Am 31. Dezember 2022 nahm Ezra Sullivan an der Nachtwache des Goetheanum teil. Es war der 100. Jahrestag des Brandes des Ersten Goetheanum. Ezra wurde zum rituellen Begleiter des Geistes dieser Nacht.
Das Erste Goetheanum war ein Juwel aus der geistigen Welt, damit Menschen erleben, was menschliche Kultur sein kann, wenn wir uns entscheiden, nach unserer Menschlichkeit zu streben. Die Goetheanumleitung beschloss, eine Nachtwache zu halten, in der während der ganzen Nacht – bis in den Morgen hinein – kostenlose Veranstaltungen geplant waren. Ich meldete mich als freiwilliger Helfer und erhielt freien Eintritt zur Weihnachtskonferenz, die in den Tagen zuvor stattfand. Meine Aufgabe war es, den Bauern und Gärtnerinnen des Goetheanum-Gartenparks bei der Betreuung verschiedener Feuerstellen zu helfen, die rund um das Goetheanum angeordnet waren.
Die Nacht begann etwas gespenstisch mit allgegenwärtigem Knallen und Blitzen des festlichen Feuerwerks. Das machte mich nervös. Es fühlte sich wie in einem Kriegsgebiet an. Als aber die Menschen den Raum füllten, wurde das Feuerwerk zum Hintergrundgeräusch. Dann hüllten die Feuer die Atmosphäre rund um das Gebäude in Rauch. Einer älteren Mitarbeiterin stockte das Herz, als sie den Rauch zum ersten Mal sah. Denn es sah auf den ersten Blick wie der rote Rauch aus, der angeblich durch das Schmelzen der Glasfenster des Ersten Goetheanum entstanden war. Angesichts der Umstände erwartete ich ein gediegenes Ereignis. Ich stellte mir die Gesellschaft vor 100 Jahren vor, die die Tragödie der Nacht damit verbrachte, den Rauch am und im Gebäude zu beobachten. Dann kam Feuer aus der Kuppel, deren Säulen noch standen, bis die Jupitersäule als letzte fiel.
Die Nachtwache war alles andere als gediegen. Sie war festlich und fröhlich! Wir waren glücklich, zusammen zu sein, vereint in der Anthroposophie. Wir genossen Vorträge, Eurythmie, Musik, Ausstellungen, Essen und Gespräche. Wir standen um das Feuer herum, lernten neue Freunde kennen und beobachteten die Sterne in dieser klaren, warmen Winternacht. Obwohl ein Gedenken an das Erste Goetheanum, wurde diese Nacht auch zu einer Feier des Zweiten Goetheanum. Es war von allen Seiten beleuchtet, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Und ich sage euch, es war so schön. Meine Wertschätzung für dieses Gebäude vertiefte sich sehr. Alle waren dankbar, dieses Gebäude zu haben. Ich spüre auch Verehrung jenen Gründungsanthroposophinnen und -anthroposophen gegenüber, die es nach einer solchen Verwüstung wieder aufgebaut haben. Ihre Taten und ihre innere Arbeit schufen eine Kraft, die in dieser Nacht wirklich spürbar war. Und es erwärmte unsere Herzen, brachte Tränen in so manches Auge, den Großen Saal bei der mitternächtlichen Eurythmie-Aufführung so voller Menschen zu sehen. Es gab nur Stehplätze, und es wurden Leute an der Tür abgewiesen. Besonders nach der Pandemie und dem fast vollständigen Verlust an gemeinschaftlichen Begegnungen waren die in der Halle versammelten Menschen ein Licht, das in unendlicher Tiefe strahlte.
Ich war der Letzte, der sich um die Feuer kümmerte, als die Morgensonne über dem Hügel aufging. Ich schlief die ganze Nacht nicht, kein Kaffee als Treibstoff, sondern nur das Interesse an der Nachtwache, um mein Feuer am Leben zu erhalten. Am nächsten Abend kam ich zurück, um mir das Goetheanum noch einmal anzusehen. Die Feuerstelle war noch da. Ich starrte in die Asche und stellte mir die unermessliche Menge an Asche vor, die durch den Brand des Ersten Goetheanum entstanden sein musste. Ich schnappte mir eine Handvoll Asche dieses zeremoniellen Feuers. Ich habe sie dort verstreut, wo Rudolf Steiners Asche und viele andere frühe Anthroposophen und Anthroposophinnen begraben wurden. Als ich den Aschekreis um die Grabstätte beendete, fühlte ich ein starkes ätherisches Pulsieren. Ich kniete auf die Erde und fühlte Dankbarkeit, ein zeremonieller Betreuer dieses heiligen Raumes zu sein. Die Kraft, die Rudolf Steiner brachte, ist hier und arbeitet, atmet, träumt und fühlt.
Dann ging ich zurück zur Feuerstelle. Als ich wieder in die Asche griff, griff ich in die Asche des Ersten Goetheanum: Substanz, die auf der relevantesten Ebene der Existenz transformiert wird. Ich nahm zwei Handvoll und breitete sie in einem Kreis um das Goetheanum aus.
Eine Hülle. Ein Anfang. Mit solcher Liebe in dieser Welt zu sein. Einem Opfer zu dienen, das so total ist. Ich werde in diesem Licht stehen. Ich werde in diesen Tiefen denken. Ich liebe die Reinigung dieses Feuers.
Titelbild Goetheanum, Neujahrsnacht 2022/2023 Foto: Xue Li