Das Entzauberungswerk

Wie entsteht ein Kunstwerk? Bietet Anthroposophie darauf eine Antwort? Die radikalste Antwort stammt wohl von ihrem bekanntesten Vertreter selbst. In seinem Vorwort zur englischen Erstausgabe von Rudolf Steiners ‹Art and Art Theory› taucht Zvi Szir ein in die Möglichkeit einer neuen Ästhetik.


Als ich zum ersten Mal dieses Buch gelesen habe, kam ich frisch aus dem Kunststudium, mit einem Kopf voller Kunst und theoretischen Gedanken, wie man sie am Ende des 20. Jahrhunderts finden konnte. Gleichzeitig habe ich mich einem intensiven Studium der Anthroposophie gewidmet, ich war eben 28 Jahre alt geworden. Wir wussten schon alles, was es zu wissen galt. Sowohl die abstrakte wie auch die figurative Kunst lagen hinter uns. Konzeptuell oder expressiv? Es machte nicht mehr wirklich einen Unterschied, alles war erlaubt und möglich, alles war gleich entwertet und somit auch gleich unmöglich, Kunst hatte Kontext und Geschichte, aber nicht wirklich eine Zukunft. Wir kamen, nachdem alles schon geschehen war; nach der Moderne, nachdem die Malerei gestorben war und doch weiterlebte, nach dem Objekt, dem Image, dem spezifischen Medium, dem Happening und der Performance. Darum haben mich die Gedanken Rudolf Steiners in diesem Buch wie ein Hammer getroffen: Kunst wurde dadurch ganz anders. Nie zuvor traf ich auf einen Denker, der die Entwicklung der modernen Kunst und eine esoterische Weltanschauung mit so einer Sicherheit, in so einer Tiefe verbinden konnte. Plötzlich zeigten sich die geistigen Wurzeln der modernen Kritik an der Repräsentation. Ich traf auf Ideen, die die Kunstentwicklung seit dem 19. Jahrhundert nicht in Bezug auf die Vergangenheit schätzten, sondern in Bezug auf ein mögliches kommendes Schaffen. Die ‹Moderne› war nicht am Ende, sondern hatte noch gar nicht begonnen. Das Buch war und ist immer noch ein Fest, ein Wegweiser, der auf Möglichkeiten hinweist, die noch niemand wirklich zum Blühen gebracht hat.

Seit dieser ersten Begegnung habe ich das Buch sowie einzelne Vorträge vertiefend studiert und immer wieder unterrichtet – der festliche Schock ist immer wieder da. Es ist das Staunen angesichts dessen, was die kommende Kunst sein kann, wenn wir den Mut haben, so weit zu gehen, bis wir die darin eröffneten Dimensionen, deren kosmische Radikalität umarmen.

Die vorliegende Sammlung zeichnet einen Pfad durch Rudolf Steiners Denken über die Kunst. Beginnend mit dem frühen philosophischen Werk und der Literaturkritik am Ende des 19. Jahrhunderts bis zu seiner späteren Vortragstätigkeit folgt es dem Bemühen, das Mysterium, das wir mit dem unverbindlichen Begriff ‹Kunst› verdecken, in Worten zu erschließen. Von 1888 bis 1921 sind es 33 Jahre intensiver kritischer Auseinandersetzung mit älteren und neueren Versuchen, etwas Wesentliches über die Künste zu sagen. Als eine Einheit betrachtet, bildet dieser Band eine der provokativsten Textsammlungen zur Kunst, die im 20. Jahrhundert verfasst worden ist. Sie bietet eine einzigartige Analyse von Ursprung, Grund und Verfahren der kreativen Prozesse, deren Radikalität weder im Rahmen der Kunstwelt und ihrer akademischen Kritik noch innerhalb des anthroposophischen Strebens genügend anerkannt wurde.

Die Schwierigkeit, etwas über Kunst zu sagen, war für Rudolf Steiner eine persönliche Herausforderung, die er eng mit seiner geistigen Biografie verbunden erlebte. Nicht umsonst weist er im letzten Vortrag dieses Bandes auf seine wiederholten Versuche hin, einen neuen Zugang und neue Ausdrucksformen für das Sprechen über Kunst zu entwickeln. In der vorliegenden Sammlung finden wir mindestens drei Formen dieses Annäherungsversuches.

