was wir füreinander, für das Klima, für die Ökologie, für die Erde ohnehin lernen müssen. Nämlich: Wie verhalte ich mich so, dass es auch für andere gut ist? Das kann jetzt geübt werden. Da können wir sehen, dass Gesetze, Zwang und Pflichten nicht jeder Situation und jedem Menschen gerecht werden. Aber ich fände es wunderschön, wenn wir den Weg nach und nach finden könnten von der staatlichen Bevormundung zum individuellen, selbstbestimmten, gemeinsamen Lernen und Üben. Achtsamkeit im Atemraum entwickeln, in unserem Umgang miteinander und mit der Erde, das wäre eine schöne Frucht, ein schönes Geschenk dieser Pandemie! Ich hoffe, man darf das so sagen, ohne sofort missverstanden zu werden.

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