Der Heilpädagoge und Gründer des Janusz-Korczak-Instituts Henning Köhler ist am 8. April dieses Jahres kurz vor seinem 70. Geburtstag gestorben.
Authentisch
Henning Köhler hatte seinen eigenen Kopf. Dies galt auch den etablierten anthroposophischen und waldorfpädagogischen Einrichtungen gegenüber. Er hatte Anhänger, aber auch Kritiker, die er mit seinen Vorträgen und Publikationen ‹nervte›, weil er immer wieder die Finger auf die gleiche Wunde legte: Wie hältst du es mit dem Kind und seiner Würde, mit deinem Glauben an sein individuelles Entwicklungspotenzial?
Henning Köhlers Herz schlug für die ‹Looser›, verlief doch seine eigene Biografie prekär, sozusagen am Rand. Er ließ keine Untiefe in seinem Leben aus und wusste, wovon er redete. Das machte ihn so authentisch und glaubwürdig, auch vor den Kindern und Jugendlichen, die in seine Praxis kamen, nicht wenige von Waldorfschulen.
Köhlers Widerständigkeit galt dem Establishment – zum Schutz des Kindes. Nicht nur in Statur und Aussehen, auch in Habitus und Diktion erinnerte er an einen Sachsen, der die Christianisierung nicht ablehnte, aber ihre Einführung mit Gewalt. Tatsächlich stammt seine Herkunftsfamilie aus Sachsen, die kurz vor dem Mauerbau ‹rübermachte› und in Karlsruhe eine neue Existenz aufbaute.
Henning Köhlers buchstäblich lebensrettende Wende kam nach einem langen Nachtgespräch mit einem Priester der Christengemeinschaft, der Aufnahme als Praktikant im Sonnenhof, einer heilpädagogischen Einrichtung in der Schweiz, und mit seiner Entscheidung, Heilpädagogik in Bad Boll zu studieren. Es folgten weitere wilde Jahre in und um den Achberger Kreis. In Brachenreuthe am Bodensee lernte er seinen großen Lehrer Hans Müller-Wiedemann kennen, doch sein Revoluzzer-Herz blieb ihm, der jegliche engen Verhältnisse nicht lange aushielt, immer erhalten. Er gründete sein eigenes Institut, die Heilpädagogisch-Therapeutische Ambulanz im Janusz-Korczak-Institut in Nürtingen, das bis zu 20 Mitarbeiter beschäftigte.
Henning Köhler war ein Kämpfer für das Kind – vor allem für das benachteiligte. Er deckte schonungslos den defektologischen Blick allzu bemühter pädagogischer, therapeutischer und medizinischer Helferlein auf. Der Michel aus Lönneberga, die personifizierte soziale Zumutung, wurde gar zu einem namensgebenden Titel einer seiner meistgelesenen Publikationen, in der er dem Mythos des aufmerksamkeitsgestörten Kindes und seiner Pathologisierung entgegentrat.
Henning Köhler dachte – und das ist selten – nie nur pädagogisch oder therapeutisch. Erziehungsfragen waren für ihn immer auch gesellschaftliche und politische Fragen. Ich erinnere mich, wie er Michael Winterhoffs ‹Warum unsere Kinder Tyrannen werden› und Bernhard Buebs ‹Lob der Disziplin› filetierte, ganz im Geist eines Erich Fromm und dessen Analyse des autoritären Charakters.
Eine Verinnerlichung fand durch die ‹Intuitive Pädagogik› von Pär Ahlbom und die Aufmerksamkeitsschule von Georg Kühlewind statt, die nicht zuletzt in seinem kürzlich erschienenen Beitrag ‹Der Mensch als Virusträger und als Ichträger› eine Art christliche Vertiefung findet. Einige Tage vor seinem Tod schickte er mir zu Ostern ein langes Manuskript mit dem Titel ‹Mit Kindern Leben gestalten in der Corona-Krise›, in dem er den Eltern zurief, sich weiterhin als «Handelnde [zu] erleben; als Gestalter*innen ihres Lebens und des Lebens der Kinder». Was allein heilsam wirke, seien «soziale Wärme und soziale Schönheit».
In seiner letzten Kolumne für die Zeitschrift ‹Erziehungskunst› rief er zu gemeinsamen Ostermärschen mit der Fridays-for-Future-Bewegung gegen Aufrüstung und Atomwaffen auf. Er meinte, dass Waldorfschulen sich aus der Parteipolitik heraushalten sollten, aber nicht aus zentralen ethischen, humanitären Fragen. Und er schrieb weiter: «Wenn der Bund der Freien Waldorfschulen nächstes Jahr zur Teilnahme an den Ostermärschen aufrufen würde, wären mit Sicherheit viele Oberstufenschüler begeistert dabei. Eltern und Lehrer hoffentlich auch.» Nun ist Henning Köhler auf seinen geistigen Ostermarsch gegangen.
