Child Art

Kleine Menschen – großes Wirken

Eine Ausstellung frühkindlicher Malerei gewährt Einblicke in die universelle Bildsprache und Entwicklung des Kindes in den ersten sieben Lebensjahren. Zu sehen sind ausdrucksstarke Kinderzeichnungen aus aller Welt bis zum 25. Juni in der Heichelheimer Mühle bei Weimar.


Es gibt wohl kein Kind auf der Welt, das nicht malt. Manche tun es weniger, andere mehr. Meine Tochter war in ihrer Kindergartenzeit eine von der Sorte, die morgens aufstand und erst mal ein Bild malte. Manchmal entstanden da noch im Morgengrauen Bilder, die mich umwarfen. Bilder einer ungeheuren Kraft. Ihre intuitive Formensprache, die Harmonie der Farben und die Botschaft ihres Herzens. Meine Tochter hat exzessiv gemalt, hingebungsvoll, oftmals auch in Serie. Einige Bilder habe ich noch immer genau vor Augen. Eines ihrer schönsten Werke, sie war etwa vier Jahre alt, steht heute noch auf dem Klavier ihrer Oma: zwei strahlende Sonnen nebeneinander in einem Geflecht aus Symmetrieachsen, dazwischen ein zartes Bäumchen, eine Birke vielleicht, gezeichnet auf tiefrotem Aquarellpapier und geziert von einem poetischen Schnipsel goldenen Geschenkbandes. Was hat es auf sich, mit diesen zwei Sonnen, die da so rätselhaft nebeneinanderstehen? Diese Frage hat mich lange Zeit umgeben. Norbert Carstens hat in seiner Ausstellung kindlicher Malerei das Geheimnis dieses Bildes gelüftet.

Als junger Mensch hat sich Norbert Carstens auf die Spur gemacht, den Zauber der Kinderzeichnungen zu ergründen. Konnte es sein, dass sich hinter den Bildern der frühen Kindheit eine gemeinsame Entwicklungsdynamik verbirgt. Diese Frage hat ihn auf die Reise geschickt. Über 40 Jahre hat er die Gemeinsamkeiten der Kinderzeichnungen in aller Welt erforscht und ihre universellen Elemente studiert. Dabei hat der Kunstpädagoge und Eurythmist aus Bochum etliche Zeichnungen gesammelt, in Kinderstuben und Einrichtungen. Einige Bilder stammen aus therapeutischen Kontexten, auch ganze Nachlässe wurden ihm übergeben. Norbert Carstens hat intensiv an der Malerei der Kinder geforscht, in der modernen Kunstwelt als auch im weiteren Forschungszusammenhang, in Studien, die bis zur Untersuchung von Schmierspuren mit Babynahrung gehen.

Die Ausstellung ‹Child Art› macht Kinderzeichnungen aus den vergangenen 100 Jahren zugänglich und zeigt neben den Exponaten auch methodologische Gedanken und Beobachtungen von Künstlern wie Paul Klee, Wassily Kandinsky, Erich Kästner, Arno Stern, Antoine de Saint-Exupéry. Gemeinsam ist diesen Persönlichkeiten die tiefe Verneigung vor dem Wunder der Kinderzeichnungen, die jeder Bewertung oder gar Eingriffen widerstrebt. «Es gibt […] Uranfänge von Kunst, wie man sie eher in ethnografischen Studien findet, oder daheim in der Kinderstube. Lache nicht, Leser! Die Kinder können es auch und es steht Weisheit darin, dass sie es können! Je hilfloser sie sind, desto lehrreichere Kunst bieten sie uns, und man muss sie schon früh vor einer Korruption bewahren.» (Paul Klee) Einige Bilder der Ausstellung entstammen einer Zeit, in der Kinderzeichnungen noch als ‹visuelle Umweltverschmutzung› galten. Der gesamtgesellschaftliche Zuwachs an Wertschätzung kindlicher Malerei ist Frucht der Arbeit von Paul Klee und Wassily Kandinsky. Als Dozenten und Künstler des Weimarer Bauhauses haben sie sich intensiv mit der Ausdruckskraft kindlicher Gestaltungsprozesse befasst und diese in Form von Ausstellungen für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Freies Malen

Die ‹Child Art›-Ausstellung möchte kindliche Malerei im Geiste des Bauhauses noch einmal ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen. Denn auch noch 100 Jahre später, in unserer Gegenwart, bleibt kindliche Handlungsfreiheit gefährdet. Frühförderung, Kognitivismus und Vorstellungen der Erwachsenenwelt werden schon an die Kleinsten herangetragen: Ausmalhefte. Malanleitungen. Der Elefant ist grau. Wirklich? Nein. Im Zeichenprozess des Kindes möge er alles sein.

Kinder brauchen das freie Malen so sehr wie das freie Spiel. Auch Malen ist Spiel. Norbert Carstens möchte, dass man die Kinder machen lässt. In der Achtung der natürlichen Entwicklung und freien Entfaltung der Gestaltungskräfte besteht das zentrale Motiv seiner Ausstellung. Alle Exponate stammen aus freien Entstehungssituationen.