Die fünf Texte, die das Buch eröffnen, zwischen 1888 und 1898 verfasst, behandeln Grundfragen der ästhetischen Erfahrung und der Kunst in der Sprache der Philosophie. Sie entwerfen einen neuen Zugang zur Ästhetik, sind aber in Stil und Sprache in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts verankert, genauer in der Sprache des Deutschen Idealismus.

Weder Darstellung noch Illustration

Der erste Vortrag im zweiten Teil, ‹Das Wesen der Künste›, ist gar kein Vortrag im eigentlichen Sinn, sondern eine Erzählung, ein esoterisches Märchen. Mir ist keine andere Stelle im schriftlichen und im Vortragswerk Steiners bekannt, in dem er so demonstrativ sich weigert, zu erläutern, und sich der reinen imaginativen Schilderung ohne Erklärungen bedient. Wenn überhaupt vergleichbar, dann mit den einzelnen kurzen Märchen, die hier und da in die Mysteriendramen gestreut sind, denen aber die ausführliche und präzise Intensität des ‹Märchenvortrags› fehlt. Dieser außergewöhnliche Versuch, die sinnliche Grundlage der verschiedenen Künste in Bildersprache zu vermitteln, wird nur verständlich, wenn wir vernehmen, welches Paradox er in Worte fassen will. Die geheimnisvolle Frage, die dieses Märchen hervorbrachte, lässt sich so zusammenfassen: Was ist die geistige Wirklichkeit, die der sinnlichen Erfahrung eines Kunstwerks zugrunde liegt, wenn wir das Sinnliche als eine wesentliche Komponente der Kunst erkennen? Wollen wir diese Widersprüche in ihrer Komplexität erfassen, dann müssen wir uns daran erinnern, dass die metaphysische Tradition seit Plato das Wesentliche von der Erscheinung scharf unterscheidet. Im Kunstwerk aber sind sie untrennbar, das Werk ist das, was es zu sehen, zu hören etc. gibt. Es ist, um mit Steiner zu sprechen, «sinnlich-übersinnlich», es unterliegt also keiner Trennung zwischen Wesen und Schein. Wie aber spricht man über das, was in seiner Sinnlichkeit übersinnlich, also wesentlich ist? Da greift der Autor zur Bild- und Märchenform.

Die sieben Vorträge, die dem ‹Märchen› folgen, behandeln vielfältige Aspekte der Relation zwischen der seelisch-geistigen Realität, dem hellsichtigen Bewusstsein und der Modalität der Kunst. Ihrer Form nach sind diese Vorträge die Niederschrift des gesprochenen Worts. Dem Inhalt nach lassen sich die Texte in zwei Gesichtspunkten unterscheiden, auch wenn manchmal beide im gleichen Vortrag vorkommen. Auf der einen Seite streben sie nach einem allgemeinen Verständnis der Kunst, sie weisen auf die Quellen der künstlerischen Impulse, der Fantasie und der Inspiration im Generellen hin. Sie versuchen, zu beschreiben, wie Kunst ist, ohne eine spezifische Kunst oder ein spezifisches Kunstwerk vor sich zu haben. Dem gegenüber, wie ergänzend, schildern die Vorträge einige der wesentlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Kunstgattungen. Sie weisen auf die Verankerung der Künste: Malerei, Plastik, Musik, Dichtung etc. in der differenzierten menschlichen Konstitution hin und auf ihre unterschiedlichen Berührungspunkte mit der geistigen Wirklichkeit. Im Kern aller Vorträge liegen aber dieselben Fragen: Was sind die realen Verbindungen zwischen Kunst, Geistig-Seelischem und der Hellsichtigkeit? Was hat die hellsichtige Forschung den Kunstschaffenden anzubieten, wenn wir uns klarmachen, dass die Künste, ein Kunstwerk, nie Darstellung und Illustration, weder von physischen noch von geistigen Erfahrungen und Tatsachen, sein sollen?

