Beten

Wir beten bei Gefahr, weil das Gebet eine gefährdete Sprache ist. Eine Sprache kurz vor ihrer Löschung. Die unvorsichtig sichtbaren Worte, die lauten Buchstaben, alle gelöscht. Die, die bleiben, versammeln sich geschwächt zu einem Anruf, der der Letzte sein könnte und somit der Letzte ist.

Wenn wir beten, sind wir in Gefahr: Wir beten im Unglück, um von der Unglücklichkeit nicht vernichtet zu werden. Wir beten in Hoffnung, damit die Hoffnung uns nicht verschlingt. Wir beten in Not, dass sie uns nicht trifft. Wir beten die Bitte, weil sie Abgrund ist. Wir beten für du und euch, wenn die Entfernung ihren Rachen öffnet. Wir beten bei Nacht, um vom Tag verschont zu bleiben.

Wenn wir beten, sind wir in der gefährlichsten Sprache. Jedes Wort, jeder Buchstabe ist ans Äußerste gegangen. Sie sind weiter gegangen als an den Rand, sie haben unsere Zäune überwunden: Sie sind im Innersten, wo sie nichts mehr zu verlieren haben, als uns, die Betenden.


Bilder in dieser Ausgabe Miriam Wahl, ‹Was Goldmarie sich hinter die Ohren schrieb›, Gouache und Acryl auf Papier, 2023

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