Mein Sohn ist dreieinhalb Jahre alt und ein toller Reisegefährte. Er eröffnet mir durch seine Unmittelbarkeit und ‹Vorstellungsfreiheit› eine wunderbare Möglichkeit, im Moment aufzugehen.
Die Wahl fiel auf Frankreich, erst Chartres und dann Bretagne. Im Nachhinein wirken die zwei Tage in Chartres auf mich wie eine Rückkehr ins Mittelalter. Entlang der Eure stehen die alten Waschhäuser und Gerbereien und ein uraltes Atelier für Glaskunst. Zwischen den alten Häusern und gewundenen Straßen kann ich mir gut vorstellen, welch betriebsame Stimmung einst dort geherrscht haben muss. Wir kommen das erste Mal seitlich auf die Südfassade der Kathedrale zu und mein Sohn hüpft vor mir die Stufen hoch und ruft gleich: «Mama, ich hab’ den König gefunden!» Er deutet auf den Christus, der da als Menschheitslehrer über ihm steht. Wie überwältigend ist auch der Eindruck, den man von diesem Ort erhält. Das Überwältigende ist immer etwas zwiespältig. Einerseits die Schönheit jedes Details, die unfassbare Kunst der Fassaden, der Fenster, der Kunstwerke im Innern und des Baus – eine Hymne an die Geistigkeit der Welt. Andererseits steht hier eine Architektur der Größe und Macht, die ausstrahlen will. Beide Wahrnehmungen wirken auf mich. Meinen Sohn faszinieren eher die Kerzen, die vereinzelten Priester, die Stille im Allerheiligsten, die Geschichten, die aus der Bibel in all den bunten und steinernen Bildern erzählt werden, und wir gehen ihnen langsam und spontan nach. Einmal ertönt mit unglaublicher Kraft die riesige Orgel und weil das so stark ist, können wir uns nur hinsetzen, bis sie ausgeklungen ist.
Dann geht die Reise weiter mit dem Zug und schließlich schaukeln wir hinüber auf die Insel Belle-Île-en-Mer an der Küste Morbihans. Von allen Seiten klingt ein Stück keltische und noch ältere Vergangenheit nach. So sind die Namen der Orte Kervilahouen, Mérézel, Goélan oder Bordenec’h. Mir scheint, wir sind auf Zeitreisen immer weiter zurückgegangen; von der mittelalterlichen Blüte Chartres durch die von Artus- und Merlin-Sagen umwobene grüne Bretagne, heraus auf die Insel, die geheimnisvolle Grotten, Menhire und Dolmengräber aus der Jungsteinzeit trägt, bis hierher: zum Blick auf das allerälteste und alterslose Meer. Nichts nimmt uns vom Morgen bis zum Abend so ein wie diese Endlosigkeit der Zeit und des Lebens. Die scharfen Felsen am Strand tragen nicht nur Wasserspuren. Man kann an ihnen den Bewegungsstrom des Wassers sehen; sie scheinen wie still stehendes Wasser, geronnene Zeit selbst. Und wir buddeln und graben und setzen irgendetwas Kleines, Liebliches, Menschliches vor diese Ewigkeit, und wir wundern uns nicht mehr, wenn es am nächsten Tag verschwunden ist und wir von vorn beginnen dürfen.
Bild: Sonnenuntergang in der Bucht am Plage du Donnant auf Belle-île-en-mer (Bretagne), Foto: Franka Henn
Liebe Frau Henn, vielen Dank für Ihren einfühlsamen Reisebericht !
Ich habe mir erlaubt, ihn auf Französisch zu übersetzen.
https://anne-et-rudolf.over-blog.com/2021/09/le-plus-ancien-hors-d-age.html
Herzliche Grüße
Rudolf Tille
Sehr geehrter Herr Tille,
Das ist für mich ok. Bitte, fügen Sie aber meinen Namen als Autorin hinzu und auch die Ergänzung unter dem Text sollte heißen:
Source (en allemand): ..Link..
Mit freundlichen Grüßen, Franka Henn