Bild: Bogdan Hiba, Realm of the Winter-King

Denken führt zur Wirklichkeit

Steiners Position lässt sich in ihrer vollen Radikalität begreifen, wenn sie nicht nur in ihrem geisteswissenschaftlichen Inhalt, sondern auch in ihrem geschichtlichen Kontext verstanden wird. Sein absolutes Ablehnen des Darstellens als künstlerischen Werts, nicht aber als künstlerisches Mittel, bezieht sich auf zwei Vorstellungen, die das Kunstverständnis des 19. Jahrhunderts bis tief ins 20. und in die Gegenwart hinein maßgebend bestimmt haben. Die eine ist die Idee des Realismus: Kunst soll ein treuer Spiegel der Wirklichkeit sein, ein Kunstwerk ist in dem Maße gut, wie die Darstellung naturgetreu bzw. wirklichkeitsgetreu ist. Dem entgegen steht der Wille, durch die Kunst Ideen, also geistige oder seelische Inhalte, darzustellen: Es ist das Verlangen, dass Kunst eine Aussage hat oder der Ausdruck eines Gefühls wird, was ideologisch und idealisierend auf die Darstellung wirkt. Die Kunstwerke werden so gestaltet, dass nicht die Ähnlichkeit, sondern die Idee oder ein Ideal propagiert werden. Kunst wird zum Sprachrohr einer Weltanschauung.

Obwohl beide Vorstellungen von der frühmodernen Kunst und Kunsttheorie sowie auch von Rudolf Steiner bekämpft und überholt wurden, leben sie in unserer Spätmodernität weiter, vielleicht stärker denn je. Sie erscheinen in versteckter und erneuerter Form als der Wille, die Kunst mit dem Leben zu vermischen, Leben zur Kunst und Kunst zum Leben zu machen, Kunst zu machen, die wie Leben aussieht, also in Form eines neuen Realismus, sowie auch in dem starken Anteil an Konzeptualem, das in die Gegenwartskunst eingemischt ist. Das Idealisierende wiederum ist überall zu finden, wo Kunst Ideen, politische und soziale Anschauungen oder Konzepte ausdrücken will. Dies bedeutet natürlich nicht, dass es keine wunderbare Kunst gibt, die sich dem Ideal, dem Politischen, Natürlichen oder Alltäglichen als Sujet bedient, sondern nur, dass in dem Maß, wie das Darstellen von Leben oder Ideen im Vordergrund steht, wir wieder beim Alten sind. Will ich zeigen, wie etwas aussieht, oder meine Gedanken über die Welt darstellen, dann bin ich wieder bei der realistischen oder bei der idealistischen Position. Kunstwerke sind immer wieder wirksam und tief berührend, aber nicht, weil sie realistisch oder idealistisch sind, sondern da, wo sie sich dem Realen und Idealen als Medium bedienen.

Rudolf Steiner betrachtet den Willen, das Sinnliche abzubilden, wiederzugeben oder die sinnliche Welt nachzuahmen, sowie auch den Wunsch, durch die Künste das Übersinnliche, bei Gedanken und Ideen beginnend, auszudrücken, darzustellen oder zu offenbaren, als ein Verbrechen gegen das künstlerische Empfinden. Er geht so weit in der Formulierung seiner Abneigung, dass er den Willen zur naturalistischen Darstellung als eine Verwilderung des Seelenlebens bezeichnet. Der Wunsch, reine Ideen in Kunst zu verkörpern, beschreibt er als eine Besessenheit durch den Verstand, und in Kunstwerken, die sich als Ausdruck einer Weltanschauung gestalten, sieht er einfach ein Barbarisieren des Empfindens, also die vollkommene Geschmacklosigkeit. Wenn aber die Kunst weder Menschen, Landschaften, Objekte oder Geschichten noch Gefühle, Ideen, Wesen, Gedanken und Erkenntnisse darstellen soll, was sollen die Kunstschaffenden dann tun?

