Beistand und Analyse

Versuch, den Ukraine-Konflikt anthroposophisch zu lesen

Angesichts des mutigen Abwehrkampfes gegen die Invasion der russischen Armee fliegen der ukrainischen Seite die Herzen zu. Durch viele Länder – auch durch die anthroposophische Szene – geht eine Welle der Solidarität.


Selten in der Geschichte war so klar, wer Täter und Opfer sind. Nur vereinzelt sind Stimmen zu hören, die das Bild nicht so eindeutig finden. Darunter manche, die seit Langem offen oder unterschwellig mit der autoritären Putin-Herrschaft sympathisieren, also im Grunde politisch Rechte. Außerdem Stimmen, die Putins Überfall verurteilen, aber trotzdem meinen, dass auch der Westen eine Mitverantwortung für die entsetzliche Entwicklung trägt, insbesondere dadurch, dass die NATO die Schwäche Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einer Ausdehnung ihres Gebietes nutzte, die aus Sicht der russischen Regierung kaum akzeptabel war.

Im anthroposophischen Kontext wird die Meinungsbildung noch aus einer tieferen Schicht beeinflusst: aus dem Gedanken, dass es menschheitlich wichtig wäre, dass Mitteleuropa und der europäische Osten in eine gute Verbindung kommen, in der Russland eine tragende Rolle zufallen würde; schon Rudolf Steiner hat dies in vielen Variationen erläutert.1 In diesem Lichte muss die jetzige Konfrontation zwischen einer scharf ‹westlich› definierten Ukraine und einem isolierten, politisch quasi abgeschriebenen Russland als tragischer Riss erscheinen.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die anthroposophische Szene, einmal mehr, vielstimmig erscheint. Da ist jene Ukraine-Sympathie, die dergleichen Reflexionen wenig Gewicht zu geben scheint. Da sind, entgegengesetzt, gleichsam die Spezialisten des Hintergrunds, aus deren Sicht nur das Erwartbare geschieht und die Putin nur eine Rolle in einem Drehbuch zuschreiben, das irgendwo im Westen geschrieben wurde, um eben jenen Riss zu vertiefen. Und schließlich sind da – wohl die Mehrheit – all jene, die fassungslos den russischen Angriff verfolgen und das Leid der Menschen sehen und die trotzdem ein Unbehagen empfinden, wenn erneut die Welt in Gut und Böse eingeteilt scheint. In diesem Schwarz-Weiß fehlten die Grautöne, sagen manche.

Versucht man, die Dinge ein wenig zu sortieren, ist zunächst festzuhalten: Bei dem, was sich seit dem 24. Februar vor aller Augen abspielt, gibt es nicht viele Grautöne. Hier hat die eine Seite riesige Armeen an den Grenzen zum Nachbarn versammelt und hat dann von mehreren Seiten angegriffen. Eindeutiger geht es nicht. Trotzdem bleibt die Frage, wie es dazu ‹kam›. Welche politischen Voraussetzungen haben zu dieser Eskalation geführt? Diese Frage ist – während die russische Armee Städte bombardiert, Menschen sterben und Millionen fliehen – nicht leicht zu besprechen. Dennoch würde es, selbst bei einer russischen Niederlage oder einem erzwungenen Rückzug, keine dauerhafte Befriedung geben, wenn nicht das ganze Bild gesehen wird. Zu diesem Bild gehört die erwähnte Ausdehnung des NATO-Gebietes. Die Ostgrenze der NATO, die über Jahrzehnte durch Deutschland verlief, ist heute kurz vor St. Petersburg. In der Gesamtbilanz der letzten drei Jahrzehnte hat nicht Russland expandiert, sondern die NATO. Das westliche Argument, dies entspreche dem Wunsch der betreffenden Bevölkerungen, vom Baltikum bis Rumänien, könnte man respektieren, würden solche Wünsche und Bestrebungen nicht anderenorts so rücksichtslos missachtet; teilweise durch eigene militärische Interventionen (vom Vietnam- bis zum Irakkrieg), teilweise mit subtileren wirtschaftlichen Mitteln (über Jahrzehnte in Südamerika). Berechtigte Ideale werden, man muss es so kalt sagen, nach Bedarf instrumentalisiert.

