Armut in Europa auf Rekordniveau

Die Prekarität der empfindlichsten Bevölkerungsgruppen in Europa hat 2022 ein Rekordniveau erreicht. Ist es nicht an der Zeit, umzudenken?


Die Zahl der Menschen, die in Großbritannien auf der Straße schlafen, stieg im Jahr 2022 um 26 Prozent, wobei London, eine der reichsten Städte der Welt, einen Anstieg von 34 Prozent verzeichnete. Homeless Link, eine NGO, die Obdachlosen hilft, bezeichnete diesen starken Anstieg als «schockierend». In Frankreich berichtet die große Organisation Restaurants du Cœur, die Mahlzeiten und Kleidung verteilt, dass die Zahl der Empfänger in den ersten drei Monaten der Winterkampagne 2022/23 um 22 Prozent gestiegen ist. Die Mehrheit der Empfänger ist unter 25 Jahre alt und ein Viertel sind Alleinerziehende, hauptsächlich alleinstehende Frauen mit Kindern. In Deutschland unterstützte die Tafel, als Dachorganisation der Lebensmittelbanken, im Jahr 2022 50 Prozent mehr Menschen. Ein Rekord, so der Vorsitzende der Organisation.

Es gäbe keinen besseren Weg, sich unsichtbar zu machen, als arm zu werden, sagte die Philosophin Simone Weil. Um sich der Realität der sozialen Not bewusst zu werden, bedarf es tatsächlich einer Anstrengung der Aufmerksamkeit und des Einfühlungsvermögens. Armut macht viele unserer Mitmenschen nicht nur unsichtbar, sondern stürzt sie auch in soziale Machtlosigkeit und Ausgrenzung.

Diese untragbare Situation ist kein Zufall. Sie ist das Ergebnis gesellschaftlicher Gestaltung und politischer Prioritäten. Auch wenn Maßnahmen zur Unterstützung der Schwächsten angekündigt werden, heilen diese ‹Pflaster› die soziale Krankheit nicht an der Wurzel. Eigentlich sollten diese Zahlen mit Ausrufezeichen auf allen Titelseiten der Zeitungen erscheinen und einen grundlegenden Wandel im politischen Bewusstsein bewirken. Wie Oscar Wilde schrieb: «Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken. […] Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht.» (‹Der Sozialismus und die Seele des Menschen›, Wikisource)


Quellen La Croix, Le Figaro, Sud-Ouest

Foto AR

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