Der Schlüssel zu Steiners Beschreibungen der künstlerischen Erfahrung, des Prozesses und des Werks liegt in den Grundstrukturen des menschlichen Bewusstseins, wie dies in seinem frühen philosophischen Werk skizziert wird. Schon 1894, in seiner ‹Philosophie der Freiheit›, schilderte er, wie der Akt des Wahrnehmens für uns die Wirklichkeit in zwei Hälften zerteilt. Durch die Sinne strömen uns die sinnlichen Eindrücke entgegen, während der gedankliche Inhalt der Welt, ihr Sinn, das Gesetzmäßige, das, was die Dinge zu dem macht, was sie sind, auf dem Umweg durch die Intuition und das Denken uns erreichen. Betrachte ich einen Baum, dann verbinde ich die Farben, Formen, Gerüche, Geräusche, die über meine Sinne zu mir kommen, mit den Begriffen und Gedanken, die ich habe und in meiner Intuitionsfähigkeit ergreifen kann. Ich kann die folgenden Begriffe mit meinen Empfindungen verbinden: groß, grün, stark, gesund, Baum, Äste etc.. Ich weiß nicht genau, ich sehe nicht, wie der Baum wächst, ich nehme nur wahr, dass er wächst. So verbinde ich mit meinen sinnlichen Empfindungen die Gedanken über den Baum, die ich intuitiv begreifen kann, sodass meine Vorstellungen über den Baum nicht alles enthalten, was der Baum ist, aber doch ein ausreichendes Bild ergeben. Die Wahrheit besteht gerade aus der Möglichkeit, die passenden Gedanken mit den gegebenen Sinneseindrücken zu verbinden. Im Akt des Denkens und Vorstellens erzeugen wir die Einheit der Wirklichkeit als Inhalt unseres Bewusstseins wieder, aber nur so weit, wie unsere Erkenntniskräfte reichen.

Zwei ineinander verschlungene Ströme

Gegenüber diesem sinnesbezogenen Bewusstsein stellt Steiner in seiner späteren Lehrtätigkeit das hellseherische Bewusstsein, beginnend mit der Imagination. In dem Sinn, wie Steiner diesen Begriff anwendet, bezeichnet die Imagination die Fähigkeit, die Welt in ihrer untrennbaren Realität von Sinn und Empfindung wahrzunehmen. In der Imagination erscheint mir die Wirklichkeit immer noch als Bild, aber als ein solches, das nicht durch die leiblichen Sinne wahrgenommen wird. Dadurch, dass die sinnliche Konstitution in der Imagination die Welt nicht in sinnliche und übersinnliche Inhalte zerteilen muss, erscheint das Wahrgenommene in seiner vollen Einheit. Sinn und Bild, Gedanke und Erscheinung treten als eines auf: Was ich sehe, erkenne ich. Das ist das Imaginative: die übersinnliche Bildwahrnehmung, eine Erfahrung der Welt, in der die Gedanken in der Wahrnehmung enthalten sind; ich weiß, was ich sehe, oder was ich sehe, weiß ich. Wahrnehmen und Denken offenbaren in diesem Fall ihre gemeinsame Quelle.

Jede andere Form von übersinnlicher Erfahrung, in der Wahrnehmen und Erkennen als getrennt auftreten, bezeichnen wir in der Geisteswissenschaft als Vision. Über Visionen und Träume fühlt man sich genötigt nachzudenken, in der Imagination enthält die Wahrnehmung die Gedanken.

Die künstlerische Erfahrung ist näher am imaginativen Bewusstsein als an der sinnlichen Wahrnehmung, aber mit einem großen, maßgebenden Unterschied: Sie ist nicht eine rein übersinnliche, sondern eher eine sinnliche Erfahrung, sie wird durch die leiblichen Sinne wahrgenommen. So ist die Kunst die einzige sinnliche Erfahrung, deren Empfindung mich ungetrennt von ihrem Inhalt erreicht, die Sinn und Bild zugleich gibt, die also sinnlich-übersinnlich oder übersinnlich-sinnlich ist. Im künstlerischen Werk gibt es keine Idee, die getrennt erscheint von ihrem sinnlichen Inhalt, Sinn und Erscheinungsform bilden eine untrennbare Einheit. Es ist nicht, dass wir keine Ideen aus einem Kunstwerk extrahieren können, sondern, dass wenn wir es tun, uns zwar eine Idee bleibt, aber keine Kunst. Es wäre so, wie wenn wir die Qualität der benutzten Ölfarbe besprechen und sogar diesen oder jenen Fabrikant benennen. Sowohl die Idee als auch das Farbmaterial sind Werkzeuge und Elemente, sie sind nicht die Kunst im Werk.

