Baustelle Konstitution

Über dem Tor der Freien Hochschule steht: ‹Oh Mensch, erkenne dich selbst›, so eröffnete Gerald Häfner seinen Vortrag über das Konstitutionsproblem der Anthroposophischen Gesellschaft.


Täglich müsse man diese Forderung erfüllen, persönlich und als Gemeinschaft, denn es sind Gemeinschaften, aus denen sich Perspektiven ergeben. Anthroposophische Erkenntnis kann man allein bilden, doch sobald sie zur Anwendung kommen soll, wird daraus eine soziale Frage. Deshalb war, so Häfner, in den letzten sieben Jahren von Rudolf Steiners Leben die soziale Frage, die Frage, wie sich Erde und Himmel im gemeinschaftlichen Handeln verbinden lassen, für ihn bestimmend. Die erwähnte Selbsterkenntnis gelte jetzt zum Jubiläum den Versäumnissen und der Tragik am Gründungsmoment der Anthroposophischen Gesellschaft. Sie sei eine machtfreie Innovation, denn Mitgliedschaft und Vorstand seien nicht über- oder untergeordnet, sondern begegneten sich auf Augenhöhe. An die Stelle der Weisung trete das Gespräch, an die Stelle der Anordnung die Anregung. Gerald Häfner vermutet, dass man das nicht leicht erkennt, weil wir nicht gewohnt sind, machtfrei zu denken. «Freiheit muss doch vor allen Dingen derjenige haben, der die Funktion ausübt.» Wie könne er oder sie sonst der Aufgabe und dem Gewissen treu bleiben? Häfner: «Das setzt allseits ein ungeheures Maß an Achtsamkeit, an Einsicht, an wechselseitiger Erkenntnis und auch an Verantwortung und Vertrauen voraus.» Dann bat er die Zuhörenden zu bedenken, wie weit man selbst heute davon entfernt sei und in ein Kräftemessen zurückfalle. Er betonte am Beispiel der Corona-Krise, wie heute solch ein machtfreies Miteinander notwendig sei. Dialogische Freiheits- und Verantwortungskultur nannte er, was es hier zu üben gelte. Die Anthroposophische Gesellschaft könne hier der Übungsraum sein. Davon sei diese Gesellschaft angesichts von Unterstellungen und Lagerbildungen leider noch entfernt. Die Generalversammlungen hätten sich manchmal zur Arena der Auseinandersetzung entwickelt anstatt zu einem Ort der Zusammenarbeit. Dieser freien Konstitution stand die Konstruktion des Bauvereins als wirtschaftlicher Betreiber des Goetheanum gegenüber. Mit der Freien Hochschule als drittem Teil wünschte sich Rudolf Steiner ein organisch gegliedertes Ganzes. Häfner beschrieb die unglücklichen Umstände an der Jahresversammlung des Bauvereins am 8. Februar 1925, an denen Rudolf Steiner krankheitshalber nicht teilnehmen konnte und die zu einer Namensänderung des Bauvereins in ‹Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft› führten. Dadurch kamen strengere Statuten zum Tragen, als die von Rudolf Steiner an der Weihnachtstagung ausführlich behandelten. «Die Anthroposophische Gesellschaft braucht den ihr angemessenen Leib», so Häfner. Dafür arbeitet eine offene Arbeitsgruppe am Goetheanum, deren Ergebnisse in einen offenen Prozess münden, um diesen Leib zu schaffen.


Der Vortrag im Wortlaut auf Goetheanum.tv

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