Bild: Ulyanoskaya Oblast; Foto: Lixa px

Nichts davon entschuldigt Putins Angriffskrieg. Das ist eben die Herausforderung, vor der alle stehen, besonders diejenigen, die nicht im Betroffenheitsmodus stehen bleiben, sondern ihrem Erkenntnisanspruch gerecht werden wollen: Es ist beides zu leisten; zum einen Stellung zu beziehen, den Opfern des russischen Angriffs zu helfen; zum anderen einen klaren Blick zu behalten und jener Verengung der Sichtweisen zu widersprechen, die jetzt die Kommentarspalten kennzeichnet. Allenthalben wird etwa darauf verwiesen, man habe nur Putins Rhetorik der letzten Jahre ernst nehmen müssen, um zu wissen, was droht. Tatsächlich hatte Putin immer schärfer politisch rechte, großrussisch-imperiale Vordenker wie Iwan Iljin zitiert. Aber hatte er nicht 2005 noch Kant zitiert, den Menschheitsdenker, und von friedlicher Verständigung gesprochen? War das nur ein Trick des KGB-Mannes, der – wie jetzt suggeriert wird – vom Mutterleib an böse war und nie etwas anderes im Schilde führte als diesen Krieg?

Schwer zu sagen. Sicher ist, dass die naheliegende Option, den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten den Zugang zur EU zu öffnen, sie aber nicht ins westliche Militärbündnis einzugliedern, nie ernsthaft angestrebt wurde. Dabei hätte dieses Modell – EU ohne NATO –, mit dem Schweden, Finnland und Österreich sehr gut leben, stabile europäische Perspektiven geöffnet. Es gibt kein Anrecht auf einen NATO-Beitritt, sondern es handelt sich hier um politische Entscheidungen, die einem Sinn für Ausgleich und für tragfähige Lösungen folgen können oder – wie es wirklich geschah – einer Logik der Dominanz. Letzteres wird auf der anderen Seite zwangsläufig als Demütigung erfahren werden, und es wird dort mit einiger Wahrscheinlichkeit politische Figuren nach oben bringen, die wenigstens eine Suggestion alter Stärke vermitteln; oder es wird – falls es bei einem Mann wie Putin Entwicklungsmöglichkeiten gegeben haben sollte – die übelste zur Ausprägung bringen. Damit hätte man den Aggressor selbst mit hervorgebracht.

Finstere Gedanken zweifellos. Aber falsche Gedanken, nur weil jetzt Europa mitten in dem furchtbaren Geschehen steht?

Wolfgang Müller; Foto: Jens Heisterkamp

Wiederum, es geht um beides: Beistand für die Ukraine, flankiert durch diplomatische Friedensarbeit; aber auch eine gewisse Nervenstärke beim Blick auf die Faktoren, die zu diesem Krieg führten. Damit wird man nicht nur Beifall finden. Anthroposophie fordert, wie Steiner mal sagte, «ein klares, sicheres Urteil über die Begebenheiten des Lebens, über die Verschlingungen der Tatsachen»2. Das heißt aber auch: Es reicht nicht, Steiners Hinweise zu kulturellen und weltpolitischen Konstellationen unreflektiert auf die Gegenwart zu übertragen. Und es reicht schon gar nicht, aus Steiners Voraussage, dem russischen «Kulturkeim» werde einst eine bedeutende Rolle in der Menschheitsentwicklung zukommen, eine diffuse Sympathie für alles Russische oder gar für den trostlosen heutigen Zustand des Landes abzuleiten. Gewiss lassen etwa die große russische Literatur und Musik und auch Züge des Alltagslebens ahnen, was dieser kulturelle Raum der Menschheit geben könnte, im weitesten Sinn den notwendigen Gegenpol zu den materialistischen Fixierungen des Westens. Diese tieferen Qualitäten aber werden nicht durch ein Gewaltregime wie das Putins verkörpert, sondern werden sich gegen solche politischen Formen durchsetzen müssen.

Ist vielleicht der anthroposophische Sehnsuchtsblick nach Russland eine Art Ausweichen vor dem, was hier zu leisten wäre? So als ob man, wie bis jetzt russisches Gas, irgendwann russischen Geist importieren könne.Vermutlich gilt auch hier, was Steiner in Bezug auf den ferneren, asiatischen Osten sagte: «Erst dann aber, wenn man […], aus europäischem und amerikanischem Geist zusammen, selber ein Geistiges in der Weltanschauung erzeugt, erst dann wird die Brücke auch zum Orient hinüber geschlagen werden.»3

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Footnotes

  1. Zum Beispiel: Rudolf Steiner, Mitteleuropa zwischen Ost und West (GA 174a). Vortrag 18. März 1916
  2. Ebd., S. 104
  3. R. Steiner, Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit (GA 83). Dornach 1981, S. 276
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