Bild: Bogdan Hiba, Eine Farbkomposition, Beide Bilder: Gouache& Acrylstift auf Papier, 10 × 15 cm, 2022

Dazu liefert uns die Musik ein gutes Beispiel: Eine Musikerin kann die gleichen Noten einmal wunderbar und einmal schrecklich vorspielen. Die Tatsache, dass die Noten ein gut geschriebenes Stück sind, also ideale Musik, ändert nichts an der Tatsache, dass es einmal sehr gute Musik, also Kunst war und einmal eine Katastrophe. Die gespielten Noten und der Klang sind, soweit es um Kunst geht, nicht voneinander zu trennen.

Es ist diese Einmaligkeit im Rahmen der sinnlichen Welt, die Steiner immer wieder dazu bringt, von der Kunst als übersinnlich-sinnlich zu sprechen. Die Kunst hat keine verborgene Dimension, ihr sinnlicher und ihr übersinnlicher Inhalt bilden eine Einheit; was in der Kunst erscheint, erscheint genau wie es ist. Während sich hinter der Natur noch eine unsichtbare Tätigkeit verbirgt, ist im Kunstwerk das Ganze offenbar, das Gemälde ist, was wir sehen, die Musik ist, was wir hören, und wenn wir ein Gedicht aussprechen oder lesen, steckt nichts hinter den Worten, was nicht im Gelesenen erklingt. Anders gesagt: Kunst ist der Ort innerhalb der sinnlichen Welt, an dem die Sachen so erscheinen, wie sie sind, und als solche ist sie ein Ort der Entzauberung. Im künstlerischen Ereignis, im Werk und im Erleben des Werkes werden die Sachen aufgerufen, das zu sein, was sie eigentlich sind.

Das drückt sich in Steiners Denken als zwei Quellen der künstlerischen Fantasie aus: die eine in der Begegnung mit der Natur und die andere in der Gestaltung aus der eigenen Seele. Beide Impulse befinden sich in jedem Kunstwerk, auch wenn mal diese, mal die andere überwiegt. Wie im keltischen Knoten finden wir in den Künsten Natur und Seele als zwei ineinander verflochtene, quellende Ströme.

Schaue ich in die umliegende Welt – wir können diese im obigen Sinn als ‹Natur› bezeichnen –, dann öffnet sie sich für den künstlerischen Sinn als von sich selbst verschieden. Überall quillt aus der Natur nicht das, was die Natur ist, sondern was sie sein kann. Die Natur ist voller Bedingungen, alles erscheint uns als von einer größeren Notwendigkeit bestimmt und begrenzt. Ob es ein Baum ist, dessen Wachstum durch die eigene Stofflichkeit oder die Bodenbedingungen begrenzt wird, oder eine Seele, deren Ausdruck durch die Grenzen des Leibs zurückgehalten wird, alles, so Rudolf Steiner, erscheint von einer höheren Macht unterdrückt. Nichts in der Natur kann sich ganz ausleben. Als Natur sind Leib und Welt verzaubert. Aber, bewusst oder nicht, ruft die Natur in der schöpferischen Seele das Bedürfnis hervor, sie aus ihrer Bedingtheit zu befreien. Das, was in der Natur durch ein Höheres in Ketten gelegt wird, das ruft die Kunstschaffenden dazu auf, es zu entzaubern, sie ihr volles Potenzial in der Kunst entfalten zu lassen. Genau das ist eine der Quellen der künstlerischen Fantasie: Der Künstler oder die Künstlerin ist aufgerufen, durch die Wahrnehmung hindurch in die Erscheinung der Natur einzudringen, um deren Potenzial zu entfesseln und es in seinem/ihrem Werk zu steigern, ihm einen volleren Ausdruck zu verleihen.

