Was ist heute aktuell an Beuys?
Wenn ich heute, ein Drittel Jahrhundert nach seinem Tod, so etwas wie ein Hauptwerk von Beuys benennen müsste, dann wäre es seine 100-tägige Aktion ‹Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung›, die er anlässlich der Documenta 5 in Kassel 1972 aufführte.
Er hatte diese Grassroots-Organisation, mit der er die Dominanz der etablierten politischen Parteien infrage stellte, ein Jahr zuvor gegründet und dafür in der Altstadt von Düsseldorf ein kleines Büro eingerichtet. Für die gesamte Dauer der Ausstellung, dem ‹Museum der 100 Tage›, verlegte er das Büro nach Kassel. Jeden Tag während der Öffnungszeiten von 10 bis 20 Uhr war er persönlich anwesend.
Er diskutierte mit den Besucherinnen und Besuchern über seine Vorstellungen von Kunst und Politik, seine Referenzen in der Literatur, Philosophie und Geschichte, die Fragen des Zugangs zur Bildung, des Lohns für Hausfrauen, des Terrorismus, die Französische Revolution, Rudolf Steiner, die Tagespolitik, die Situation von sogenannten Gastarbeitern und der Spannung zwischen Ost und West. Die Aufzeichnungen lesen sich wie sokratische Dialoge und zeigen, dass Beuys im Streitgespräch in seinem Element war. Er verteilte Drucksachen. Er signierte die von ihm als Multiple herausgegebene Plastiktüte. Er nutzte die im Raum verteilten Wandtafeln, um die Diskussion und seine Ideen festzuhalten. Beuys stellte keine fertigen Objekte aus, sondern den Prozess dessen, was er als «soziale Skulptur» bezeichnete.
War dies nun Politik oder Kunst? Dass es auf diese Frage keine eindeutige Antwort gibt, ist einer der Gründe für die anhaltende Resonanz seiner Aktion. Anders als heute, wo Kunst und Politik getrennte Bereiche sind und Kunst allenfalls von Politik handelt oder Formen politischer Praxis, Sozialarbeit oder partizipatorischer Verfahren annimmt, waren Anfang der 1970er-Jahre die Grenzen zwischen Kunst und Politik vorübergehend offen. Es entstand, im Sog der 1968er- Bewegung, für kurze Zeit eine Art Machtvakuum, innerhalb dessen die Karten neu gemischt wurden, bevor Ende der 1970er-Jahre die Machtverhältnisse wieder geordnet waren.
Beuys begriff, welche Chance diese historische Konstellation bot. Er nutzte die symbolische Hebelwirkung der Kunst. Das Echo auf seine Aktionen und Verlautbarungen war denn auch groß. Heute wäre es unvorstellbar, dass, wie er es damals erreichte, ein Parteivorsitzender postwendend und gereizt auf einen offenen Brief eines bildenden Künstlers reagiert. Die Aktualität von Beuys liegt weniger darin, dass er aktuelle Formen der Social Art vorweggenommen hätte. Sie rührt vielmehr daher, dass er der heutigen Kunst einen Spiegel vorhält, der zeigt, was Kunst auch sein könnte.
Auszug aus: ‹Die Präsenz von Beuys›, in ‹Das Magazin›, Zürich 09, 2021 vom 6. März 2021.