Die Anordnung der Ausstellung stellt auf eindrucksvolle Weise den Entwicklungsprozess des kindlichen Malens nach. Der Beginn des gegenstandsfreien Zeichnens des Kleinkinds, durch kreisende Wirbelbewegungen, zur Spirale, später zum Kreis und zum Kopffüßler. Und schließlich mit etwa sechs Jahren die Darstellung des Menschen im Haus. Sinnbildlich taucht das Motiv des Hauses genau in dem Alter auf, wo das Kind allmählich mit der Ausgestaltung seines Lebensleibes zur Reife kommt. Norbert Carstens erklärt: «Natur braucht man nicht beibringen. Jedes Bild ist das Original des Prozesses, der seine Spur hinterlässt.» Persönliche und körperliche Entwicklungen des Kindes werden in seinem individuellen und zugleich universellen Malprozess sichtbar.

Die Besuchenden können Malentwicklung mitvollziehen: wie Kinder mit geraden und krummen Elementen beginnen und sich über die ersten Lebensjahre die Grundformen von Quadrat, Dreieck und Kreis erobern. Sie ermalen sich damit ganz selbstgesteuert die Bausteine, aus denen unsere Welt besteht. Es zeigt sich abermals: Die Kinder tragen die Weisheit in sich. Die Größenwelt sei in den Unterschieden des Geradlinigen und Krummlinigen beschlossen. Das konstatierte Johannes Kepler schon vor 500 Jahren. Kinder ahnen davon nichts, dennoch offenbart sich dieses Gesetz in ihren Zeichnungen.

Intuitive Wahrheit

Was spricht sich noch aus in den Bildern der Kindheit? Intuitive Wahrheit und tiefe Weisheit und sicher auch Unvermitteltheit. Ein unverstellter Blick in die Kindesseele. Kinderzeichnungen haben eine intuitive Ästhetik, eine Ursprünglichkeit, zu der sich der Künstler Paul Klee am Ende seines Wirkens zurücksehnte. Und dieses Sehnen wird verständlich, vor dem Hintergrund vieler Exponate der ‹Child Art›-Ausstellung, die schlichtweg große Kunstwerke sind, von kleinen Menschen. Ein waches Auge wird Kunstwerke in allen Kinderzimmern finden. So wie das Bild meiner Tochter der zwei Sonnen. Und sein Geheimnis? Norbert Carstens erklärt: Mit etwa drei bis vier Jahren stellen die Kinder in der Welt ihrer Zeichnungen zwei Sonnen nebeneinander. Wenn wir die Malentwicklung weiterverfolgen, können wir darin etwas finden, das vom vorgeburtlichen Sein der Menschenseelen kündet. Während die eine Sonne hoch am Himmel bleiben wird, macht sich die andere auf den Weg nach unten, auf die Erde. Dort wird sie zum Kopffüßler, zum Erdenkind. In Darstellungen von Doppelsonnen flüstern die Kinder ihr Geheimnis von der Reise durch die Himmelswelt zum Erdenleben hin.

Wer die Ausstellung in der Mühle nahe Weimar besucht, wird Kinderzeichnungen ganz sicher mit neuem Bewusstsein sehen. Und auch der Ort selbst ist einen Besuch wert. Ein Ort für Kindheitsromantiker. Da ziehen die Hühner und Ziegen durch den Garten. Die Kinder spielen. Und auf dem Dach ruft der Pfau zur Ausstellung. Es ist ein junger Ort von ländlicher Idylle, wo alles im Werden ist. Die Mühle ist Sitz der Initiative SINNsorium. In Verknüpfung mit anderen Projekten und Organisationen (darunter auch das World Child Forum – das ‹Goetheanum› berichtete) soll hier im Kleinen das Gesicht der Welt sinnstiftend verändert werden. Das SINNsorium versteht sich als Möglichkeitsraum, als Ort für Entwicklung, für die Kinder, die Zukunft und für das Lebendige. Das Wirken dort ist getragen von der Haltung: «Wir müssen den Raum halten für die Kinder. Aber eigentlich bedürfen wir viel mehr ihrer Hilfe.» (Bernhard Hanel, Gründer des World Child Forum)

Die Goethe-Stadt Weimar blüht im Frühling und lädt nun mit ihrer Spannung von Klassik, Bauhaus und Gedenkstätten des Nationalsozialismus ihre Gäste auf die Höhen des Ettersberg ein, zur ‹Child Art›-Ausstellung. Der Ausstellungsort liegt wenige Minuten von der Gedenkstätte Buchenwald entfernt. Im Herbst wird die Ausstellung weiter nach Bochum, vorher noch zum World Child Forum nach Davos, ziehen.


Mehr SINNsorium, Child Art

Bilder aus der Ausstellung

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