Unter der Maxime, dass jeder Mensch einzigartig ist und einen unversehrten Wesenskern hat, legt der Autor seine jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit autistischen Mitmenschen dar.
Das Büchlein beginnt mit dem anthroposophischen Menschenbild und geht die Stationen der Betroffenen durch: Phänomenbeschreibung mit charakteristischen Merkmalen, Leben in zwei Welten, das Umkehrphänomen, Zwanghaftigkeit und Passivität. Dann gibt der Autor konkrete Anregungen im Umgang mit Autismus und schließt mit den zivilisatorischen Einflüssen. Das gesamte Buch ist mit erfrischenden Beispielen aus reichhaltigen, persönlichen Begegnungen mit den verschiedensten Altersgruppen durchsetzt. Besonderes Augenmerk wird auf die Schwierigkeit gelegt, dass Menschen mit Autismus ihre Gefühle möglicherweise nicht angemessen ausdrücken können oder gar verstehen, was zu Frustrationen führen kann. Sie können sich isoliert fühlen oder missverstanden, da sie eine andere Art des sozialen Umgangs haben. Besonders interessant ist, dass bei Menschen mit Autismus das sensorisch-motorische System mehr oder weniger auseinanderfällt. Einerseits sind sie gefangen im Nervensystem, andererseits sind sie außerhalb ihres lebendigen Leibes. Das ist die Grundlage für das Umkehrphänomen ihres Verhaltens. Jos Meereboer geht ausführlich darauf ein. Zum Beispiel versucht «ein junger Mann mit Autismus […] die im Herbst heruntergefallenen Blätter der Bäume wieder an die Zweige zu bringen.»
Die seelische Verfassung von Menschen mit Autismus ist unterschiedlich. Sie haben oft eine andere Art, Informationen zu verarbeiten. Einige Betroffene scheinen sich stabil und wohl zu fühlen, andere haben zu kämpfen mit zwischenmenschlichen Herausforderungen (soziale Interaktion, Kommunikation und sensorische Empfindlichkeit). Menschen mit schwerem Autismus nehmen zwar die Umgebung wahr, sitzen aber mitunter teilnahmslos im Geschehen. Sie leben mehr oder weniger in zwei Welten. Sie setzen das innere Ordnungsschaffen aus sich heraus und bilden es äußerlich ab. Menschen mit schwerem Autismus haben keinen direkten Zugriff auf ihr Willensleben, sie brauchen es, dass der Willensimpuls von außen kommt. Um sich äußern zu können, bedürfen sie der ‹gestützten Kommunikation›. Dann fühlen sie sich wohl. Selbst können sie sich nicht willentlich und emotional einbringen. Sie können dem, was in ihnen lebt, keinen Ausdruck verleihen oder sich von etwas distanzieren und sind daher auf Hilfe und Verständnis angewiesen. Bei leichten Varianten übernimmt der oder die Betroffene im Erwachsenenalter nicht selten sinnvolle Aufgaben. Zum Beispiel hat eine Professorin mit Autismus in Amerika eine ‹Drückmaschine› erfunden, in die sie sich setzt, um sich drücken zu lassen, sich selber zu empfinden, damit es weitergehen kann. Für Mitmenschen, die autistisch veranlagt sind, ist die Umgebung, in der sie leben, und deren Verständnis ausschlaggebend, dann können sie einigermaßen oder ganz mit uns zusammenleben und empfinden.
Das Buch ermöglicht bereichernde Einblicke in anderes Sein, auch durch die Hinweise für den eigenen Umgang mit seinen Mitmenschen, autistisch oder nicht, die jede und jeder bei sich entwickeln möge.
Buch Jos Meereboer, Leben mit Autismus. Eine besondere Art des Daseins. Warum Menschen mit Autismus anders denken und wahrnehmen und sie mehr oder weniger nicht wollen können. Verlag am Goetheanum, Dornach 2023.