Kindern gesunde Entwicklung ermöglichen, ist das Herzensanliegen von Michaela Glöckler. Angesichts der Omnipräsenz digitaler Medien eine Herausforderung. Die anthroposophische Ärztin gibt in ihrer neuesten Publikation Anregungen, wie es dennoch gelingen kann.
2,2 Millionen Kinder in Deutschland zeigen ein problematisches Nutzungsverhalten an digitalen Geräten. Michaela Glöckler sieht diese Kinder in ihrer Entwicklung massiv behindert. Sie bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die jüngsten Ergebnisse der Hirnforschung zeigen: Digitale Medien fördern nichts, das die Beziehung vom Kind zur Umwelt stärken könnte. Nun wäre es an der Zeit, nach diesen Erkenntnissen zu handeln. Durch Langzeitstudien über 16 Jahre sollten die Folgen digitaler Erziehung erforscht werden. Die Politik müsse regulierend eingreifen, fordert die Autorin. In manchen Ländern ist dies bereits probeweise geschehen. In Schweden gar hat die Regierung die Digitalisierung in Kindergärten gänzlich zurückgenommen.
Michela Glöckler hat einen weltumspannenden Blick. Gleichzeitig schaut sie aber auch ins Kinderzimmer und hat ein genaues Verständnis kindlicher Entwicklung und der damit verbundenen Aufgaben. Ihr gelingt damit etwas, was die Politik allzu oft vermissen lässt: Das Kleine und das Große miteinander zu verbinden. Ihre Kernaussage lautet: Bildschirmfrei bis zum 16. Lebensjahr. Denn erst dann ist die Hirnentwicklung so weit fortgeschritten, dass keine irreversiblen Schäden durch Medienkonsum entstehen können. Bis dahin gilt: Je aktiver und vielseitiger sich das Kind betätigt, umso differenzierter und kompetenter entwickelt sich sein Nervensystem. Das Erleben von Eigenaktivität und Selbstwirksamkeit trägt zur geistigen Entwicklung bei und auch soziales Handeln und individuelles Urteilen müssen gelernt werden. Das kann nur zwischen Menschen geschehen, Maschinen können dergleichen nicht leisten. Diese Einsicht jedoch ist kein gesellschaftlicher Konsens und insofern Teil des Dilemmas. Im hinteren Teil des Buchs sind Meilensteine kindlicher Entwicklung aufgeführt: Sie bieten gebündelt Orientierung, welche Prozesse und Aufgaben in den Kindheitsjahren anstehen. Daran wird nicht zuletzt deutlich, was Kindern entgehen kann, die große Teile ihrer Kindheit vor dem Bildschirm verbringen.
Neben wertvollen Anregungen für Eltern, Pädagogen und Pädagoginnen kommt auch der Verdruss der Autorin über Medienallmacht und Weltentwicklung zum Ausdruck. Die Katastrophen der letzten 100 Jahre sieht Michaela Glöckler in der Trennung von Wissen und Moral begründet. Ihr Abgesang auf den Materialismus.
Den Lesenden schenkt sie vor allem Anknüpfungspunkte, wie den Verweis auf den Heidelberger Philosophen und Psychiater Thomas Fuchs, der sich zeitaktuell gegen die dominierende Sichtweise wendet, dass alle sinnvollen Fragen mit wissenschaftlichen Methoden zu beantworten wären. Michaela Glöckler legt Spuren, bereitet Wege für andere. Im Sinne Hannah Arendts ruft sie auf, zum ‹Denken ohne Geländer›. Menschen dürfen sich der Anpassungskultur entgegenstellen. Die Autorin geht als Vorbild voran. Ihr Handeln spricht denen Mut zu, die kein Teil der gelenkten Masse zu sein gedenken. Dazu hat sie viele Vorschläge: Eltern und Kinder können sich in analogen Netzwerken verbinden. Sie bestärkt Eltern darin, aus Überzeugung auch unpopuläre medienpädagogische Entscheidungen zu treffen. Eine Ermutigung.
Je aktiver und vielseitiger sich das Kind betätigt, umso differenzierter und kompetenter entwickelt sich sein Nervensystem.
Aus ihren Worten spricht ein energischer Geist, der in eine zuversichtlichere Zukunft führen möchte. Der Stil Glöcklers hier ist emotionaler, als ihn Lesende etwa aus dem Ratgeber ‹Kindersprechstunde› kennen. Das verwundert nicht, da es sich bei der Publikation um die Abschrift eines Vortrages handelt, den sie im vergangenen Herbst hielt. Besonders schön: Einige Fragen aus dem Publikum sind am Ende abgedruckt und zeigen das Spektrum von Sorgen und Einwänden betroffener Eltern. Und Michaela Glöckler zeigt sich als souveräne Vortragende, die auf jede Frage mit Schläue und Herz zu antworten weiß. Energisch, versiert, am Puls der Zeit, unerschrocken: ein Weckruf. Mit diesem Büchlein kann viel Mut entfacht werden. Henrike Flex
Buch Michaela Glöckler, Gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im digitalen Zeitalter. Gesundheitspflege initiativ, Esslingen 2023.