Mathias Maurer
«Es könnte einen ethischen Minimalkonsens geben, eine Verständigungsebene inmitten der babylonischen Sprachverwirrung unserer Zeit, über alles ideologische Gezänk, alle religiösen und weltanschaulichen Grenzen hinweg: Liebe zu Kindern. Völliger Verzicht auf Gewalt gegenüber Kindern. Sozialgestaltung nach Maßgabe des Kindeswohls. Das ist der Schlüssel. Die Ethik unter dem bethlehemischen Stern ist christlich im tiefsten Sinn und gerade deshalb überkonfessionell. Wer von Christus nichts hören will, dem kann man auch sagen: Schau ein Kind an, schau es wirklich an, und du begegnest dem Wunder, dass in dir die Möglichkeit zur selbstlosen Liebe schlummert.»
Henning Köhler 1951–2021
Bild: Henning Köhler, Foto: Dietmar Derrez
Wir brauchen Orte der sozialen Wärme
Gedanken zum Schwellenübertritt von Henning Köhler (21.5.1951–8.4.2021).
Was für ein Engagement in seinem fast 70-jährigen Leben! Weitherum bekannt als Buchautor, Kolumnenschreiber, Vortragsredner, Berater und Heilpädagoge. Mit einem feurigen Einsatz für ‹schwierige Kinder› (die es für ihn nicht gab!), für Kindernöte, Elternsorgen und deren Schuldgefühle1. Henning Köhler wollte Mut machen, auch Kinder, die in kein System passten, zu respektieren in ihrem Anderssein. Er hat sich fundiert mit der Ritalinfrage befasst und mit der Frage, welche Alternativen es zur medikamentösen Behandlung gibt.
Dies nur ein paar Kernanliegen aus seinem jahrzehntelangen Engagement. Doch Henning hatte noch Pläne für die Zukunft: eine ‹offene Akademie für Kindheitswissenschaft› gründen, grenz- und institutionsübergreifend. Ein ‹Wanderstudium› sollte es sein, in dem sich engagierte Pädagogen und Pädagoginnen geistig verbinden: ein Kreis von Menschen, die ein Herz für die aktuellen Kindernöte und das soziale Miteinander haben. Er wollte den ‹Kairos› abwarten, um es mit andern zusammen anzugehen.
Es kam anders: eine lange schwere Erkrankung und Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen. Das hieß für ihn Absage aller geplanten Vortragsreisen, seine Praxis musste (vorübergehend) schließen, seine Gesundheit machte ihm zu schaffen als Risikopatient. «Das kann einem schon die gute Laune verderben», schrieb er mir letztes Jahr. Es war ein existenzieller Kampf für ihn, nicht nur gesundheitlich. Er fragte sich, ob es genug Gesinnungsgenossen für diesen existenziellen Einsatz für mehr Menschlichkeit in einer kalten Welt gibt und was sich gemeinsam erreichen lässt.
Henning war eine Kämpfernatur, sehr bedacht hatte er damals seine förderpädagogische Einrichtung Janusz-Korczak-Institut genannt. Janusz Korczak, der Arzt, der seine schutzbefohlenen Kinder freiwillig bis ins KZ begleitete und mit ihnen dann sein Leben ließ. So wollte auch Henning Kinder nicht im Stich lassen, wenn sie ausgegrenzt werden, ob Flüchtlingskinder oder Kinder, die aus unserem System herausfielen. Immer ein Anwalt für die Kinder sein, das war sein Motiv.
Auch stellte er die Klimafrage in einen größeren Kontext. Die Erderwärmung gehe mit einer «sozialen Eiszeit» einher: «Vielleicht kommt es letztlich vor allem drauf an, dass möglichst viele Menschen etwas gegen den ‹Klimasturz im Beziehungsraum› unternehmen. Wir brauchen Orte der sozialen Wärme.»2
Zu seinem Hauptanliegen gehörte auch, die Eltern zu ermutigen und sie geradezu als Therapeutinnen und Helfer für ihre Kinder zu gewinnen. Sein Kerngedanke der Therapie für ein ‹schwieriges Kind› resp. für ein Kind in schwieriger Umgebung war «die Bildung eines schützenden Kreises». Ein schützender menschlicher Kreis für das Kind sei letztlich auch die einzige Alternative anstelle des Ritalins. Und dabei keine Anstrengung scheuen, solche fürbittenden Kinderkonferenzen zu bilden unter Beteiligung aller Menschen, welche das Kind auf seinem Entwicklungsweg begleiten. Dies meinte er nicht in einem engen konfessionellen oder sentimentalen Sinn, sondern als sozialtechnisches Vorgehen in der Gemeinschaftsbildung zugunsten des hilfebedürftigen Kindes.
Und hier schließt sich der Kreis: Es stimmt: «Wir brauchen Orte der sozialen Wärme», für Kinder, für Eltern, für Lehrpersonen, für alle! Und dazu ein Wanderstudium einer offenen Akademie, in dem wir untereinander in einem geistigen Austausch stehen. So, dass das innere Feuer weiter genährt werde. Ja, bei diesem Zukunftsplan von Henning Köhler sind wir dabei, über alle Grenzen und Schranken hinweg, das ist jetzt an der Zeit!
Thomas Stöckli
Bild: Henning Köhler, Foto: Dietmar Derrez
vgl. https://fiu-verlag.com/kategorie/fiu-verlag/autoren/henning-koehler/