Die andere Quelle der Fantasie liegt im Menschen, in den unbewuss­ten oder bewussten Visionen, die aus der Tiefe unseres Willens- und Gefühlslebens herauf an die Oberfläche des Bewusstseins streben. Da steigen Bilder auf, die man nicht mit Wirklichkeit verwechseln soll, Impulse, die ihren gesunden Platz in der Bildhaftigkeit des Kunstwerks haben. Die Qualität, Gesundheit und Wahrhaftigkeit dieser inspirierenden Visionen hängen von dem ab, der sie hervorbringt. Sie bilden den rein menschlichen Beitrag zur kosmischen Fantasie, das, was in die Kunst einfließen soll, aber nie aus der Natur heraus stammen kann.

So wie das Verborgene in der Natur, so auch das verborgene Wesen des Menschen, beide werden in Erscheinung gerufen, um bildhaft zu sich selbst zu finden. Das Steigern von dem, was im Menschen unbewusst ist, und von dem, was in der Natur unterdrückt wird, bis ins imageartige Dasein sind die Quellen des künstlerischen Werks, es ist eine Entzauberungsarbeit: «Die Kunst ist eine fortwährende Erlösung von geheimnisvollem Leben, das in der Natur selber nicht sein kann …» (17.2.1918). Es ist weder das Reale noch das Ideale, sondern das Mögliche, also das Werdende, das hervorgerufen wird in der Kunst.

Diese zentralen Gedanken werden frühzeitig (1909) vorbereitet durch den ‹Märchenvortrag›, ‹Das Wesen der Künste›. Hier versucht Rudolf Steiner auf den Ursprung der unterschiedlichen künstlerischen Qualitäten, das Tänzerische, das Musikalische, das Architektonische und so weiter, in der geistigen Wirklichkeit der leiblichen Sinne hinzuweisen. Er stellt uns die Sinne als verzauberte Hierarchie von Wesen vor und die künstlerische Handlung als ihre Erlösung durch den aufwachenden menschlichen Geist. Lauscht man in diese bildhafte Gedankenentfaltung, dann wird es plötzlich klar, warum ein großer Menschheitslehrer, wie Rudolf Steiner es ist, so viel von seiner Kraft und Zeit in die Künste investierte. Immer wieder, bis zum letzten Vortrag in diesem Band, weist er in unterschiedlicher Form auf dieselbe Wirklichkeit der künstlerischen Erfahrung hin: «So ist es auch hier eine Befreiung von der Notwendigkeit, eine Befreiung von dem, was der Mensch dann ist, wenn sein Geistiges und Seelisches halt machen in den Golfen der Sinnessphäre.»

Vom Philosophischen bis in die Psychologie der Künste im letzten Vortrag dieses Bandes lässt sich diese Sammlung, in richtiger Weise gelesen, als eine Ergänzung der ‹Philosophie der Freiheit› erleben. Es ruft eine Art ‹Ästhetik der Befreiung› hervor, die nichts mit der pathetischen ‹kreativen Freiheit› zu tun hat, sondern der Beginn einer Kunst ist, die entzaubernd, magisch sich mit der Welt verbindet. Werden wir fähig, diese Gedanken zu verinnerlichen, sie so weit zu entwickeln, bis sie mit Gefühlen geladen sind und tief in den Willen heruntersteigen, dann schenken wir ihnen die Fähigkeit, einer neuen zukunftsorientierten Kunstpraxis als Grund zu dienen.


Dieser Text von Zvi Szir ist das Vorwort der erstmaligen englischen Übersetzung und Herausgabe von Rudolf Steiners Zyklus ‹Kunst und Kunsterkenntnis. Grundlagen einer neuen Ästhetik› im Jahr 2021 durch Rudolf Steiner Books, USA. Bei diesem Zyklus handelt es sich um ein Autoreferat aus dem Jahr 1888, vier Aufsätze von 1890, 1891 und 1898 und acht zwischen 1909 und 1921 gehaltene Vorträge. (GA 271)

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